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01. Juli 2010

Soll die NATO ins Heilige Land?

Eine Machbarkeitsstudie

Diverse Szenarien sind schon für einen NATO-Einsatz in Israel und Palästina entworfen worden. Doch wenn alle Faktoren berücksichtigt werden, kann man nur zu der Erkenntnis gelangen, dass eine solche Mission zum Scheitern verurteilt wäre. Mehr noch: Beim aktuellen Stand der Dinge wäre eine solche Entscheidung schlichtweg unverantwortlich.

Die Idee, der NATO eine Rolle im Nahost-Konflikt zuzuteilen, wurde immer wieder aufgebracht: Der ehemalige US-Präsident Bill Clinton schlug im Jahr 2000 die Entsendung einer internationalen Schutztruppe im Anschluss an ein Friedensabkommen vor, was einige als ideale Rolle für die NATO verstanden. 2008 griff General James Jones, Präsident Obamas Nationaler Sicherheitsberater, die Idee erneut auf, und auch der Bericht der Albright-Gruppe vom Mai 2010 nimmt positiv dazu Stellung.

Im Januar 2009 nannte der damalige NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer drei Vorbedingungen für eine NATO-Rolle im Nahen Osten: ein umfassendes Friedensabkommen; die Zustimmung aller beteiligten Parteien und ein Mandat der Vereinten Nationen – nicht zu vergessen der unabdingbare Konsens innerhalb der NATO.1 Die Erfüllung dieser Bedingungen ist derzeit nicht besonders wahrscheinlich.

Dennoch lohnt sich die genaue Analyse einer solchen Mission. Sie geht davon aus, dass die Grundlage für ein israelisch-palästinensisches Abkommen (inklusive Zweistaatenlösung) das Oslo-Abkommen sowie die Road Map sind. Die Bereiche Golan-Höhen oder Südlibanon blieben unbeachtet. Neben den von Jaap de Hoop Scheffer genannten Bedingungen bestünden folgende Voraussetzungen: Israel zieht nach Gaza vollständig aus dem Westjordanland ab; die israelischen Siedlungen in ihrer heutigen Form bleiben (vorerst) erhalten, werden aber nicht zusätzlich erweitert; es besteht eine geeinte palästinensische Regierung und die Grenzen zwischen den beiden Staaten sind offen für den Personenverkehr. Eine solche NATO-Mission hätte zwei grundsätzliche Ziele: die Gewährleistung des Friedensabkommens sowie Hilfeleistung beim Aufbau eines stabilen palästinensischen Staates, der für seine eigene Sicherheit sorgen kann.

Kleine oder große Lösung

Für die territoriale Dimension des Einsatzes gibt es eine „große“ und eine „kleine“ Lösung. Die kleine Lösung würde die Gebiete Gaza und Westjordanland umfassen sowie möglicherweise Ost-Jerusalem. In der großen Variante käme das Territorium Israels hinzu. Sie würde erheblich mehr Truppen erfordern, aber ein dichteres Sicherheitsnetzwerk ermöglichen, das potenzielle Zusammenstöße zwischen israelischen Sicherheitskräften und Palästinensern (oder arabischen Israelis) effektiver verhindern könnte. Diese Variante ist zwar relativ unwahrscheinlich, da Israel ihr kaum zustimmen würde. Hier werden dennoch beide Optionen diskutiert.

Auch in der sozial-politischen Dimension bestehen zwei Optionen: ein Best-Case-Szenario, in dem die Bevölkerung die NATO-Truppen eher unterstützt und ein Worst-Case-Szenario einer feindlich gesonnenen Umgebung. Beide Szenarien weisen ein unterschiedliches Niveau von Gewalt palästinensischer Milizen auf. Findet die Mission in einer vorwiegend freundlich gesonnenen Umgebung statt, dürften sich die Probleme in Grenzen halten. Das Worst-Case-Szenario ist realistischer, wird aber oft nicht diskutiert, weil man stets davon ausgeht, dass ein vorangegangenes Friedensabkommen für ausreichend Stabilität sorgt. Dabei hat die Vergangenheit gezeigt, dass Abkommen scheitern können, wenn es zu schwer vorhersehbaren politischen Stimmungswechseln kommt. Die Entgleisung des Friedensprozesses könnte jederzeit zu einem dezidiert feindlichen, undurchlässigen Umfeld führen, in dem die NATO nicht nur selbst Zielscheibe von Angriffen werden könnte, sondern bei Zusammenstößen zwischen Palästinensern und Israelis möglicherweise auch aktiv eingreifen müsste. Ein massives Vorgehen gegen die Bevölkerung könnte dabei die Akzeptanz der Mission im Feld stark beschädigen.

