Titelthema

24. Febr. 2025

Seien Sie Europäer!

In Paris hofft man auf eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Beziehungen – und auf eine Bundesregierung, die in der ­Europapolitik mutig, kreativ, kooperativ und großzügig agiert.

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Bild: Luftaufnahme eines französischen AKWs
Spaltpilz Kernkraft: Frankreich gehört zu den 13 EU-Mitgliedern, die (wie hier in Paluel/Normandie) Nuklearenergie produzieren. Muss Berlin seinen Anti-Atom-„Kreuzzug“ beenden?
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Namensnennung CC BY

Liebe künftige Bundesregierung,

herzlichen Glückwunsch zum Wahlsieg. Glückwunsch auch an Friedrich Merz, der in führender Position Teil dieser Regierung sein dürfte; denn er hat angekündigt, für den Fall seiner Wahl zunächst Paris und Warschau zu besuchen.

Der letzte Paris-Besuch des amtierenden Kanzlers Olaf Scholz am 22. Januar dieses Jahres, anlässlich des Jahrestags der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags von 1963, war ein trauriges Schauspiel. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärte angesichts des Treffens, die deutsch-französische Partnerschaft sei „solide“. Das mag stimmen: Alte Paare, die nach 62 Jahren noch unter einem Dach leben, gelten normalerweise als, nun ja, solide. Aber spätestens dann, wenn ein Partner seinen Partner mit „vous“ anspricht, wie Macron es an diesem Tag tat, und der andere Partner mit „du“ antwortet, wie Scholz, dann spürt man, dass mit diesem Paar etwas nicht stimmt.

Als Macron sein Amt 2017 antrat, hatte er ehrgeizige Pläne für Europa, und natürlich sollte eine enge und produktive Beziehung zu Deutschland dabei eine entscheidende Rolle spielen. Was er bekam, war eine verpasste Gelegenheit nach der anderen, angefangen mit Angela Merkels ausbleibender Reaktion auf seine Sorbonne-Rede. Erst mit der Zusammenarbeit zwischen Merkel und Macron für das wegweisende EU-Konjunkturpaket „Next
Generation“ zur Rettung der europäischen Volkswirtschaften in der Corona-Pandemie wurde die Lage besser. Doch bis zum Regierungswechsel in Berlin blieb zu wenig Zeit, um auf diesem Erfolg aufzubauen. 

Zwischen Olaf Scholz und Emmanuel Macron kam nie richtig Schwung in das Verhältnis. Einer von Macrons Beratern, der schon früh bemerkt hatte, dass der sozialdemokratische Kanzler an Frankreich auffällig desinteressiert war, erklärte mir das so: „Das deutsch-französische Verhältnis ist Sache der CDU.“ 

Sie, lieber künftiger Bundeskanzler, können ihm jetzt recht geben oder das Ganze zurecht­rücken. Es ist Zeit, den Abwärtstrend zu stoppen und diese Beziehung wieder auf einen guten Weg zu bringen. Für Europa ist ein funktionierendes deutsch-französisches Verhältnis überlebenswichtig. An Projekten, die ins Stocken geraten sind und neu gestartet werden können, herrscht ebenso wenig Mangel wie an Differenzen, die es zu überwinden gilt. Die Stimmung kann nur besser werden. Ein guter Anfang wäre es, wenn die Berater im Kanzleramt damit aufhörten, in ihren nicht sonderlich privaten Briefings die französischen Partner schlecht zu reden.

Die langfristigen deutsch-französischen Projekte in der Rüstungsproduktion müssen vorangetrieben werden. Vorhaben zur gemeinsamen Entwicklung von Kampfpanzern und Kampfflugzeugen mögen kompliziert und teuer sein, aber sie sind unsere geopolitische Investition für die kommenden Jahrzehnte.

Ein Thema, bei dem Ihre Regierung den Kurs ändern und einen alten Streitpunkt zwischen Paris und Berlin überwinden sollte, ist die Kernenergie. Der deutsche Kreuzzug gegen die Kernenergie in Europa muss ein Ende haben. Frankreich ist nicht das einzige Land, das sich für Kernenergie entschieden hat; von den 27 Mitgliedstaaten produzieren heute 13 Kernenergie – fast die Hälfte. Lassen Sie sie in Ruhe in diese CO2-arme Energie investieren.


Polen einbinden

Ein solides, dynamisches und produktives deutsch-französisches Tandem ist für Europa unverzichtbar, reicht aber nicht mehr aus.

Nachdem der Einmarsch Russlands in die Ukraine 2022 auf tragische Weise bestätigt hat, dass die Balten und die Polen mit ihren düsteren Warnungen recht hatten und die Politik von Berlin und Paris gegenüber Wladimir Putin falsch war, herrschte allgemein die Meinung vor, dass sich der Schwerpunkt der EU nach Osten verlagert habe. Das war etwas voreilig, denn trotz ihrer derzeitigen Probleme sind Deutschland und Frankreich noch immer die größten Beitragszahler der EU. Um Europa zu stärken, ist es dennoch notwendig, das wachsende Gewicht des östlichen Teils der EU anzuerkennen und Polen unter Donald Tusk in ein Führungstrio einzubeziehen.

Tusk, der von der ultranationalistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) immer wieder als „deutscher Agent“ verunglimpft wurde, hoffte nach seinem Wahlsieg in Polen 2023 auf eine herzlichere und konstruktivere Beziehung zu Berlin, war aber ob der allzu zurückhaltenden Reaktion von Olaf Scholz rasch frustriert. Berlin sollte sich Warschau gegenüber öffnen, über seine unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen hinaus. 

