Buchkritik

01. März 2013

Schau doch mal auf die Karte, Schatz

Kaplans Plädoyer für die Geopolitik startet fulminant und verliert sich dann

Mit der Geopolitik führt Robert Kaplan in seinem neuen, über weite Strecken brillanten Buch eine oft unterbewertete Kategorie wieder in den analytischen Diskurs ein, macht sie dann aber zum Evangelium. So erweist er der Disziplin, deren Geltung er – zu Recht – befördern will, am Ende nur bedingt einen Dienst.

Geopolitik als akademische Disziplin und als politisches Analyseinstrument muss sich in Deutschland gleich zweier hartnäckiger Ressentiments erwehren. Erstens galt die geopolitische Denkschule lange als nationalsozialistisch verseucht (und gilt es zuweilen noch heute). Hierfür gibt es einen guten Grund, wurde doch die geopolitische Ur-Lehre, 1904 begründet durch den britischen Geografen Halford Mackinder, in Deutschland vor allem durch den Münchner Artillerieoffizier und Geografieprofessor Karl Haushofer als ideologischer Steinbruch für die Lebensraumtheorien der Nazis genutzt.

Haushofer schrieb der Geografie nicht nur ein Rasseelement, sondern vor allem einen politischen Determinismus zu, der bei Mackinder gar nicht vorkommt. Nach 1945 wurde zwischen dem Original und der Verzerrung dann nicht mehr unterschieden und das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Determinismusvorwurf, also die Klage, die Geopolitik degradiere die Weltgeschichte zum Produkt eines einzigen Faktors, ist der zweite Grund, weshalb Geopolitik auch denjenigen, die sie nicht in die Nazi-Ecke stecken, bis heute suspekt erscheint.

Einfluss, aber kein Schicksal

In seinem neuen Buch „The Revenge of Geography“ macht Robert Kaplan, seit Jahren einer der profiliertesten Analysten weltpolitischer Ereignisse und engagierter Verfechter geopolitischer Ideen, deutlich, dass er sich der Gefahr des Determinismus-Problems bewusst ist. Klar distanziert er sich von der Vorstellung, die Geografie sei die allein entscheidende Variable und die ihnen ausgesetzten Menschen und Völker seien nur noch anonyme Spielmasse unverrückbarer Gegebenheiten. „Geografie beeinflusst, aber sie determiniert nicht. Geografie ist nicht gleichbedeutend mit Fatalismus. Aber sie beschränkt oder befördert das politische Handeln von Staaten, ganz so wie ökonomische und militärische Machtfaktoren eben auch,“ schreibt er.

Kaplan geht es darum, dass Geografie als schicksalhafter Faktor anerkannt, nicht aber für Schicksal gehalten wird. Er kennt die empörungsbereiten Kritiker nur zu gut, die sämtliche naturgegebenen Einflüsse auf menschliches Handeln schlichtweg für irrelevant erklären und denen alle Politik das Resultat menschgemachter gesellschaftlicher Bedingungen ist. Dass diese Kritiker eben den Fehler begehen, den sie den Geopolitikern zu Unrecht vorwerfen, nämlich auf anonyme Kräfte statt auf einen sorgfältigen Faktorenmix bei der Analyse von Politik zu setzen, fällt ihnen gar nicht auf.

Kaplan ist überzeugt, dass die Geografie in diesem Faktorenmix eine besondere Rolle spielt. Als Nachweis erläutert er nicht nur in geraffter und pointierter Form die Theorien Mackinders und anderer geopolitischer Vordenker, mit kraftvollen Exkursen in die Realismustheorien Morgenthaus, die sich (der vehementen Kritik Morgenthaus an Mackinder zum Trotz) höchst fruchtbar analytisch miteinander vermählen lassen.

Weite Teile des Buches sind dem Versuch gewidmet, historisch nachzuweisen, dass die physischen Gegebenheiten des menschlichen Lebensraums einen herausragenden Einfluss auf das Handeln der Menschen selbst haben. Der Nachweis gelingt. Kaplan findet zuhauf historische Belege dafür, wie langfristige weltpolitische Entwicklungen ohne den Faktor Geografie nicht zu verstehen sind. Hier wird auch deutlich, wie zentral der Faktor Zeit in der geopolitischen Analyse ist. Je stärker man sich bei der Betrachtung politischer Vorgänge auf das Hier und Jetzt des Tagesgeschäfts beschränkt, desto unwichtiger sind geopolitische Faktoren für das Verständnis. Je mehr man sich aber auf langfristige Entwicklungen fokussiert, desto unentbehrlicher wird der Blick auf die Karte.