Eine realistisch geplante NATO Mission muss auf beide Szenarien vorbereitet sein falls sie nicht von Vornherein zum Scheitern verurteilt sein soll.

Die To-Do-Liste

Je nach territorialem Zuschnitt der Mission sowie der Einstellung der lokalen Bevölkerung wären die Aufgaben der NATO-Truppen unterschiedlich umfassend. In einem freundlichen Umfeld und einem geografisch auf Gaza und Westjordanland limitierten Szenario würde die Mission den Abzug der israelischen Truppen überwachen, die Grenzen des neuen Staates Palästina patrouillieren sowie als Gendarmerie agieren, Aufständen vorbeugen, den palästinensischen Sicherheitskräften assistieren und die Sicherheit der israelischen Siedler im Westjordanland gewährleisten. Die NATO würde Recht und Ordnung schaffen und gewährleisten, den freien Personenverkehr sichern sowie möglicherweise paramilitärische Einheiten demobilisieren. Die Assistenz an Grenzposten sowie die Sicherung von Checkpoints, Häfen und des geplanten Korridors zwischen Gaza und dem Westjordanland könnten noch dazukommen. Sofern einmal entschieden, könnte sie auch den Abbau der israelischen Siedlungen überwachen. Die „kleine“ Lösung enthält mithin Elemente, mit denen die NATO bereits vertraut ist.

Anders liegen die Dinge in einem feindlich gesinnten Umfeld, in dem zahlreiche Aufgaben wie Aufstandsniederschlagung, Terrorismusbekämpfung und die Eindämmung von Unruhen hinzukommen könnten.

Die NATO sammelte zwar durch die Missionen im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina Erfahrungen in Post-Konflikt-Situationen – aber nicht für Situationen, in denen es zu einem Wiederaufflammen der Gewalt zwischen den Konfliktparteien kommt. Die Trennung von Kämpfern, Israelis und Palästinensern oder auch Palästinensern untereinander, ist eine Aufgabe, die die Allianz noch nie bewältigen musste. Dies ist ein Worst-Case-Szenario. Dass die NATO zwischen zwei Konfliktparteien geraten könnte, muss aber in Betracht gezogen werden und wäre ein Aspekt, der definitiv gegen eine NATO-Rolle in diesem Rahmen sprechen würde.

In einer „großen“ Lösung, die israelisches Territorium einschließt, müssten in einem freundlich gesinnten Umfeld sowohl gemeinsame Patrouillen mit israelischen Truppen zur Aufgabenliste hinzugefügt werden (um sichtbare Sicherheit zu schaffen), als auch die möglicherweise gemeinsame Sicherung von israelischen Siedlern im Westjordanland.

Und im schlimmsten Fall?

Die Situation könnte sich jedoch auch zuspitzen, denn ein Friedensvertrag bedeutet nicht zwingend ein Ende der Gewalt. Die Verträge von Oslo haben gezeigt, dass keine uneingeschränkte Zustimmung der israelischen und palästinensischen Bevölkerung zu erwarten ist. Angriffe auf Israelis während der Verhandlungen trugen zu einem massiven Stimmungsumschwung in der israelischen Bevölkerung bei. Derzeit sprechen sich 23,8 Prozent der Israelis und 41,1 Prozent der Palästinenser dezidiert gegen eine Zweistaatenlösung aus.2 Über 140 Selbstmordattentate, die zwischen 2000 und 2007 in Israel verübt wurden, verlangsamten den Friedensprozess nachhaltig. Dabei ist wichtig zu bemerken, dass diese Attentate sowohl von Palästinensern aus den besetzten Gebieten als auch von israelischen Staatsbürgern arabischer Herkunft verübt wurden. Eine komplette Schließung der Grenze kann demnach nicht als Sicherheitsgarantie gegen Attentate verstanden werden.

Um die palästinensische Wirtschaft anzukurbeln, müsste auch die Anzahl palästinensischer Arbeiter in Israel erhöht werden, die derzeit nur noch bei etwa 10 000 liegt. Offene Grenzen in Kombination mit einer eher negativen politischen Stimmung oder bei einer Stimmungsverschlechterung würden die Sicherheitslage sowohl in Israel als auch den palästinensischen Gebieten betreffen. Die Verhinderung von Selbstmordattentaten müsste eine der wichtigsten Prioritäten für die NATO sein. Diese wäre im Rahmen einer „großen“ Lösung einfacher zu gewährleisten und würde der NATO außerdem die Gelegenheit geben, als unparteiischer Dritter wahrgenommen zu werden.

