IP

01. Sep 2017

Sichere Wege statt tödliches Meer

Eine prinzipientreue europäische Asylpolitik ist möglich und mehrheitsfähig

In der Flüchtlingspolitik steht die EU vor einem Dilemma: Sie muss eine Strategie finden, die gleichzeitig moralisch und rechtlich vertretbar ist, die Zahl der Ankommenden reduziert, das Sterben im Mittelmeer beendet und den Wählern vermittelbar ist. Wie diese Strategie aussehen müsste, verrät der Architekt des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei.

Für viele der großen Menschenrechtsorganisationen scheint nur die erste dieser beiden Fragen von Bedeutung. Ja, versichern sie, eine humane europäische Asylpolitik ist möglich. Dafür müssten europäische Politiker einfach die Vorschläge umsetzen, die sich seit vielen Jahren in den Positionspapieren von Amnesty International, Human Rights Watch oder Ärzte ohne Grenzen finden. Der wichtigste betrifft die Öffnung „sicherer und legaler Wege“ für Asylsuchende in die Europäische Union. Auf diese Weise würde die EU das Geschäftsmodell von Schleppern mit einem Mal zerstören. Das Sterben im Mittelmeer würde aufhören, Tausende Leben würden gerettet, und die EU würde ihrer humanitären Verantwortung gerecht.

Das strategische Ziel europäischer Politik müsse es sein, jedem, der irgendwo in der Welt einen Asylantrag in der EU stellen möchte, die legale Einreise zu ermöglichen. Dafür sollten konsularische Vertretungen der EU-Mitgliedstaaten großzügig humanitäre Visa erteilen. Am besten wäre es, wenn die EU die Visapflicht für Menschen aus Ländern aufhöbe, in denen Zustände herrschen, die eine Flucht rechtfertigen. Zugleich sollte sie es Fluglinien erlauben, jeden in die EU einreisen zu lassen. So empfahl der renommierte Brüsseler Thinktank Centre for European Policy Studies in einer Veröffentlichung vom September 2015: „Eine durchführbare und ethische Möglichkeit, das Schleppertum zu bekämpfen und zu verhindern, dass sich Menschen auf gefährliche, oft tödliche Fluchtwege begeben, wäre Folgendes: eine Lockerung oder Auf­hebung der Visabestimmungen und/oder der Strafen für Fluglinien, zumindest für Menschen, die aufgrund der Umstände in ihren Heimatländern am dringendsten eine Zuflucht benötigen.“1 Weiterhin sollte die EU mehr Rettungsschiffe zur Verfügung stellen und diese näher an der libyschen Küste stationieren, um Flüchtende, die sich in Schlauchbooten auf den Weg in Richtung EU machen, sicher nach Italien bringen zu können. Als Bedingung für materielle Unterstützung sollte es der libyschen Küstenwache verboten werden, so forderte Amnesty International erst unlängst in einem Bericht, Flüchtende in ihren eigenen Hoheitsgewässern aufzuhalten und sie nach Libyen zurückzubringen. Erwiesenermaßen seien die Zustände dort unzumutbar.

Das Problem mit Vorschlägen dieser Art liegt auf der Hand: In dieser Form läuft das Versprechen auf sichere Wege auf nichts anderes als offene Grenzen für alle hinaus. Jegliche Begrenzung legaler Routen würde hingegen wieder Anreize für illegale Einreise schaffen. Was noch schwerer wiegt: Es gibt in der Europäischen Union nicht eine Regierung unter den (noch) 28, die bereit wäre, auf diese Art „sichere und legale Wege“ zu ermöglichen. Ohne Aussicht auf politische Umsetzung jedoch bedeuten Vorschläge dieser Art de facto das Fortschreiben des Status quo an den Außengrenzen der EU. Damit aber verabschieden sich Menschenrechtsorganisationen von der wirklichen Diskussion darüber, wie Demokratien ihre Asylpolitik verändern könnten.