Die Gestaltung einer neuen Partnerschaft zwischen Berlin, Paris und Warschau, die über das alte Weimarer Dreieck der Diplomaten hinausgehen sollte, wird nicht einfach sein. Jede dieser Regierungen hat im Verhältnis zu den beiden anderen eigene Probleme und Ambitionen. Aber wenn es der künftigen deutschen Regierung gelingt, das Vertrauen zu beiden Nachbarn wiederherzustellen, wird dieser Erfolg ganz Europa zugutekommen.

Verteidigung und Sicherheit werden natürlich weit oben auf Ihrer Agenda stehen. Das ist ein weiteres Politikfeld, auf dem Sie es besser machen können und müssen als Ihre Vorgänger, selbst wenn Sie Boris Pistorius als Verteidigungsminister behalten. Er jedenfalls scheint sehr am Bleiben interessiert zu sein – und warum eigentlich nicht? Immerhin hatte er ein gutes Verhältnis zu seinem französischen Amtskollegen Sébastien Lecornu. 

Auch wird Pistorius’ Popularität hilfreich sein, wenn Sie Ihren Wählern endlich die Wahrheit sagen müssen: Die Europäer, einschließlich der Deutschen, müssen mehr für die Verteidigung ausgeben, viel mehr. Sie müssen besser werden, sie müssen Widerstandsfähigkeit aufbauen und die Produktionskapazitäten erhöhen – und das nicht nur, weil Donald Trump es fordert.


Historischer Kraftakt

Das wird uns allen Opfer abverlangen. Daher sollte dieser historische Kraftakt als gemeinsame Anstrengung der Europäer geführt werden, genau wie der Kampf gegen die Pandemie auf europäischer Ebene geführt wurde. Und um ihn in der erforderlichen Größenordnung zu finanzieren, gibt es keine realistische Alternative zur gemeinsamen Kreditaufnahme.

Dass sich immer mehr Deutsche dafür aussprechen, die Schuldenbremse für Investitionen zu lockern, weckt bei uns in Frankreich die Hoffnung auf eine ähnliche Entwicklung des deutschen Denkens in Bezug auf die EU-Ebene. Frankreich und Deutschland haben in der Vergangenheit Fehler in der Russland-Politik gemacht, um dann nach Moskaus Einmarsch in die Ukraine verspätet den Kurs zu ändern. Doch Bundeskanzler Scholz – ein Mann, der sich eng an die Linie der Biden-Regierung hielt, dessen Denken im SPD-Erbe gefangen ist und der die Eskalation fürchtet – ist bei diesem neuen Denken über Russland auf halbem Wege stehen geblieben. 

Egal, mit welchem Koalitionspartner Sie zusammenarbeiten, lieber Herr Bundeskanzler, Ihre Regierung sollte jede Illusion in Bezug auf Putins Russland aufgeben: Es gibt keinen Weg zurück zum Business as usual. Hören Sie nicht auf die Sirenen der nostalgischen Lobbyisten vom Ost-Ausschuss. Es ist großartig, dass Rheinmetall beschlossen hat, in der Ukraine Waffen in einer Gemeinschaftsproduktion herzustellen. Aber die Freigabe des Taurus an die ukrainischen Streitkräfte ist längst überfällig.

Und übrigens: Schluss mit den Nord-Stream-­Pipelines. Donald Tusk hat recht: Sie hätten nie gebaut werden dürfen.

Wenn, wie zu hoffen ist, ein Waffenstillstandsabkommen mit Russland geschlossen werden kann, wird sich die Frage nach Sicherheitsgarantien für die Ukraine stellen. Ihre Regierung sollte dann bereit sein zu helfen, zusammen mit den anderen Europäern, die willens sind, Truppen zu stellen. Die ultimative Sicherheitsgarantie für die Ukraine ist allerdings, wie Sie wissen, die Mitgliedschaft in der NATO. Jetzt, da Joe Biden nicht mehr im Amt ist, sollte Deutschland seinen Widerstand gegen die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine aufgeben – und sich notfalls dem Zorn von Präsident Trump stellen.

Was unter Merkel und Scholz so lange gefehlt hat, ist eine deutsche Vision für Europa. In einem neuen Buch, das im Frühjahr in Frankreich erscheint, plädiert Macrons ehemaliger Europaberater Clément Beaune für eine Europäisierung der Migrationspolitik. Migration hat von Natur aus eine europäische Dimension, da wir einen gemeinsamen Raum der Freizügigkeit haben. Wenn Frankreich Algerien auffordert, illegale Einwanderer zurückzunehmen, und sich Algerien weigert, hat Frankreich kaum Einflussmöglichkeiten. Wenn Frankreich, Deutschland, Spanien, Griechenland und die Niederlande gemeinsam Druck auf Algerien ausüben, sieht das anders aus.

Und schließlich sollten wir beim Thema europäische Wettbewerbsfähigkeit nicht länger um den heißen Brei herumreden. Deutschland sollte die Führung dabei übernehmen, einen Weg zur Umsetzung der Empfehlungen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und der Förderung des sozialen Wohlstands Europas zu finden, die der ehemalige EZB-Präsident Mario Draghi im vergangenen Herbst präsentiert hat.  

Die Zeiten haben sich dramatisch geändert, seit die Koalition Ihres Vorgängers an die Macht kam. Deutschland darf nicht länger die Macht in Europa sein, die am Status quo hängt. Machen Sie es anders als Angela Merkel. Seien Sie mutig. Seien Sie kreativ, seien Sie kooperativ. Seien Sie großzügig. Seien Sie Europäer.


Aus dem Englischen von Bettina Vestring

Sylvie Kauffmann ist außenpolitische Kolumnistin bei der französischen Tageszeitung Le Monde.