Anfänglich müsste die NATO zudem die Grenzen des neuen Staates Palästina sichern. (Im Westjordanland etwa 307 km gemeinsame Grenzen mit Israel und 97 km mit Jordanien) sowie 63 km für Gaza (11 km mit Ägypten, 52 km mit Israel). Dabei ist ein Verbindungskorridor zwischen der Westbank und Gaza noch nicht berücksichtigt. Abhängig von seinem Verlauf wäre er zwischen 30 und 50 km lang. Dieser Korridor könnte, je nach Szenario, ein Tunnel, eine Brücke oder eine abgeschlossene Straße sein – jede dieser Optionen würde eine hohe Sicherheitssensibilität mit sich bringen. Die Nabelschnur zwischen den beiden Teilen des palästinensischen Territoriums wäre leicht zu durchtrennen.

Das soziogeografische Gefüge im Einsatzgebiet würde die Mission der NATO zusätzlich komplizieren. Sie müsste zwei, möglicherweise drei sehr unterschiedliche Gebiete abdecken: Gaza und das Westjordanland in einem kleinen sowie zusätzlich Israel in einem großen Szenario. Wenngleich die drei Gebiete die hohe Bevölkerungsdichte und urbane Strukturen gemein haben, so unterscheiden sie sich doch so fundamental, dass jeweils sehr unterschiedliche Planung erforderlich wäre. Der freie Personenverkehr, die stark arabisch-jüdisch durchmischte Bevölkerung (auch in Israel selbst) sowie die Präsenz von Flüchtlingslagern in beträchtlicher Größe erhöhen die Komplexität zusätzlich.

Im Gaza-Streifen leben etwa 1,4 Millionen Palästinenser, rund ein Drittel davon in Flüchtlingslagern. Die Bevölkerungsdichte ist eine der höchsten weltweit. Im Westjordanland leben 2,4 Millionen Palästinenser, davon etwa 190 000 in Lagern mit bis zu 23 600 Einwohnern. Über das Westjordanland verstreut leben rund 300 000 israelische Siedler in 150 Siedlungen. Sie waren Ziel palästinensischer Attacken, griffen aber auch oft selbst Palästinenser an. Da sowohl die israelische als auch die palästinensische Öffentlichkeit das Friedensabkommen unterstützen sollen, müssen Angriffe auf beiden Seiten unterbunden werden. Im Kernland Israel wiederum sind 20 Prozent der Bevölkerung Bürger arabischer Herkunft. Nur Gaza weist eine homogene, palästinensische Bevölkerung auf. Hier liegen andere schwerwiegende Sicherheitsaspekte vor.

Die acht Flüchtlingslager in Gaza sind ein besonderes Sicherheitsrisiko. In den Lagern ist die Arbeitslosenquote am höchsten, sie gelten als Brutstätten der Gewalt und Kriminalität und sie sind bestens für Waffenverstecke und die Rekrutierung bewaffneter Gruppen geeignet, die in den engen Gassen und dichten sozialen Vernetzungen ein ideales Rückzugsgebiet finden. Eine Unterscheidung zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern wird dadurch enorm erschwert. Eine Truppe ohne Ortskenntnisse wird Schwierigkeiten haben, das Gebiet zu kontrollieren sowie, falls nötig, einen Aufstand einzudämmen oder Terroristen zu fassen.

Lichter der Großstadt

Unter militärischen Gesichtspunkten sind Städte ohnehin schwieriges Territorium, nicht nur weil sie unbegrenzte Versteckmöglichkeiten für Waffen und Aufständische bieten.

Auf solchem Territorium ist mit einem höheren Personalbedarf und höheren Verlustzahlen zu rechnen. In Gaza werden diese Bedingungen noch verschärft, weil der Konflikt dort im letzten Jahrzehnt vorwiegend mittels urbaner Guerillamethoden ausgetragen wurde und die potenziellen Gegner ihr Aktionsgebiet weit besser kennen als eventuelle NATO-Truppen, die mit urbanen Guerillakräften ohnehin nur geringe Erfahrung haben. Es ist zudem nicht zu erwarten, dass eine NATO-Truppe das nötige geheimdienstliche Material zur Verfügung hätte, um diesen Nachteil auszugleichen. Die NATO müsste entweder auf israelische Quellen zurückgreifen oder selbst ein Informantennetzwerk erstellen, was sowohl unpraktikabel als auch teuer wäre.

