Scharf nach rechts
Viktor Orbán polarisiert Ungarn seit zwei Jahrzehnten
Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie verlief doch nicht so mustergültig wie es Anfang der Neunziger schien. Heute ist Ungarn tief gespalten, und der machtbesessene Ministerpräsident bemüht die ganz großen Kategorien: Gut und Böse, Licht und Dunkel, Sieg oder Untergang. Nationalismus und Ungarozentrismus sind bereits Staatsideologie.
Es war ein strahlend schöner Samstag, eine Woche nach Herbstbeginn. Warm, aber nicht heiß, mäßiger Wind, am Himmel leichte Wolken. Nur die Worte des Festredners klangen wie Sturm und Stahlgewitter.
Beschwörend sprach er vom Blutsbund der sieben ungarischen Stämme, vom tausendeinhundertjährigen ungarischen Reich und von der Weltnation der Ungarn, deren Grenzen nicht die heutigen Landesgrenzen seien. Er erinnerte die Zuhörer an die Symbolik des Turul-Vogels, des mythischen Tieres, das die ungarischen Stämme auf ihrer Wanderung vom Ural einst ins Karpatenbecken geführt hatte. „Das Urbild des Turul-Vogels ist das Urbild der Ungarn. Es gehört zum Blut und zur Heimat. Der Turul-Vogel ist das Sinnbild der nationalen Identität aller jetzt lebenden, aller toten und aller künftig geborenen Ungarn. Jeder Ungar ist jedem Ungarn Rechenschaft schuldig. Wir, die Ungarn des nationalen Zusammenhalts, müssen mit unserer Liebe, unserem Dienst und unserem Frohsinn alles Schlechte und alle Uneinigkeit aus dem ungarischen Leben herausdrängen. Eine neue Welt zieht über dem europäischen Kontinent herauf. Das erste Gebot dieser neuen Welt lautet: Die starken Nationen halten zusammen, die schwachen zersplittern.“
Der „Nationale Geschichtliche Gedenkpark“ im südungarischen Dorf Ópusztaszer am 29. September 2012. Eingeweiht wird das „Denkmal des nationalen Zusammenhalts“ – verkörpert in einem Turul-Vogel, der ein Schwert in den Krallen hält. Die Festrede dazu hält nicht irgendjemand, sondern Ministerpräsident Viktor Orbán höchstselbst.
Die „Blut-und-Heimat“-Rede von Ópusztaszer erregte in Ungarn, aber auch im Ausland einiges Aufsehen. Obwohl ihr Anlass auf der Rangliste politisch-kultureller Ereignisse vergleichsweise unbedeutend war, zählt sie mit ihrem Bekenntnis zu völkisch-volksgemeinschaftlichem Gedankengut zu den brisantesten Reden, die Orbán in seiner bald 30-jährigen politischen Karriere gehalten hat. Der Regierungschef selbst bekräftigte kürzlich, wie ernst er seine Worte meinte. Mitte April sagte er in einem gemeinsamen Interview der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Welt und des österreichischen Kurier: „Das war eine hervorragende Rede. Was ist das Problem damit?“
Religion, Familie, Blut und Heimat
Ungarn drei Jahre nach dem Machtantritt von Viktor Orbán und seiner Partei „Bund Junger Demokraten“ (Fidesz): Der magyarische Regierungschef und seine führenden Ideologen haben dem Land eine Staatsdoktrin verordnet, die mit dem Geist von 1989/90, einschließlich des Prozesses der europäischen Einigung, radikal aufräumt und merkwürdig aus der Zeit gefallen wirkt.
Viele Politiker und Ideologen im Regierungsbündnis aus Fidesz und der kleinen Partei der Christdemokraten (KDNP), einschließlich des Regierungschefs Orbán selbst, glauben, die liberale Demokratie und die soziale Marktwirtschaft seien grundsätzlich gescheitert. Immer wieder warnen sie in regelrechten Endzeitfantasien vor dem Untergang des europäischen Abendlands. Sie sind überzeugt, dass in Ungarn erst seit dem Zweidrittelwahlsieg ihrer Partei im April 2010 eine wirkliche Wende stattgefunden habe, eine „nationale, christliche, konservative Revolution“.