Kann es einen besseren Weg geben? Die EU braucht heute tatsächlich eine Strategie, die die moralischen und rechtlichen Bedenken von Menschenrechtsorganisationen aufgreift, die Flüchtlingskonvention schützt und gleichzeitig hilft, die Zahl von Ankommenden – und die Anzahl jener, die im Mittelmeer ertrinken – zu reduzieren. Ein solcher Vorschlag muss jedoch fest in der Realität des Europas von 2017 verankert sein. Nur dann hat er eine Chance, mehrheits­fähig zu werden.

Die Herausforderung im Mittelmeer

Beginnen wir mit der konkreten Herausforderung, den Zahlen der Ankommenden über das Mittelmeer. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2017 sind insgesamt knapp 84 000 Menschen in Libyen in seeuntüchtige Boote gestiegen, wurden aus Seenot gerettet und nach Italien gebracht. Das waren mehr Menschen als in der ersten Hälfte der Jahre 2014 (64 000), 2015 (70 000) und 2016 (70 000).

Ob ein Rückgang der Ankommenden im Hochsommer 2017 („nur“ 11 461 im Juli) bereits eine Trendwende ist, wie die italienische Regierung hofft, ist derzeit noch unklar – ebenso wie die Ursachen für den überraschenden Rückgang. Derzeit setzt die italienische Regierung fast ausschließlich auf die libysche Küstenwache als Partner, in der Hoffnung, dass diese die Boote der Flüchtlinge und Migranten daran hindert, internationale Gewässer zu erreichen (­siehe dazu auch das Interview mit dem früheren italienischen Regierungschef Romano Prodi auf Seite 18 ff.). Für viele Monate war das eine Strategie mit beschränktem Erfolg. Seit Anfang 2014 kamen mehr als 600 000 Menschen nach Italien. Mindestens 12 780 Menschen ertranken in dieser Zeit im zen­tralen Mittelmeer.

In Spanien kamen während der ersten sechs Monate dieses Jahres 9507 Menschen über das Meer aus Nordafrika – Tendenz steigend. An einem einzigen Tag im August waren es 600. Die Regierung in Madrid setzt auf die Kooperation mit Marokko, in der Hoffnung, dass die marokkanische Küstenwache die Schlepperboote daran hindert, Richtung Europa in See zu stechen. Im westlichen Mittelmeer ertranken bis Ende Juli dieses Jahres mindestens 121 Menschen.

Auf den griechischen Inseln in der Ägäis – dem Epizentrum der Flüchtlingskrise vor zwei Jahren – kamen in der ersten Jahreshälfte 2017 hingegen nur rund 9300 Menschen aus der Türkei an. Das waren weniger als in jedem Vorjahreszeitraum dieses Jahrzehnts. Im Februar 2016 – also einem Wintermonat – waren es noch fast 60 000. Seitdem sind die Zahlen der Ankommenden dort dramatisch gefallen. In der Ägäis setzt die EU weiterhin auf das Abkommen mit der Türkei vom 18. März 2016. Mit der Zahl der Neuankömmlinge sank auch die Zahl derer, die in der Ägäis zu Tode kamen, nämlich auf 45 in den ersten sechs Monaten dieses Jahres (im gesamten Jahr 2016 waren es 434; 806 im Jahr 2015).

Krise abgewendet

2015 kamen innerhalb eines Jahres mehr als 800 000 Menschen alleine über die Ägäis. Insgesamt waren es über eine Million, die 2015 über das Mittelmeer die EU erreichten. Diese Welle erschütterte die Politik in ganz Europa. Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, sprach im Februar 2016 davon, dass er sich angesichts der Situation an das Krisenjahr 1913 erinnert fühle. Der niederländische Regierungschef Mark Rutte gab der EU sogar nur noch „wenige Wochen“, um die Lage in der Ägäis zu wenden.

