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03. Jan. 2022

Schicksalsjahr für Klima und Natur

2022 soll die Beschlüsse bringen, die bei den beiden UN-Konferenzen 2021 nicht erzielt werden konnten. Denn der Erhalt unserer Lebensgrundlagen ist massiv gefährdet.

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Bild: Dichter Smog in einer indischen Großstadt
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Eigentlich sollte 2021 zum Wendepunkt werden. Nach Jahren und Jahrzehnten, in denen die Regierungen es hinausgezögert haben, klar zu benennen, wie sie rechtzeitig den Ausstoß von Treibhausgasen begrenzen, sollte im November in Glasgow die Stunde der Wahrheit schlagen.

Und nach Jahren und Jahrzehnten, in denen die Staaten sich wortreich zum Schutz der Natur und ihrer biologischen Vielfalt bekann, aber kaum etwas unternommen haben, sollten endlich konkrete, nachprüfbare Ziele gesetzt werden.



Von einer „letzten Chance“ sprachen Umweltorganisationen und Politiker mit Blick auf den UN-Klimagipfel, kurz COP 26, der im November in Glasgow rund 40 000 Menschen aus aller Welt zusammenbrachte, darunter US-Präsident Joe Biden und den indischen Premier Narendra Modi.



Auch auf den in den Medien weniger präsenten UN-Gipfel zur Biodiversität im chinesischen Kunming, kurz COP 15, richteten sich große Hoffnungen. Doch China erlaubte wegen der Corona-Pandemie nur einen eher zeremoniellen Schmalspur­auftakt zu den Naturschutzverhandlungen im Oktober. Dabei gab es zwar einen Überraschungsauftritt des chinesischen Präsidenten Xi Jinping, bei dem dieser erstmals eine globale Führungsrolle seines Landes im Naturschutz versprach. Konkrete Beschlüsse wurden allerdings auf 2022 verschoben.



Am Ende des Glasgow-Gipfels war der von der britischen Regierung mit der Leitung beauftragte Alok Sharma, ein früherer Minister und Konservativer, den Tränen nahe, als er vor dem Plenum dafür um Entschuldigung bat, nicht mehr erreicht zu haben.  UN-Generalsekretär António Guterres bilanzierte: „Das Ergebnis der COP 26 ist ein Kompromiss, der die Interessen, Widersprüche und den politischen Willen in der Welt von heute widerspiegelt. Es ist ein wichtiger Schritt, aber nicht ­genug.“



Beim Klimaschutz können die Staaten aber immerhin auf einer Vielzahl von wegweisenden Beschlüssen der COP 26 aufbauen. Formal wichtigstes Ergebnis der zweiwöchigen Verhandlungen ist der „Glasgow Climate Pact“, ein elfseitiges Dokument, das im Konsens verabschiedet wurde. Darin ist die Aufgabe formuliert, dass die Mitgliedstaaten bis Ende 2022 ihre geplanten CO2-Reduktionen detailliert konkretisieren und dann als offizielle Ziele hinterlegen, an denen sie gemessen werden. Enthalten in dem Dokument ist auch ein Bekenntnis zum 1,5-Grad-Ziel, was wichtig ist, weil dieses im Pariser ­Klimavertrag von 2015 eher als Idealziel genannt wurde. Doch Klimaforscher warnen einmütig, dass schon eine Erwärmung von 1,5 Grad Celsius große Risiken mit sich bringen wird – und zwei Grad könnten die Erde klimatisch und ökologisch ins Chaos katapultieren.



In manchen Ohren mag der Unterschied zwischen 1,5 Grad und zwei Grad Erwärmung noch immer klein klingen, denn in absoluten Temperaturen ist es zum Beispiel im Tagesverlauf ein nur marginaler Unterschied. Die durchschnittliche Temperatur der Erde gleicht aber eher der Körpertemperatur eines Menschen, bei der zwischen 39 Grad und 39,5 Grad im Körper viele kritische Prozesse ablaufen.



Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, als sich in der Nordhemisphäre bis in heute gemäßigte Breiten die Gletscher Hunderte Meter hoch türmten, war die Durchschnittstemperatur nur rund fünf Grad Celsius niedriger als heute. Zwei Grad oder mehr zum heutigen Klima zu addieren, würde eine „Heißzeit“ einläuten mit kaum zu kalkulierenden Dominoeffekten wie dem Auftauchen von Methanreservoirs in der Tundra, die schnell zu drei oder vier Grad Erwärmung führen und die Existenzgrundlage menschlicher Zivilisation gefährden könnten.



Bis 2050 auf netto Null

Für das 1,5-Grad-Ziel wurden im Glasgow-Beschluss auch konkrete Voraussetzungen genannt: Damit eine Chance besteht, es zu erreichen, müssten die weltweiten CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent im Vergleich zum Jahr 2010 sinken und bis 2050 bei netto Null liegen. Angesichts der Tatsache, dass trotz pandemiebedingter Lockdowns die Emissionen 2021 fast wieder auf den Stand früherer Jahre gestiegen sind, ist das ein Ziel von gigantischer Tragweite.



Die optimistischste verfügbare Schätzung stammt von der Internationalen Energieagentur (IEA) und besagt, dass die Erd­erwärmung im Laufe dieses Jahrhunderts bei 1,8 Grad begrenzt bleiben wird, sofern alle Staaten wirklich alle Versprechungen, die sie bisher gemacht haben, vollständig umsetzen. Dazu zählen auch Langfrist­ziele wie das von Indien, bis 2070 CO2-neutral zu sein. IEA-Chef Fatih Birol feierte es als „Meilenstein, dass die prog­nostizierte Erwärmung erstmals unter zwei Grad liegt“, sofern die Politik liefert. Doch ein Expertenteam der Vereinten Nationen rechnet vor, dass die kurzfristigen Versprechen bisher die Erde deutlich über die Zwei-Grad-Schwelle bringen werden. Ende 2022, wenn die Staaten ihre neuen Ziele bis 2030 hinterlegen sollen, schlägt also die Stunde der Wahrheit.



Zu den weniger plakativen, aber in der Sache extrem wichtigen Ergebnissen des Glasgower Klimagipfels zählt, dass sich die fast 200 Staaten auf Buchhaltungsregeln geeinigt haben, mit denen ihre Emissionen erfasst werden. Dieses dröge klingende Thema hat große Bedeutung, wie jeder weiß, der ein Unternehmen oder eine Behörde führt. Denn genau so, wie in einem Unternehmen eine unordentliche Buchführung Betrug erleichtert und zu Verwirrung führt, ist es auch im Klimaschutz.



Einheitliche Erfassung von Emissionen

Während des Klimagipfels hatte die Wa­shington Post enthüllt, dass es in vielen Ländern bei der Erfassung von CO2-Emissionen erhebliche Unstimmigkeiten gibt. So sprach Malaysia seinen Wäldern eine viermal größere Fähigkeit zu, Kohlenstoff zu speichern, als dies Indonesien bezifferte. In Summe, folgerte die Washington Post, könnten die Emissionen weltweit um bis zu 23 Prozent höher liegen, als in den offiziellen Inventaren erfasst wird. Das beschlossene Regelwerk soll nun für eine einheitliche Erfassung sorgen und Betrug zumindest unwahrscheinlicher machen.



Zu den größten Streitpunkten in Glasgow zählte die Frage, ob und in welcher Form der Klimagipfel dazu aufrufen soll, aus der Nutzung von Kohle zur Energie­gewinnung auszusteigen. Hierbei kam es zu einem regelrechten Kampf um jedes Wort. Denn Länder wie Australien und Indien hängen wirtschaftlich stark an der Kohle und haben den Aufbau regenerativer Energieversorgung zu lange vernachlässigt. Indien etwa bezieht knapp 70 Prozent seines Stroms aus Kohleverbrennung.

Den amtierenden Regierungen erscheint ein schneller Kohleausstieg bedrohlicher, als sich den Folgen einer ungebremsten Erwärmung auszusetzen. Deshalb wurde bei den Verhandlungen in Glasgow um jedes Wort gerungen. Am 10. November stand in der Beschluss­vorlage noch, der Gipfel rufe alle Länder auf, ein „phasing-out“ der Kohle und aus Subventionen für fossile Energien zu ­beschleunigen.



Im vor allem von Indien verwässerten Schlussdokument war dann nur noch von einem „phasedown“ – also einem Auslaufen – von „unverminderter“ Kohlenutzung und von „ineffizienten“ Subventionen die Rede. Das schafft reichlich Interpretationsspielraum dafür, am Ende doch zu wenig zu tun: ein großer Risikofaktor und eine schwere Hypothek.



Ein Armutszeugnis reicher Staaten

Ebenso negativ schlägt zu Buche, dass es den Staaten nicht gelungen ist, auch nur jene 100 Milliarden Dollar jährlich aufzubringen, die ärmeren Ländern längst versprochen wurden, um eine klimafreundliche Energieversorgung aufzubauen und die Folgen der Klimakrise abzumildern. Ganz zu schweigen von dem Fonds für ­Klima-Reparationszahlungen, der eigentlich zu den tragenden Säulen des Paris-Vertrags zählt, aber bisher kaum ­Gestalt angenommen hat.



Wenn man das mit den Rettungspaketen vergleicht, die infolge der Weltfinanzkrise und der Euro-Krise zwischen 2008 und 2014 geschnürt wurden, stellen sich die reichen Nationen hier ein Armutszeugnis aus. Obwohl sie historisch betrachtet den weitaus größten Teil der CO2-Emissionen zu verantworten haben, die sich in der Atmosphäre ansammeln und die CO2-Konzentration von 280 ppm im 19. Jahrhundert auf inzwischen teils über 420 ppm katapultiert haben, stehlen sie sich gegenüber den Opfern der Klimakrise im Globalen Süden bisher weitgehend aus der Verantwortung.



Woran dagegen in Glasgow kein Mangel bestand, sind neue freiwillige und rechtlich unverbindliche Ankündigungen, die sogenannten „pledges“. Manche Beobachter sehen sogar schon einen Trend dazu, dass die Vertragsstaatenkonferenzen vom Beschlussgremium zur Ankündigungsplattform mutieren. Hervorzuheben sind „pledges“, die Entwaldung bis 2030 zu stoppen und den Methan-Ausstoß bis 2030 um 30 Prozent zu reduzieren.



Solche Ankündigungen hat es allerdings bereits in der Vergangenheit gegeben, etwa die „New York Declaration on Forests“ von 2014 – und es ist vielen von ihnen gemein, dass sie stets als kurzes Leuchtfeuer die Öffentlichkeit begeistert und den Eindruck von Aktivität erzeugt haben, nur um dann schnell wieder in Vergessenheit zu geraten. Kurz nach dem Klimagipfel kam zum Beispiel heraus, dass die Entwaldungsrate in Brasilien, das den „Forest Pledge“ mit unterzeichnet hat, unter der Regierung von Jair Bolsonaro auf einen langjährigen Rekordwert gestiegen ist.



Ein weiterer Trend besteht darin, dass ­private Geldgeber, darunter große Stiftungen und Milliardäre, umso spendabler auftreten – während Staaten sich bei Umwelt­investitionen relativ knausrig zeigen. 7,2 Milliarden Dollar sagten private Geldgeber in Glasgow für den Kampf gegen die Entwaldung zu.



Eine ähnliche Zusage hatte es vor dem Auftakt zum Biodiversitätsgipfel in China gegeben. Während Staaten keine neuen Finanzzusagen machten, gab ein Bündnis von Stiftungen  bekannt, bis 2030 für den Schutz der Natur fünf Milliarden Dollar zur Verfügung zu stellen – darunter die Wyss Foundation, die Rob and Melani Walton Foundation, der Bezos Earth Fund und Bloomberg Philanthropies.



Globaler Naturschutz versus wirtschaftliche Interessen

2022 wird es aber dann doch an den Staaten liegen, beim UN-Biodiversitätsgipfel verbindliche Ziele für den globalen Naturschutz bis zum Jahr 2030 zu vereinbaren. Ob dies gelingt, ist noch fraglich, denn davon sind massive wirtschaftliche Interessen berührt, etwa die der industrialisierten Landwirtschaft in Europa und Nordamerika, der Soja-Oligarchen Südamerikas sowie der ärmeren Länder, die versuchen, mit klassischen Methoden beim Wohlstand zum Westen aufzu­schließen.



Dieses klassische Entwicklungskonzept kollidiert immer stärker mit der ökologischen Realität: „So, wie wir im Augenblick produzieren und konsumieren, führen wir uns an einen Abgrund“, sagt Achim Steiner, Chef des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen. Das Weltwirtschaftsforum zählt das Schwinden der Naturvielfalt sogar zu den wichtigsten Risikofaktoren für die weitere wirtschaftliche Entwicklung und den Wohlstand. Denn sie gefährdet eine sichere Ernährung, die Versorgung mit Trinkwasser und ganz allgemein die Fruchtbarkeit der Erde.



Das große Ziel der COP 15 ist es daher, verbindliche Ziele zu schaffen, etwa das, bis zum Jahr 2030 jeweils 30 Prozent der Meeres- und Landfläche der Erde unter ­effektiven Schutz zu stellen. Dahinter stehen aber komplexe Fragen, zum Beispiel, welche Rolle den indigenen Gemeinschaften zukommt. Werden sie, wie mancherorts geschehen, für den Naturschutz mit Zäunen von ihren angestammten Territorien ausgeschlossen? Das wäre ein katastrophaler Fehler, denn die rund 400 Millionen Indigenen weltweit haben sich bisher als die besten und effektivsten Hüter der Naturvielfalt bewährt. Auf ihren Territorien befindet sich Studien zufolge ein Großteil der verbleibenden Biodiversität. Bisher haben die Vereinten Nationen aber keinen adäquaten Weg gefunden, indigene Organisationen ernsthaft an den Verhandlungen über ihre Zukunft zu beteiligen.   



„In den Notfallmodus umschalten“

2021 konnte die Hoffnungen, die auf die beiden UN-Gipfel gerichtet waren, nicht erfüllen. Deshalb wird nun 2022 das vielbeschworene Schicksalsjahr für Natur und Klima sein, von dem abhängt, ob die Menschheit es schafft, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu erhalten, oder ob all die düsteren Szenarien, mit denen die Wissenschaft aufwartet, Wirklichkeit werden.

Voraussichtlich im Mai 2022 sollen die Beschlüsse zum Naturschutz fallen und im Herbst sollen dann auf einem weiteren Klimagipfel jene konkreten Zusagen für CO2-Reduktionen folgen, mit denen die ­Erwärmung der Erde auf unter 1,5 Grad Celsius im Vergleich zur vorindustriellen Zeit begrenzt werden kann. UN-Generalsekretär Guterres zeigt sich kämpferisch: „Es ist jetzt an der Zeit, in den Notfallmodus umzuschalten.“    



Christian Schwägerl war Korrespondent für die FAZ und den Spiegel, bevor er 2017 die Journalismus-Plattform www.riffreporter.de mitgründete. Als Vorstand leitet er auch das Rechercheprojekt „Countdown Natur“ zur globalen Umweltpolitik.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 95-99

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