Ihre wesentlichen Ziele, wie sie auch Viktor Orbán immer wieder propagiert, lauten: eine „Arbeitsgesellschaft statt Sozialstaat“, eine „Ordnung der nationalen Zusammenarbeit“, die sich vor allem auf die starken ungarischen Minderheiten in der Slowakei, Serbien, Rumänien und der Ukraine erstreckt, ein starker Obrigkeitsstaat und schließlich eine starke Volksgemeinschaft aller Ungarn, in der neben „Blut und Heimat“ die christliche Religion und die Familie die verbindenden Werte sind. Eingang gefunden hat diese Ideologie auch in die Anfang 2012 in Kraft getretene Verfassung. In ihrer Präambel, dem „Nationalen Glaubensbekenntnis“, beschwört sie das vor tausend Jahren gegründete Ungarn-Reich, den Kult um die Heilige Stephanskrone und den Geist der autoritären Horthy-Ordnung der Zwischenkriegszeit.
Ungarns neue Staatsideologie hat auch eine spezifisch antieuropäische Komponente: Viktor Orbán zieht immer wieder Parallelen zwischen der EU und den einstigen sowjetischen Besatzern („Brüssel = Moskau“), warnt vor einer Kolonisierung Ungarns durch die EU und allgemein vor der Gefahr des Souveränitätsverlusts der Nationalstaaten in der Union. Das alte Europa und die EU sind in seinen Augen „aggressiv, internationalistisch, säkular und familienfeindlich“. Einer der neben ihm einflussreichsten Fidesz-Politiker, Parlamentspräsident László Kövér, glaubt, das „internationale Kapital“, die EU und die USA hätten Ungarn zum „symbolischen Ort eines Kalten Krieges auserwählt“, weil die Budapester Regierung eine „ernsthafte Abkehr vom liberalen Zwangsweg“ betreibe.
Als Abkehr von diesem Weg sehen Orbán und seine Regierungsmehrheit dabei auch ihre – nach einem Wort des früheren Wirtschaftsministers György Matolcsy – „unorthodoxe“ Wirtschaftspolitik, ein Begriff, der sich auf Maßnahmen bezieht, mit denen Ungarns marode Staatsfinanzen saniert und das hohe Haushaltsdefizit gesenkt werden sollten. Die Regierung verstaatlichte beispielsweise private Rentenkassen und führte eine Sondersteuer für ausländische Handels- und Dienstleistungsunternehmen ein. Daneben erließ sie Gesetze und Regelungen, mit denen sie sich trotz ihrer ausgesprochen armenfeindlichen Wirtschaftspolitik vor der Öffentlichkeit gut darstellen konnte: So können private Schuldner ihre Fremdwährungskredite zu einem staatlich festgelegten Wechselkurs und zu Vorzugskonditionen zurückzahlen, wobei die Regelung jedoch so gestaltet wurde, dass in erster Linie Bessergestellte profitieren und nicht die wirklich überschuldeten Bedürftigen.
In diesem Jahr ordnete die Regierung eine Senkung von Mietnebenkosten, also unter anderem der Gas-, Strom- und Wasserpreise an. Viktor Orbán wird nicht müde zu verkünden, dass er damit die Interessen des ungarischen Volkes gegen die Profitgier ausländischer Konzerne (beispielsweise die Stromerzeuger) verteidigt habe. Die Beschneidung ihrer Profite, so Orbán, sei im Übrigen auch der einzige Grund für die permanente Kritik der EU an Ungarn, weshalb sie sich letztlich erübrige – eben, weil sie nur ein Vorwand sei.
Zwischen einem Ungarn, in dem die Staatsführung nahezu täglich solche Botschaften unter das Volk bringt, und dem Ungarn der Wendezeit liegen Welten. Zu Beginn der neunziger Jahre galt Ungarn als das Musterreformland in Osteuropa, sein Systemwechsel, sein Übergang von der Diktatur zur Demokratie, von der staatssozialistischen zur Marktwirtschaft schienen vorbildlich.
In Wirklichkeit jedoch wirkt das heutige Orbán-Modell wie eine verzweifelte Antwort auf eine Transformation, die keineswegs mustergültig verlief, sondern in vielerlei Hinsicht gescheitert ist. So bereitwillig die ungarischen Kommunisten 1989/90 ihre Macht abgaben, so wenig fand ein Elitenwechsel in Verwaltung und Wirtschaft statt. Angehörige der früheren Nomenklatura bereicherten sich im Zuge eines betrügerischen Privatisierungsprozesses am ehemaligen Volkseigentum, während die Bevölkerung unter Massenarbeitslosigkeit und Austeritätsprogrammen litt.