Überall in Europa erhielten europafeindliche, populistische und extreme ­Parteien Auftrieb. Schweden – das Land, das seit Jahren im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die meisten Asylsuchenden in der Welt aufgenommen hatte – führte erstmals Kontrollen an der Oresundbrücke ein, die es mit Dänemark verbindet. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel schien Gefahr zu laufen, über diese Krise zu stürzen. Die Zahl der Toten – mehr als 300 ertranken im Januar und Februar 2016 in der Ägäis, die Hälfte davon Kinder – blieb bis zum EU-Türkei-Abkommen erschreckend hoch.

Gibt es immer noch eine Krise in der Ägäis? Heute erscheint eine Anzahl von knapp 50 Flüchtenden, die seit einem Jahr im Durchschnitt pro Tag die Inseln Lesbos, Chios oder Samos ansteuern, wenig alarmierend. Menschenrechtsorganisationen verweisen zu Recht auf schlechte Aufnahmebedingungen auf den Inseln und die beschämenden Zustände in so genannten Hotspots der EU wie Moria auf Lesbos und Vial auf Chios – trotz reichlich vorhandener Geldmittel. Bürgermeister fühlen sich mit Tausenden Asylbewerbern alleine gelassen, die derzeit im Durchschnitt vier Monate auf ihren Inseln verbleiben, bevor sie auf das Festland verlegt oder in die Türkei zurückgebracht werden. Bei Treffen von EU-Innenministern wird jedoch kaum mehr über die Situation in der Ägäis gesprochen. Die Lage auf den griechischen Inseln ist nur noch selten eine Schlagzeile wert.

Ein Grund für das gesunkene Interesse an der Fluchtroute Ägäis ist die weiterhin dramatische Krise im zentralen Mittelmeer. Noch nie gab es so viele Rettungseinsätze wie 2016, mit mehr beteiligten Schiffen europäischer Staaten und Nichtregierungsorganisationen. Noch nie gab es trotzdem so viele – mehr als 4500 – Tote vor der libyschen Küste. Das sind Opferzahlen wie in einem Krieg. Diese humanitäre Katastrophe machte das zentrale Mittelmeer zur tödlichsten Grenze der Welt. Italien war von allen EU-Staaten am meisten betroffen; das Land stand und steht an vorderster Front bei der Rettung, Registrierung und Versorgung der Ankommenden. Politisch hat die Flüchtlingsproblematik im Sommer 2017 in Italien fast alle anderen Themen verdrängt. Oppositionspolitiker stellen immer radikalere Forderungen auf. Im kommenden Wahlkampf droht sie die dominante Rolle zu spielen.

Grenzen und Optionen

Was die Lage im zentralen Mittelmeer betrifft, fällt auf, wie beschränkt die Handlungsoptionen europäischer Regierungen sind. Folgende Tatsachen, die keine zukünftige Asyl- und Grenzpolitik ignorieren kann, sind dabei besonders wichtig.

Erstens ist eine klare Korrelation zu erkennen zwischen der Zahl der Menschen, die in Boote steigen, und der Anzahl jener, die ertrinken. Menschenrechtsorganisationen misstrauen diesem Argument und der Motivation jener, die es vorbringen. Doch die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen eindeutig: Wer die hohe Zahl von Ertrinkenden senken will, muss Wege finden, dass weniger Menschen versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Im zentralen Mittelmeer hat der Einsatz von mehr Rettungsbooten als je zuvor 2016 nicht zu weniger Opfern geführt. Es war der dramatische Rückgang von ankommenden Booten in der Ägäis, der es den Rettungsbooten der Nichtregierungsorganisationen erlaubte, nach der EU-Türkei-Einigung ihren Einsatz zu beenden. Die eigentliche Frage ist daher nicht, ob Leben gerettet werden, wenn weniger Boote unterwegs sind. Sondern mit welchen Mitteln und Nebenwirkungen Menschen davon abgehalten werden, in Boote zu steigen. Dazu gleich mehr.