Der erste Teil des Buches ist eine brillante Einführung und Vertiefung in die geopolitische Denkwelten. Hier profitiert die Analyse davon, dass Kaplan nicht nur ein Kenner der Geschichte und der internationalen Beziehungen ist, sondern auch ein weit gereister und erfahrener Journalist. „The Revenge of Geography“ ist allerdings weniger anekdotisch und episodisch aufgebaut als Kaplans Verkaufsschlager „Monsoon“ zur strategischen Bedeutung des indischen Ozeans, der zum Must-Read der strategischen Community wurde.

Von wechselhaftem Wert

Statt den Fokus auf eine spezielle Weltregion zu richten, bietet das neue Buch einen globalen Ansatz. Der kommt dann im zweiten Teil des Buches, der eigentlichen analytischen Studie, zum Tragen. Hier werden in sechs Kapiteln die geopolitischen Hot Spots des Planeten eingehend behandelt: Europa, Russland, China, Indien, der Iran sowie die Länder des Balkans, des Nahen Ostens und Nordafrikas, die einst zum Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches gehörten. Das geopolitische Schicksal Amerikas wird in einem dritten Teil behandelt. In diesen Kapiteln vertieft Kaplan zunächst die zuvor angerissenen historischen Entwicklungen der jeweiligen Regionen, um aus ihnen die dominanten geopolitischen Faktoren herauszudestillieren. Davon ausgehend wagt er dann zum Schluss der Abschnitte jeweils eine vorsichtige Prognose hinsichtlich kommender Konflikte.

Angesichts der Breite und Fülle der behandelten Regionen ist es nicht verwunderlich, dass das Buch im zweiten Teil von wechselhaftem Wert ist. Während das Kapitel über Europa zwar einige grobe Verallgemeinerungen aufweist und die historischen Herleitungen manchmal arg eklektisch daherkommen, ist die Analyse doch im Ganzen nützlich und plausibel. Das Russlandkapitel dagegen wirkt mitunter arg locker zusammengestrickt. Hier werden teilweise höchst grenzwertige Befunde vorgestellt, die nicht frei von Vorurteilen und Stereotypen sind.

Das mindert den Wert der Analyse erheblich und wird auch durch einige zutreffende Feststellungen nicht ausgeglichen. Natürlich kann der Autor nicht in allen Weltregionen gleichermaßen zuhause sein. Kaplan hätte sich von vornherein etwas weniger ambitionierte Ziele setzen sollen. Hier zeigen sich aber auch die Grenzen des geopolitischen analytischen Ansatzes.

Da Geografie nur Teil eines Faktorenmixes in der Analyse ist, benötigt man enorm viel Wissen über die anderen relevanten Faktoren, also Sozialstruktur, Wirtschaft, Militär, Kultur etc., um in der Abwägung der Geografie ihren angemessenen Platz einzuräumen. Dies ist umso bedeutsamer, je größer der Raum ist, über den man spricht. Für Europa, ein Gebiet, das Kaplan ausgiebig studiert und bereist hat, wirkt seine Analyse noch einigermaßen sattelfest.

Je weniger Tiefe aber im Hintergrund vorhanden ist, und je umfänglicher der räumliche Fokus, desto dünner wird das Eis, auf dem er wandelt. Die geopolitische Großtheorie, die zu scharfsichtiger Analyse führen kann, wird, auf sich allein gestellt, mechanistisch und führt im schlimmsten Fall zu stark entstellten Ergebnissen. So weit treibt Kaplan es nicht, dafür ist er zu klug und zu sensibel im Umgang mit seinem Material. Aber Ansätze dazu zeigen sich in der zweiten Hälfte des Buches immer wieder.

Vielleicht liegt das auch an dem Umfeld, in dem Kaplan sich seit März 2012, zusätzlich zu seiner Korrespondententätigkeit für The Atlantic Monthly, bewegt. Er ist Chief Geopolitical Strategist des texanischen Analysedienstes Stratfor, der die Welt durch eine streng geopolitische Brille betrachtet. Stratfor wird oft und zurecht der Vorwurf gemacht, eine allzu statische und einseitig vorgeformte Sicht auf die Welt zu haben.

Diesen Vorwurf kann man Kaplan nicht machen, aber Stratfor und sein Buch haben das gleiche Problem: sie führen eine für das Verständnis von internationaler Politik unerlässliche, aber oft unterbewertete Kategorie wieder in den analytischen Diskurs ein, machen sie dann aber zum Evangelium. So tun sie der Disziplin, deren Geltung sie – zu Recht – befördern wollen, am Ende nur bedingt einen Dienst. Kaplans Buch ist auf den ersten 150 Seiten erstklassig. Für den wackeligen Rest reicht Querlesen.

Robert D. Kaplan: The Revenge of Geography. What the Map Tells Us About Coming Conflicts and the Battle Against Fate. New York: Random House 2012, 432 Seiten, 28,00 $

Jan Techau ist Direktor von Carnegie Europe, Brüssel, und Associate Fellow der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 139-141

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