Keines der drastischen Sparprogramme, die seit 1990 Ungarns riesigen Schuldenberg abbauen und die Staatsfinanzen sanieren sollten und für die die Bevölkerung anfangs noch Geduld aufbrachte, wurde konsequent zu Ende geführt. Auch notwendige Reformen des Bildungswesens, des öffentlichen Dienstes, der öffentlich-rechtlichen Medien scheiterten oder wurden gar nicht erst in Angriff genommen. Keine politische Kraft wagte die Ausarbeitung einer neuen Verfassung, welche die provisorisch ergänzte kommunistische Verfassung hätte ersetzen müssen.
Besonders die Jahre 2002 bis 2010, in denen die wendekommunistischen Sozialisten zusammen mit den aus der ehemaligen Bürgerrechtsopposition hervorgegangenen Liberalen regierten, waren eine Zeit quälenden politisch-ökonomischen Stillstands und zugleich zahlreicher Korruptionsaffären. Währenddessen waren große Teile der Bevölkerung mit den Folgen der Globalisierung und des EU-Beitritts konfrontiert. In Ungarn sind bis heute vor allem kleine Landwirte die Leidtragenden der EU-Erweiterung; zugleich verschwanden unter dem Druck der ungebremsten Konkurrenz westlicher Unternehmen nach der Marktöffnung manche ungarische Industriezweige nahezu völlig, so etwa ein beträchtlicher Teil der Lebensmittelindustrie.
Todfeindschaft ohne Ausweg
Die prekäre soziale und wirtschaftliche Situation im postkommunistischen Ungarn war schon früh ein ideales Umfeld für die tiefe politische Spaltung des Landes in ein linksliberales und ein rechtsnationales Lager – eine Spaltung, die in Osteuropa ihresgleichen sucht. Sie begann Anfang der neunziger Jahre als Konflikt zwischen Staatspräsident und Regierungschef und verselbstständigte sich schnell zu einer Todfeindschaft, aus der bis heute kein Ausweg erkennbar ist und die Ungarns politische Zukunft lähmt.
Völlig aus dem Ruder lief die Entwicklung ab dem Herbst 2006. Seinerzeit führte eine an die Öffentlichkeit gelangte Geheimrede des damaligen sozialistischen Regierungschefs Ferenc Gyurcsány, in der dieser betrügerische Wahlversprechen zugab, zu einer wochenlangen Belagerung des Parlaments durch Demonstranten und schließlich zu schweren Unruhen in Budapest. Gleichzeitig erschütterte ein grausamer Lynchmord an einem ungarischen Lehrer, begangen von einer Gruppe Roma, das Land und führte dazu, dass die Stimmung gegenüber den Roma kippte.
Damals hätte ein rechtzeitiger Rücktritt der sozialliberalen Koalition Ungarn wohl vieles erspart: Jahre eines verbal ausgetragenen Bürgerkriegs zwischen Regierung und Opposition, den Aufstieg der rechtsextremen Jobbik („Bewegung für ein besseres und rechteres Ungarn“) zu einer 20-Prozent-Partei und die Akzeptanz rechtsextremistischen Gedankenguts in einem nicht unerheblichen Teil der ungarischen Mittelschicht, eine rechtsterroristische Mordserie an Roma und schließlich den Zweidrittelwahlsieg Orbáns.
Freilich ist in dieser Entwicklung die Rolle von Viktor Orbán selbst kaum zu unterschätzen. Ein unbedingter Machtwillen treibt ihn um. Er polarisiert Ungarn seit nahezu zwei Jahrzehnten so sehr wie kein anderer Politiker des Landes. Er liebt politische Kämpfe und langweilt sich, wenn es um verantwortungsvolles, nachhaltiges Regieren geht. Er sieht sich zweifellos als eine der zentralen Figuren in der modernen Geschichte Ungarns, seine Kategorien sind die ganz großen: Gut und Böse, Licht und Dunkel, Sieg oder Untergang. In seiner Rede von Ópusztaszer zog Orbán eine Parallele zwischen dem Kampf des Erzengels Michael und der himmlischen Heerscharen gegen den Teufel und den „Ungarn der nationalen Zusammenarbeit“, die „alles Schlechte aus dem ungarischen Leben herausdrängen“ müssten. Als er Ende Mai 2013 nach dreijährigem Regieren Bilanz zog, fiel diese so aus: „Wir haben Ungarn wieder ans Tageslicht gebracht.“
Während Macht- und Sendungsbewusstsein von jeher charakteristisch waren für Viktor Orbán, hat er inhaltlich einen bemerkenswert weiten Weg zurückgelegt. Fidesz wurde 1988 als radikalliberale Jugendorganisation gegründet und war einige Jahre lang eine bunte, pluralistische Partei, die im Ungarn der Jahre 1988 bis 1992 Wandel, Generationswechsel und Modernität verkörperte. Viktor Orbán hatte früh auf sich aufmerksam gemacht. Am 16. Juni 1989 forderte er auf einer Großkundgebung zur Wiederbestattung der Märtyrer der Revolution von 1956, darunter des hingerichteten Ministerpräsidenten Imre Nagy, den Abzug der russischen Truppen aus Ungarn und erregte damit auch über Ungarn hinaus Aufsehen.
„Heimat kann nicht Opposition sein“
Mit eher mäßigem Erfolg versuchte Orbán nach der Wende, seiner Partei ein Profil zwischen dem streng konservativen „Ungarischen Demokratischen Forum“ (MDF) und dem linksliberalen „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ), der Partei der ehemaligen antikommunistischen Oppositionellen und Bürgerrechtler, zu geben. Als dieses Vorhaben bei den Wahlen 1994 mit einem Misserfolg endete, wozu im Übrigen auch eine große Korruptionsaffäre in seiner Partei beigetragen hatte (die Parteihaus-Affäre: Fidesz hatte eine vom Staat als Parteizentrale erhaltene, wertvolle Immobilie mit hohem Gewinn verkauft), verordnete Orbán seiner Partei eine abrupte, scharfe Wende nach rechts. Der Hintergrund: Nach dem Wahldebakel des MDF war der Platz rechts der Mitte weitgehend frei geworden, eine Partei musste ihn besetzen, und Orbán spekulierte darauf, das gesamte Spektrum von der Mitte bis nach rechtsaußen für sich zu vereinnahmen.
Diese Strategie war erfolgreich und hat sich seitdem mehr und mehr verselbstständigt. Die Rhetorik Orbáns und seiner Partei war schon ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von immer stärkerem Nationalismus und Ungarozentrismus geprägt. Bereits im Wahlkampf 1998 erzeugte Orbán eine Atmosphäre verbalen Bürgerkriegs. Nach seiner ersten, im Vergleich zu heute durchaus moderaten Regierungszeit 1998 bis 2002 kommentierte Orbán seine Wahlniederlage im Frühjahr 2002 mit den Worten: „Die Heimat kann nicht in der Opposition sein.“ Es war das erste Mal, dass er sich und seine Partei als deckungsgleich mit der ungarischen Nation und ihren Interessen deklarierte, während er die demokratischen Wahlsieger, die Sozialisten und Liberalen, als „Vaterlandsverräter“ und „Fremdherzige“ titulierte.
Nach dem Zweidrittelwahlsieg von Orbán und Fidesz im April 2010 ging es rhetorisch noch einmal weiter in Richtung rechtsaußen, wofür Reden wie die von Ópusztaszer stehen. Grund ist die Konkurrenz zwischen Fidesz und der rechtsextremen Oppositionspartei Jobbik, die bei den Wahlen 2010 immerhin 17 Prozent der Stimmen erhielt.
Verbale Attacken auf die Nachbarn
In welchem Maße Viktor Orbán und Fidesz-Ideologen dabei Emotionen und Ressentiments mobilisieren, zeigt seine Wiederbelebung des Themas „Schandvertrag von Trianon“. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Ungarn durch den Friedensvertrag von Trianon (1920) zwei Drittel seines Territoriums verloren; ein Drittel der ethnischen Ungarn, von denen die meisten in kompakten Gebieten lebten, wurden über Nacht zu Bürgern anderer Staaten. Im Horthy-Ungarn der Zwischenkriegszeit war die Revision des Vertrags von Trianon oberstes politisches Ziel und das bestimmende gesellschaftliche Thema. Heute, ganze 93 Jahre später, ist die „Tragödie von Trianon“ wieder eines der bestimmenden Themen in der Rhetorik der Regierungsmehrheit. (Einhergehend damit wird der einstige Reichsverweser Miklós Horthy verherrlicht, obwohl er 1944 mitverantwortlich für die Deportation von rund 437 000 Juden in deutsche Vernichtungslager war.)
Das Diktum des ersten postkommunistischen Ministerpräsidenten Ungarns, József Antalls, wonach er im Geiste auch Ministerpräsident der Ungarn jenseits der Landesgrenzen sei, ist seit 1990 eine Doktrin der ungarischen Außenpolitik. Doch damit einher ging auch unter der ersten Orbán-Regierung 1998 bis 2002 immer das klare Bekenntnis zu den existierenden Grenzen. Die werden zwar auch heute von der Orbán-Regierung nicht in Frage gestellt. Doch die offizielle Trianon-Rhetorik von führenden Fidesz-Politikern hat mit ihren antieuropäischen Tiraden und ihren verbalen Attacken auf die Nachbarländer Ungarns inzwischen ein unverantwortliches, geradezu hysterisches Stadium erreicht.
Kein seriöser Historiker außerhalb Ungarns bestreitet heute den ungerechten Charakter des Trianon-Vertrags. Doch zugleich hat es in Ungarn selbst nahezu ein Jahrhundert nach Trianon noch keine breite gesellschaftliche Debatte darüber gegeben, welche Umstände zu dem Vertrag führten: Dazu gehört vor allem die aggressive Magyarisierungspolitik gegen nichtungarische Nationalitäten, die 1867 mit der innenpolitischen Unabhängigkeit der ungarischen Länder von Habsburg begann und bis zum Ende des Habsburgerreiches 1918 dauerte.
Diese Debatte ist vorerst auch nicht zu erwarten. Die heutige ungarische Außenpolitik beschränkt sich nicht mehr nur darauf, für bessere Minderheitenrechte der Ungarn in der Slowakei, der Ukraine, Serbien und Rumänien einzutreten. Nach dem Zweidrittelwahlsieg Orbáns und seiner Partei im Frühjahr 2010 erklärte die neue Parlamentsmehrheit in Erinnerung an den Tag des Vertragsschlusses von Trianon im Jahr 1920 den 4. Juni unter dem Namen „Tag des nationalen Zusammenhalts“ zum gesetzlichen Gedenktag.
Die Regierungsmehrheit hielte es auch für wünschenswert, wenn ein staatliches europäisches Gremium unabhängig von einer Grenzrevision die Unrechtmäßigkeit von Trianon erklären würde. Anders als noch vor einigen Jahren, als sich nur wenige Ungarn für das Thema Trianon interessierten, ist es heute zu einem wichtigen Thema in Politik und Gesellschaft geworden.
Schwer zu sagen, wohin Ungarn unter Orbán und seiner Regierungsmehrheit noch steuern wird. Staat und Verwaltung sind inzwischen so umgestaltet, dass Orbán auch dann großen Einfluss behält, wenn seine Partei einmal nicht mehr an der Macht ist. Eine lupenreine Diktatur wird das Land in absehbarer Zeit nicht werden. Obwohl Orbán das Land in autoritärem Stil regiert, wäre es übertrieben, Ungarn einen autoritären Staat zu nennen. Allerdings gibt es viele Spielräume zwischen Demokratie und Diktatur.
Die Opposition spielt in Ungarn derzeit praktisch kaum eine Rolle. Verfassungsrechtliche Kontrollmechanismen sind entweder per Gesetz oder durch das Einsetzen von Orbán-Getreuen an die Hebel der Macht abgeschafft. Rassismus, latenter Antisemitismus und offener Antiziganismus werden unter der herrschenden Elite immer salonfähiger, Nationalismus und Ungarozentrismus sind bereits Staatsideologie. Ungarn möchte, so hat es Viktor Orbán unlängst gesagt, EU-Mitglied bleiben und „von innen an Diskussionen teilnehmen“. Er wird der Europäischen Union weiterhin vorführen, wieviel Spielraum noch für seinen Sonderweg besteht.
Keno Verseck arbeitet als freier Journalist in mittel- und südosteuropäischen Ländern mit Schwerpunkt Ungarn und Rumänien.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 58-64