Zweitens fällt es allen europäischen Staaten schwer, selbst jene in ihre Heimatländer zurückzuschicken, die nach Prüfung eines Asylantrags keinen Schutzstatus erhalten. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Asylverfahren dauern in den meisten europäischen Ländern – inklusive Berufungen – sehr lange. Je mehr Zeit aber vergeht, desto schwieriger wird es, Menschen zurückzuschicken. Vor allem aber ist es unmöglich, Menschen in bedeutender Zahl zurückzuschicken, deren Herkunftsstaaten nicht kooperationsbereit sind. In den vergangenen Jahren gelang das keinem europäischen Land.

Drittens suchen die EU und ihre Mitglieder letztlich überall die Zusammenarbeit mit Mittelmeer-Anrainerstaaten wie Marokko, der Türkei oder Libyen, um diese Staaten dafür zu gewinnen, weniger Boote in See stechen zu lassen. Kritiker verurteilen alle diese Versuche als „schmutzige Deals“ oder „Externalisierung“, schlagen aber keine Alternativen vor, wie sonst die Zahl irregulär Ankommender reduziert werden könnte. Damit verlieren sie jeden Einfluss auf die Asylpolitikdebatte in europäischen Parlamenten. Eine ähnliche Entwicklung gab es schon in Australien, wo unterschiedliche Regierungen trotz heftiger Kritik seit vielen Jahren daran festhalten, auf Booten ankommende Flüchtlinge unter zum Teil unmenschlichen Bedingungen viele Jahre auf Inseln im ­Pazifik festzuhalten.

Es stellt sich also die Frage, ob die europäische Politik dazu verurteilt ist, zwischen (kurzen) Phasen tödlicher offener Meeresgrenzen und (fragilen) Phasen zynischer Abkommen mit Transitländern hin und her zu schwanken. Die Erfahrung lehrt: Sind dies die einzigen Alternativen, werden sich gewählte Politiker letztlich immer für die Abschottung entscheiden. Oder gibt es einen besseren Weg, eine Politik, die auf moralischen Prinzipien aufbaut, aber dennoch mehrheitsfähig sein kann?

Der „Rom-Plan“ – eine humanistische Alternative

Um mit dieser Herausforderung umzugehen, müssten Entscheidungsträger in der EU an den folgenden Drehschrauben europäischer Politik ansetzen:

Erstens bei der Rückführung all jener, die irregulär kommen und keinen Schutz brauchen. Die EU kann ihre Meeresgrenzen am besten schützen, wenn Ankommende wissen, dass sie ohne wirkliche Asylgründe keine Chance auf ein Bleiberecht haben (siehe dazu den Beitrag von Sunday Okello auf S. 24 ff.). Keinem EU-Land gelingen bisher jedoch in nennenswertem Umfang Abschiebungen von Wirtschaftsflüchtlingen, die als Asylbewerber abgelehnt wurden. Das Erdöl produzierende Nigeria, Herkunftsland der meisten Flüchtlinge in Italien, hat 2016 nur 165 seiner Bürger zurückgenommen.

Um die Migrationsroute zentrales Mittelmeer kontrollierbar zu machen, braucht die EU vor allem die Kooperation der Herkunftsländer. Die meisten Migranten, die in Italien derzeit ankommen, sind Bürger der ECOWAS-Staaten Westafrikas, also Nigeria, Senegal, Elfenbeinküste oder Gambia. Ihre Asylgesuche werden in Italien und dem übrigen Europa meist abgelehnt, trotzdem bleiben sie in der EU. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen, bräuchte man Abkommen mit den Herkunftsländern. Diesen müsste man dafür etwas anbieten. Im Gegenzug würden die Länder nach einem zu vereinbarenden Stichtag alle ihre Bürger zurücknehmen, die in Europa keinen Flüchtlingsschutz erhalten haben. Das stünde im Einklang mit dem Asylrecht und würde die Nachfrage unter potenziellen Migranten nach Europa deutlich reduzieren. Vorbild könnte das Abkommen zwischen den USA und Kuba sein. In den 1990er Jahren kamen Zehntausende Kubaner mit Booten nach Florida. Als es immer mehr wurden, verhandelten die Amerikaner trotz fehlender diplomatischer Beziehungen mit der kubanischen Regierung. Kuba erklärte sich bereit, alle Bürger zurückzunehmen, im Gegenzug wurde einer begrenzten Zahl von Kubanern geregelter Zugang in die USA angeboten. Es gab ein fixes Kontingent von Visa mit klaren Kriterien, die teilweise durch eine Lotterie vergeben wurden.