Eine NATO-Truppe könnte keinesfalls nur als passive Wand zwischen zwei ehemaligen Kriegsparteien fungieren. Beide Bevölkerungen sind, mit Ausnahme des Gaza-Streifens, stark durchmischt, eine Tatsache, die sich durch ein Friedensabkommen wohl nicht ändern wird. Im gesamten potenziellen Einsatzgebiet (inklusive Israels) gibt es 19 Städte mit über 100 000 Einwohnern, was bedeutet, dass insgesamt 4,2 Millionen Einwohner der Gegend in Städten und mehr als eine halbe Million in Flüchtlingslagern leben. Hieraus folgt: Ohne Ortskenntnis sind Waffenverstecke schwerlich ausfindig zu machen, und es existiert ein ideales Klima für illegalen Waffenhandel.

Entwaffnungsversuche wären noch schwerer durchzuführen als unter freundlicheren Umständen. Sollte eine dritte Intifada ausbrechen, müsste die NATO urbane Operationen durchführen – ein Bereich, in dem sie gerade erst Erfahrungen sammelt.

Das Einsatzgebiet ist zwar klein, reagiert aber erfahrungsgemäß unmittelbar auf Störungen im Sicherheitsbereich. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass ein allumfassendes Friedensabkommen erreichbar wäre; eher ist mit einer graduellen Friedenslösung zu rechnen. Diese Übergangsphase wäre besonders anfällig für Stimmungsumschwünge und Störungen. Die Erfolgsaussichten für eine solche Mission sind folglich gering. Attentate könnten den Friedensprozess wieder einmal aus dem Lot bringen. Die NATO könnte leicht zur Geisel militanter Gruppen werden, zumal absolute Sicherheit eine un-erfüllbare Aufgabe ist (wenngleich genau dies von beiden Konfliktparteien gefordert wird). Der Handlungsspielraum für Finanzierung, Materialausstattung und Personaldecke wäre demnach ausgesprochen gering. In diesem Szenario wäre ein Fehlschlag einer NATO-Mission im Nahen Osten wesentlich schwerwiegender als ein Misserfolg anderer Missionen.

Weniger ist nicht mehr

Wie groß müsste eine solche Truppe sein? Die wichtigste Variable zur Errechnung einer angemessenen Truppenstärke ist weder die Größe des Territoriums noch die Zahl der potenziellen Gegner, sondern die Bevölkerung vor Ort. In der Vergangenheit rechneten erfolgreiche Stabilisierungstruppen als Minimum 1000 Soldaten und 150 internationale Polizisten pro 100 000 Einwohner; andere Studien legen sogar 2000 Mann pro 100 000 Einwohner nahe.

Für eine „kleine“ Lösung würden unabhängig von palästinensischen Sicherheitsstrukturen zwischen 43 700 und 76 000 Mann, inklusive Polizei oder Gendarmerie, benötigt. Davon würden zwischen 16 000 und 28 000 Gaza patrouillieren, und zwischen 27 600 und 48 000 das Westjordanland. In einer „großen“ Lösung würden zusätzlich Truppen benötigt, um gemeinsam mit israelischen Sicherheitskräften zu patrouillieren. Insgesamt würden in dieser maximalen Version zwischen 50 000 und 80 000 Mann gebraucht. Natürlich reicht eine angemessene Truppenstärke nicht aus, um die gewünschte Sicherheitsgarantie leisten zu können. Es ist jedoch klar, dass Personalmangel den Erfolg einer solchen Mission dezidiert gefährden kann. Ausgeprägte Multinationalität der Truppe könnte zudem Unparteilichkeit signalisieren und die Akzeptanz der Mission stärken.

Angesichts anderer Engagements der Alliierten stellt sich jedoch nicht nur die Frage nach der Bereitschaft, Truppen für eine solche Mission zur Verfügung zu stellen, sondern auch nach deren Verfügbarkeit. Ein Großteil der Alliierten ist in mehrere Operationen im Irak, Kosovo, Libanon und in Afghanistan involviert. Schon jetzt gibt es Kritik an den immer kürzer werdenden Abständen zwischen den Einsätzen – nicht nur aufgrund der Personalbelastung, sondern auch aus haushalterischen Gründen. Um eine angemessene Truppenstärke für einen Einsatz in Nahost zu erreichen, müssten vermutlich die Kontingente in anderen Einsätzen reduziert bzw. Stehzeiten für eingesetzte Kontingente verlängert werden.

Eine andere zu beachtende Größe bei der Berechnung dieser Zahlen sind lokale Sicherheitskräfte. Die palästinensischen Sicherheitskräfte würden vermutlich zusätzliche Zeit und Training benötigen, bevor sie volle Sicherheitsverantwortung in einem unabhängigen Palästina übernehmen können. Die aktuelle Zahl der palästinensischen Sicherheitskräfte beträgt etwa 25 000 Mann. Davon sollen 10 000 Polizeiaufgaben sowie 15 000 paramilitärische Aufgaben wahrnehmen (Milizen wie die Hamas oder die Al-Aqsa-Brigaden sind hier nicht mitgerechnet). Im Oslo-II-Abkommen wurde die Zahl von 30 000 Sicherheitskräften vereinbart, was über dem internationalen Polizeistandard von 200 Mann für 100 000 Einwohner liegt.

Die hohe Zahl täuscht über die Qualität dieser Kräfte hinweg, wurden sie doch in der Vergangenheit der Korruption, Menschenrechtsverletzungen und politischer Parteinahme bezichtigt. 1600 dieser Männer sind in der jüngsten Vergangenheit von den USA, Großbritannien und Kanada ausgebildet worden, doch offenbar nur mit mäßigem Erfolg. Zusätzliches Training wäre nach der Gründung eines palästinensischen Staates notwendig.

Ein funktionsfähiger, zuverlässiger palästinensischer Sicherheitsapparat ist ein wichtiges Element nicht nur in der langfristigen Stabilisierung des jungen Staates, sondern auch in der Exitstrategie der NATO. Je eher Palästina für seine Sicherheit sorgen kann, desto eher können die Truppen abgezogen werden. Die Fähigkeit der palästinensischen Sicherheitskräfte sollte dabei nicht nur in Zahlen, sondern auch in Qualität gemessen werden.

Wer, wie, was?

Stabilisierungseinsätze sind meist Infanteriemissionen. Für Aufgaben wie urbane Kriegsführung und Aufstandsniederschlagung sind ebenfalls vorrangig Infanteriefähigkeiten erforderlich. Zusätzlich würde Gendarmerie benötigt, da diese als „Hybrid“ zwischen Militär und Polizei wesentlich besser für die Schaffung und Wahrung innerer Sicherheit vorbereitet ist. In einem jungen palästinensischen Staat wäre innere Sicherheit von ebenso großer Bedeutung wie Sicherheit vor äußeren Bedrohungen. Die Aufgaben als Exekutive effizient wahrzunehmen, könnte bedeutend zu einer Stabilisierung der staatlichen Strukturen und zu einer Ankurbelung der Wirtschaft beitragen. Dafür müssten jedoch rund 57 000 der 76 000 NATO-Truppen eigentlich Gendarmeriekräfte sein, sofern das empfohlene Verhältnis von 150 auf 100 000 Einwohner erreicht werden soll. Allerdings verfügen nur neun NATO-Staaten über Gendarmerien (Kanada, Italien, Frankreich, Bulgarien, Portugal, Niederlande, Rumänien, Türkei und Spanien) und nur wenige können auf Erfahrungen in einem Post-Konflikt-Szenario zurückgreifen. Es erscheint daher zweifelhaft, ob die NATO die erforderlichen Truppen in so hoher Zahl aufbieten könnte.

Zeit ist Geld

Die Dauer einer NATO-Mission in Israel und Palästina würde, bedingt durch die statistisch hohe Konfliktrückfallquote, mindestens fünf Jahre betragen. Zusätzlich zu den Kosten der Mission selbst sind Aufwendungen für die Ausbildung der palästinensischen Polizei, den Aufbau von Infrastruktur und Ausstattung einzuplanen. Vernachlässigt man die Kosten für Infrastrukturmaßnahmen, so ergeben sich jährliche Aufwendungen zwischen 9,61 Milliarden und 16,72 Milliarden Dollar, welche sich im Falle der empfohlenen fünf Jahre auf Gesamtkosten zwischen 48,05 Milliarden und 83,6 Milliarden Dollar summieren würden.3

Bei Berücksichtigung aller aufgeführten Faktoren wird ersichtlich, dass eine NATO-Mission im Heiligen Land wenig Aussicht auf Erfolg hätte und ein Scheitern wesentlich realistischer wäre. Wenngleich die Gelegenheit für die NATO selbst günstig erscheint, sich als globaler Sicherheitsdienstleister zu profilieren, so sollte doch nicht außer Acht gelassen werden, dass mit einem Einsatz erhebliche Risiken für die Glaubwürdigkeit und das Prestige verbunden sind – von den Kosten und den potenziellen Opfern ganz zu schweigen. Beim aktuellen Stand der Dinge und neben anderen laufenden Operationen erscheint es unverantwortlich, die NATO in eine solche Mission zu führen.

Dr. FLORENCE GAUB ist Dozentin in der Nahost-Abteilung des NATO Defense College in Rom.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2010, S. 90 - 97

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