Die EU weiß, wie solche Anreize aussehen könnten, denn sie hat sie auf dem Malta-Gipfel mit afrikanischen Staaten im Herbst 2015 definiert. Dort werden Ländern legale Möglichkeiten des Zugangs nach Europa in Aussicht gestellt. Dies können Arbeits-, Studenten- oder Ausbildungsvisa für einige Tausend Menschen pro Jahr sein, die man Nigeria, Senegal oder Gambia anbieten müsste. Auf diese Weise würden bislang vage formulierte, aber von der EU immer wieder vorgetragene Versprechen gegenüber afrikanischen Ländern eingelöst. Ohne Anreize wird es keine Rückführungen geben und das Sterben im Mittelmeer wird weitergehen.

Ein „Marshallplan für Afrika“, wie er auch in Deutschland manchmal vorgeschlagen wird, wird nicht dazu beitragen, dass sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen. Überdies ist die Verquickung von Entwicklungshilfe und Flüchtlingspolitik problematisch: Die einen hoffen, dass aufgrund von Wirtschaftswachstum automatisch weniger Leute kommen; die anderen wollen Entwicklungshilfe als Druckmittel verwenden, um Herkunftsländer zur Rücknahme ihrer Bürger zu bewegen. Beides wird nicht funktionieren. Aus Nigeria machen sich viele Menschen auf den Weg, obwohl dort das Pro-Kopf-Einkommen höher ist als in vielen anderen Ländern Afrikas. Vernünftig wäre hingegen mehr humanitäre Hilfe für Binnenflüchtlinge, die zum Beispiel von der Terrororganisation Boko Haram vertrieben wurden.

Vorbild könnte das EU-Türkei-Abkommen sein, in dessen Rahmen die Europäische Union der Türkei bei der Versorgung und Integration von drei Millionen Syrern hilft. Es muss in Verhandlungen mit Herkunftsländern darum gehen, eine schnell wirksame Einigung zu erreichen. Realismus bedeutet, anzuerkennen, dass die EU rechtliche und moralische Standards befolgen muss, dass es gleichzeitig aber dringend nötig ist, den Anreiz für westafrikanische Migranten zu verringern, Schlepper zu bezahlen. Es geht darum, tatsächlich „sichere und legale Wege“ zu schaffen und gleichzeitig irreguläre Migration einzuschränken.

Zweitens sollte die EU die Beschleunigung von Asylverfahren als gesamt­europäisches Ziel dringend diskutieren, vor allem durch Reformen von Verfahren an den Brennpunkten der EU-Außengrenze. Binnen weniger Wochen sollten in Italien und Griechenland ankommende Asylsuchende nach einem fairen und transparenten Verfahren wissen, woran sie sind. Die Niederländer machen vor, dass es möglich ist, schnelle Asylverfahren mit Qualitätssicherheit und Rechtshilfe zu verbinden.

Drittens braucht die EU eine ernsthafte Debatte, in welchen Fällen ein Land ein sicherer Drittstaat ist. Um etwa jemanden aus Griechenland in die Türkei als sicheren Drittstaat zurückschicken zu können, bräuchte es einen Kontrollmechanismus, der es ermöglichte zu prüfen, was mit den einzelnen Personen passiert, die zurückgeschickt werden. Orientieren sollte sich die EU hier an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der detailliert festgelegt hat, unter welchen Umständen es erlaubt beziehungsweise nicht geboten ist, Menschen im Rahmen des Dublin-Abkommens in andere EU-Staaten zurückzuschicken. Ein solcher Mechanismus müsste auch in der Ägäis so schnell wie möglich geschaffen werden. Damit wären auch klare Standards für die Zukunft festgelegt, unter welchen Umständen die sichere Drittstaatenregelung nicht anwendbar ist.

Viertens bedarf es einer ehrgeizigen Politik der Umsiedlung von Flüchtlingen von außerhalb der EU. Diese ist im EU-Türkei-Abkommen vorgesehen und wird nur zögernd umgesetzt. Eine solche Umsiedlung kann in Zusammenarbeit mit dem UNHCR oder bilateral passieren. Realismus bedeutet hier, dass es größere Umsiedlungen von Flüchtlingen nach Europa wohl nur im Gleichschritt mit der Kontrolle irregulärer Migration geben kann. Darüber sollten auch in Zukunft die Mitgliedstaaten und nicht die EU insgesamt entscheiden; die EU sollte diese Umsiedlungen aus dem gemeinsamen Budget finanzieren.

2013 bewarben sich in der gesamten EU etwa 431 000 Menschen um Asyl; 132 000 wurde es gewährt. Wenn es in naher Zukunft gelingen könnte, 300 000 Menschen im Jahr in der EU Asyl zu gewähren, diese aber überwiegend durch Umsiedlung die EU erreichen, und wenn gleichzeitig die Zahl der irregulär Ankommenden (und Ertrinkenden) dramatisch gesenkt würde, dann würde jeder gewinnen. Wenn die EU durch Abkommen mit Herkunftsstaaten die Zahl der das Mittelmeer überquerenden Asylsuchenden auf unter 100 000 im Jahr senken könnte (wie es vor einigen Jahren der Fall war), dann sind das realistische Ziele.

Prinzipientreue Politik

Die EU braucht eine Grenzpolitik, die mit ihren moralischen und politischen Prinzipien im Einklang steht. Dazu sollten folgende vier Grundsätze zählen: keine Zurückweisung (non-refoulement), also kein Zurückdrängen oder Verbringung an einen Ort außerhalb der EU ohne glaubwürdiges Verfahren; kein „Nauru“, also keine Abschreckung von Asylbewerbern durch schlechte Behandlung von Neuankömmlingen, wie dies auf der Pazifikinsel Nauru geschieht, die Australien seit dem Jahr 2000 für die Bearbeitung von Asylanträgen jener nutzt, die per Boot in Australien ankommen; kein Ertrinken-Lassen, also keine Abschreckung durch die Einschränkung von Rettungsoperationen; und keine Festung Europa.

Das Kernziel muss es sein, das Asyl- und Schutzrecht zu bewahren und dennoch weitestgehende Kontrolle über die Außengrenze im Mittelmeer herzustellen. Flüchtlingshilfe- und Menschenrechtsgruppen müssten sich mit den europäischen Innen- und Justizministern an einen Tisch setzen. Der reichste Kontinent der Welt hat ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Flüchtlingskonvention und des Asylrechts. In den meisten europäischen Demokratien gibt es weiterhin öffentliche Unterstützung für eine Rolle bei der Hilfe für jene, die tatsächlich schutzbedürftig sind. Es ist allerdings ebenfalls ­erforderlich, diejenigen, die keines Schutzes bedürfen, von der Entscheidung abzuhalten, an der nordafrikanischen Mittelmeerküste in seeuntüchtige ­Boote zu steigen.

Die Abschreckung von nicht Schutzbedürftigen ist nicht nur eine Antwort auf die legitimen Erwartungen europäischer Wähler. Sie ist eine lebensrettende Alternative zur Untätigkeit oder zu einer Politik der allgemeinen Zurückweisung. In der europäischen Asyldebatte brauchen wir heute einen moralischen Realismus.

Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Sein Thinktank konzipierte das Flüchtlingsabkommen 2016 zwischen der EU und der Türkei.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 8 - 15

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren