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01. Juli 2016

Korrupte Kerle, furchtlose Frauen

Die EU muss mehr tun, um Mazedonien aus der Staatskrise zu helfen

Drei Juristinnen wagen es, die kriminellen Machenschaften in dem autoritären Staat aufzudecken und publik zu machen. Sie handeln im Rahmen einer Sonderstaatsanwaltschaft, die 2015 auf Druck der EU eingerichtet wurde. Doch Europa muss noch mehr tun, um die Bemühungen um Demokratisierung in Mazedonien zu unterstützen.

Sie treffen sich am späten Nachmittag vor einem grauen Bürogebäude mit verspiegelten Scheiben im Zen­trum von Skopje. Manche halten Schilder hoch, auf denen drei Buchstaben stehen: SJO. Dann ziehen sie pfeifend und johlend durch die mazedonische Hauptstadt. Sie blockieren den Verkehr und werfen Farbbeutel auf ­Regierungs- und Verwaltungsgebäude, auf Denkmäler und auf die vielen pseudoantiken Prachtbauten, die in den vergangenen Jahren errichtet wurden. Einen Gutteil der offiziellen Gebäude in Skopje haben sie so schon mit farbigen Flecken bespritzt. Ihre seit Wochen andauernden allabendlichen Aktionen nennen sie „Bunte Revolution“.

Für die regierungstreuen Medien sind sie „Hooligans“, „Mörder der Nation“ oder „vom Ausland gesteuerte Kriminelle“. Sie wollten Mazedonien in ein „internationales Protektorat“ verwandeln, heißt es; sie seien beauftragt und finanziert von dem Börsen­spekulanten George Soros – „Sorosoide“, die angeblich wie ferngesteuert ausführen, was der US-­Milliardär, Finanzinvestor und Philan­throp jüdisch-ungarischer Herkunft ihnen befiehlt.

Die derart Verleumdeten sind in Wahrheit wütende mazedonische Bürger, die seit April dieses Jahres in der Hauptstadt, aber auch in anderen Städten des Landes nahezu täglich auf die Straße gehen. Sie demonstrieren gegen die nationalistisch-autoritären Machthaber und verlangen eine Demokratisierung des Landes. Als Treffpunkt in Skopje dient ein Gebäude in der Mitropolit-Teodosij-­Gologanov-Straße. Dort ist die mazedonische Sonderstaatsanwaltschaft SJO untergebracht, eine unabhängige Institu­tion, die 2015 auf Druck der EU gegründet wurde, um Wahlfälschungen und Korruptionsaffären im Land zu untersuchen.

Anfang April waren es jeden Tag Tausende, manchmal auch Zehntausende Bürgerinnen und Bürger, die sich im Land versammelten; inzwischen sind es täglich immer noch Hunderte. Ihr Motto lautet: „Ohne Gerechtigkeit keinen Frieden!“ Ihre Bewegung nennen sie „Protestiram –Ich protestiere“.

Manchmal demonstrieren die Teilnehmer nicht nur mit Farbbeuteln, es flogen auch schon Eier, Steine und Brandsätze auf Regierungsgebäude. In den ersten Tagen des Protests wurde ein Vertretungsbüro des mazedonischen Staatspräsidenten Djordje Ivanov in Skopje komplett verwüstet.

Denn Ivanov war es gewesen, der die Proteste am 12. April ausgelöst hatte. An diesem Tag hatte der Staatspräsident im Zuge einer Amnestie 56 Politiker und hochrangige Beamte begnadigt, gegen die die Sonderstaatsanwaltschaft SJO wegen schwerwiegender Delikte ermittelt hatte: Wahlfälschung in großem Stil, Korruptions- und Abhöraffären, Beteiligung an organisierten Wirtschaftsverbrechen.

Mit der Amnestie wollte Ivanov laut eigenem Bekunden einen Ausweg aus der seit nunmehr zwei Jahren andauernden tiefen Staatskrise finden und einen „Akt der nationalen Versöhnung“ vollziehen. Doch faktisch hat er Mazedonien in die tiefste Krise seit seiner Unabhängigkeit 1991 manövriert und zum derzeit explosivsten Land der ohnehin instabilen Westbalkan-Region gemacht.

Von der internationalen Öffentlichkeit wurde diese Krise bisher nur wenig wahrgenommen und wenn, dann eher als Nebenaspekt der Flüchtlingskrise: Mazedonien ist seit Monaten Frontstaat gegen Flüchtlinge. Im Januar schlossen seine Behörden die Grenze zu Griechenland und damit die quasioffizielle Balkan-­Route, über die vergangenes Jahr Hunderttausende Flüchtlinge in die EU kamen. Unterstützt wurde und wird Mazedonien dabei logistisch und politisch von den Visegrád-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn sowie von Slowenien und Kroatien. Andere EU-Staaten, darunter auch Deutschland, sahen Mazedoniens Grenzschließung zumindest mit Wohlwollen.

Ein gespaltenes Land

Dass angesichts der Flüchtlingsfrage die innenpolitische Krise im Land international kaum Beachtung findet und auf politischer Ebene womöglich sogar bewusst wenig thematisiert wird, halten viele Beobachter für einen schwerwiegenden Fehler. Der mazedonische Publizist Sašo Ordanoski und der mazedonische Völkerrechtler und ehemalige Diplomat Nikola Dimitrov bezeichnen Mazedonien als ein „Land in Agonie und Auflösung“, in dem die Machthaber die Lage immer weiter eskalieren ließen, weil sie vor der existenziellen Alternative Machterhalt oder Gefängnis stünden. Mazedonien, so Ordanoski und Dimitrov, sei derzeit gespalten in eine machtlose prowestliche Mehrheit, die eine Demokratisierung und eine europäische Integration verlange, und eine antiwestliche Minderheit, die die Macht in den Händen halte. Diese Konstellation könne jederzeit zu schweren Unruhen und zum Zerfall des Landes führen, was nicht ohne Folgen für die ganze ­Region bliebe.

Ähnlich sehen es die Südosteuropa-Experten Florian Bieber von der Universität Graz und Dušan Reljic´ von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Sie nennen die Staatskrise in Mazedonien eine „Gefahr für die regionale Stabilität“ (Bieber) und ein „Sicherheitsproblem für die gesamte EU, das in Brüssel auch als solches erkannt werden sollte“ (Reljic´). Auch die serbische Politologin Jelena Milic´ vom Belgrader Zentrum für ­euro-atlantische Studien konstatiert, dass „den meisten westlichen Politikern nicht bewusst ist, wie gefährlich die Lage in Mazedonien und auf dem Westbalkan insgesamt ist“.

Schwierige Nachbarn

Dabei war Mazedonien einst das Musterland der Region. Den Staatszerfall Jugoslawiens 1991 und den Unabhängkeitsprozess bewältigte es als einzige Teilrepublik ohne Krieg – obwohl seine demografischen Gegebenheiten komplex und die Beziehungen zu allen Nachbarländern problematisch sind. Von den zwei Millionen Einwohnern sehen sich nur knapp zwei Drittel als Mazedonier. Albaner machen etwa 25 Prozent der Bevölkerung aus, daneben gibt es christlich-orthodoxe und muslimische Roma, Türken und weitere kleine Minderheiten.

Die Beziehungen Mazedoniens zu seinen Nachbarländern Albanien, Bulgarien, Griechenland, Serbien und dem seit 2008 unabhängigen Kosovo sind in unterschiedlichen Abstufungen ausnahmlos kompliziert. Die Nachbarn beanspruchen bei manchen innenpolitischen Themen ein Mitspracherecht oder stellen, trotz diplomatischer Anerkennung, seine Existenzberechtigung als Nation infrage, da es als eigenständige jugoslawische Teilrepublik erst seit 1944 existierte – nach dem Ende der osmanischen Herrschaft und den Balkan-Kriegen 1912/13 war Mazedonien zwischen Bulgarien, Griechenland und Serbien aufgeteilt.

Griechenland beispielsweise erkennt den Staatsnamen „Mazedonien“ bis heute nicht an, weil es damit angebliche mazedonische Ansprüche auf die nordgriechische Region Makedonien verbunden sieht. Bulgarien betrachtet seinerseits die Mazedonier als Teil der bulgarischen Nation. Albanien und Kosovo verfolgen mit Argusaugen das Schicksal der ihrer Ansicht nach entrechteten albanischen Minderheit in Mazedonien. Für Serbien wiederum ist die Problematik der Albaner in Mazedonien ein möglicher Destabilisierungsfaktor für das eigene Land, da in Südserbien eine kleine albanische Minderheit lebt, deren politische Vertreter enge Beziehungen zu Albanien, Kosovo und zu Albanern in Mazedonien unterhalten.

Tatsächlich hat die Problematik der albanischen Minderheit Mazedonien schon mehrmals an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht und sorgt bis heute für Spannungen im Land. 2001 kam es zu mehrmonatigen Kämpfen zwischen der Armee und albanischen Milizen. Der Konflikt wurde unter Vermittlung der EU im August 2001 mit dem so genannten Ohrid-Abkommen befriedet. Die mazedonischen Albaner erhielten dadurch die Zusage besserer Minderheitenrechte, ihre politischen Vertreter schworen dem bewaffneten Kampf ab. An der Umsetzung des Abkommens hapert es jedoch bis heute, vor allem was die Verwendung des Albanischen im Verwaltungs- und Bildungsbereich angeht. Außerparlamentarische Vertreter der albanischen Minderheit werfen den etablierten albanischen Parteien dabei vor, den Kampf für die Rechte der Albaner zugunsten einer Partizipa­tion am korrupten politischen System aufgegeben zu haben.

Lokal kommt es, sowohl von Mazedoniern als auch von Albanern provoziert, immer wieder zu Konflikten mit ethnischem Hintergrund: rassistische Schmierereien, gewalttätige Übergriffe oder Brandanschläge. Zuletzt gab es im März dieses Jahres in Skopje Zusammenstöße zwischen Mazedoniern und Albanern, als letztere gegen die Aufstellung eines riesigen christlich-orthodoxen Kreuzes protestierten, das als Antwort auf die Errichtung eines albanischen Doppeladlers gedacht war.

Im Zuge einer seit dem Ohrid-Abkommen 2001 zunächst positiven ­politischen Entwicklung wurde Mazedonien 2005 Beitrittskandidat der Europäischen Union und strebte außerdem die NATO-Mitgliedschaft an. Obwohl EU und NATO damals für den Beginn konkreter Beitrittsverhandlungen offen gewesen wären, konnten diese wegen der Blockadehaltung Griechenlands im Namensstreit bisher nicht beginnen. Diese Blockadehaltung sehen viele Beobachter als eine der Ursachen für das Abgleiten Mazedoniens in autoritär-mafiöse Verhältnisse.

Dafür steht vor allem ein Mann: Nikola Gruevski, 45 Jahre alt, Ökonom und von 2006 bis Januar 2016 mazedonischer Regierungschef. Der ursprünglich marktliberale Banker, Finanzminister und Wirtschaftsreformer übernahm 2003 den Vorsitz der Partei „Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für die Mazedonische Nationale Einheit“ (VMRO-­DPMNE). Seit seinem Amtsantritt als Regierungschef entwickelte er sich aus machttaktischen Gründen immer mehr zum Populisten und Nationalisten und errichtete in den vergangenen Jahren ein autoritäres und korruptes Klientelregime.

Zusammen mit einer kleinen Gruppe von Verwandten und Par­teifreunden kontrolliert Gruevski die Staatsverwaltung und den öffentlichen Dienst, den größten Teil des Justizapparats und die meisten Medien im Land. Stützen kann sich Gruevskis Regime auf eine beträchtliche Anzahl von Angestellten im Staats- und öffentlichen Dienst. Nach offiziellen Angaben arbeiten rund 20 Prozent der etwa 677 000 Beschäftigten in der Staatsverwaltung und im öffentlichen Dienst, die damit zu den wichtigsten Arbeitgebern gehören. Die Zahl entspricht zwar in etwa dem OECD-Durchschnitt, ist allerdings angesichts der prekären wirtschaftlichen Verhältnisse alarmierend hoch. Mazedoniens schwache Wirtschaft leidet unter Strukturschwäche, fehlenden Investitionen, steigender Verschuldung und Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte; die Arbeitslosigkeit beträgt 25 Prozent. Eine Stelle beim Staat ist für viele Menschen und ihre Familien daher eine Frage des Überlebens.

Wie sich Mazedonien in den vergangenen Jahren entwickelt hat, dafür steht symbolisch das Projekt „Skopje 2014“ – eines der größten architektonischen Transformationsvorhaben der jüngeren europäischen Geschichte, mit dem die mazedonische Hauptstadt zu einer Art Disneyland der Antike wurde. Seit 2010 wurden in Skopje Dutzende historistisch-pseudoantiker Bauten und Denkmäler errichtet, mit denen das Gruevski-Regime demonstrieren wollte, dass Mazedonien einst das Zentrum der antiken Welt und ein Ausgangspunkt der europäischen Zivilisation war. Von geplanten 80 Millionen Euro stiegen die Kosten auf derzeit geschätzte 560 Millionen. Journalisten deckten im Zusammenhang mit „Skopje 2014“ zahlreiche Korruptionsskandale auf.

Monatelang wurde demonstriert

Es war die an „Skopje 2014“ so deutlich sichtbare Selbstherrlichkeit und Willkür des Gruevski-Regimes, die 2014 schließlich zur Staatskrise führte. Ausgelöst wurde sie im Zuge der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom April 2014, zu deren Gewinnern sich Gruevski und seine Partei VMRO-DPMNE erklärten. Diese Ergebnisse waren jedoch massiv manipuliert worden, wie damals vermutet und inzwischen auch durch Ermittlungen bestätigt wurde. Nach den Wahlen rief die wichtigste Oppositionspartei, die „Sozialdemokratische Union Mazedoniens“, einen Parlamentsboykott aus, der anderthalb Jahre dauerte. Zugleich entzündete sich im Herbst 2014 an einer Hochschulreform ein Studentenprotest, der ­binnen kurzer Zeit zu einer breiten zivilen Demokratisierungs­bewegung wurde.

Im Februar 2015 kam das ganze Ausmaß des Machtmissbrauchs unter Gruevski ans Licht, als der sozial­demokratische Oppositionsführer ­Zoran Zaev Aufnahmen von abgehörten Telefonaten veröffentlichte, die seiner Partei zugespielt worden waren. Aus den Gesprächen, deren Authentizität die Regierung nicht bestritt, ging hervor, wie Gruevski und seine engsten Vertrauten ihrerseits die politische Elite flächendeckend ­abhören ließen, die Medien steuerten, Wahlfälschungen und die Inhaftierung von Kritikern planten und Korruptionsaffären vertuschten. „Bomben“ nannten mazedonische Medien die über Monate hinweg Stück für Stück veröffentlichten Gespräche, wobei bis heute unklar ist, wer sie mitgeschnitten und den Sozialdemokraten zugespielt hat.

Die „Bomben“ sorgten dafür, dass der Protest von Studenten und jungen Leuten für ein demokratisches Mazedonien starken Auftrieb erhielt: Monatelang demonstrierten wütende Mazedonier gegen die Gruevski-Regierung. Die Sozialdemokraten und ihr Chef Zaev, dem selbst Korruptionsaffären aus seiner Zeit als Bürgermeister der südostmazedonischen Stadt Strumica 2008/09 anhaften, nutzten die Gunst der Stunde, um sich an die Spitze der Protestbewegung zu setzen und sie zumindest teilweise zu vereinnahmen. Ministerpräsident Gruevski wertete seinerseits die Proteste als Putschversuch; Zaev wurde der Pass entzogen und sollte wegen Hochverrats angeklagt werden.

In der ohnehin angespannten Situation kam es Anfang Mai 2015 zu einem bis heute nicht aufgeklärten tödlichen Antiterror-Einsatz mazedonischer Sicherheitskräfte in der Stadt Kumanovo im Norden des Landes. Am Morgen des 9. Mai durchkämmten Polizei und Armee ein von Albanern bewohntes Viertel der 70 000-Einwohner-Stadt nach mutmaßlichen albanischen Terroristen, die angeblich Attentate planten. Der Einsatz eskalierte, bei Feuergefechten starben 18 Menschen und Dutzende Häuser wurden zerstört. Die Regierung beschuldigte mutmaßliche albanische Terroristen, für die Eskalation verantwortlich zu sein. Die Opposition hingegen sah in dem Antiterror-Einsatz ein Manöver, um von ihren Protesten abzulenken.

Erste Vermittlungen der EU

Der Zwischenfall von Kumanovo brachte Mazedonien an den Rand eines Bürgerkriegs und war zugleich das Signal zum Einschreiten der EU, um eine weitere gewaltsame Eskala­tion zu verhindern. Unter der Leitung des Erweiterungskommissars Johannes Hahn und mit Hilfe eines Teams von Diplomaten vermittelte die EU im Juli 2015 das so genannte Pržino-Abkommen, das die Lage in Mazedonien befrieden sollte. Seine wichtigsten Punkte sind die Rückkehr der Opposition ins Parlament, der Rücktritt Gruevskis als Regierungschef, die Bereinigung manipulierter Wählerverzeichnisse, die Vorbereitung fairer Wahlen, eine Verbesserung der Pressefreiheit und die Gründung einer Sonderstaatsanwaltschaft zur Untersuchung von Wahl­fälschung und Korruption.

Bis Anfang Februar dieses Jahres schien die EU-Vermittlung halbwegs zu funktionieren. Gruevski war zwischenzeitlich zurückgetreten, die oppositionellen Sozialdemokraten waren zur Parlamentsarbeit zurückgekehrt, nahmen an der Arbeit einer technischen Regierung teil, faire Wahlen wurden vorbereitet. Gruevski und seine Partei akzeptierten zwischenzeitlich sogar zähneknirschend eine Verschiebung des Wahltermins von April auf Juni, weil die manipulierten Wählerverzeichnisse nicht rechtzeitig bereinigt werden konnten.

Doch dann geschah das Unerwartete – zumindest für das Regime von Gruevski, der trotz seines Rücktritts weiterhin im Hintergrund als starker Mann agierte. Am 12. Februar traten in Skopje drei Staatsanwältinnen vor die Presse, die Leiterinnen eben jener Sonderstaatsanwaltschaft SJO, die auf Betreiben der EU im Rahmen des Pržino-Abkommens gegründet worden war. Sie verkündeten in einem mutigen und mittlerweile legendären Auftritt, der wohl in die Geschichtsbücher Mazedoniens eingehen wird, ihre Ermittlungsergebnisse zu mehreren großangelegten Wahlfälschungen des Gruevski-Regimes. Jenseits aller bis dahin laut gewordenen Mutmaßungen legten sie dazu erstmals stichhaltige Beweise vor. Und sie äußerten sich schonungslos über die Verhältnisse in Mazedonien – einem Land, in dem es inzwischen durchaus Mut erfordert, um seine Meinung zu sagen. Die Wahlfälschungen seien Ausdruck einer „Kriminalisierung des gesamten institutionellen Systems“, so die drei Staatsanwältinnen. Sie wurden damit über Nacht zu den Heldinnen der demokratischen Öffentlichkeit in Mazedonien.

Kaum jemand hatte mit den drei furchtlosen und unbestechlichen Frauen gerechnet. Monatelang hatte es Querelen um das Statut, die Arbeit und die Finanzierung der SJO gegeben. Ihre Leiterinnen, die SJO-Chefin Katica Janeva, ihre Stellvertreterin Fatime Fetai und die SJO-Sprecherin Lencˇe Ristoska, waren von der Regierungspresse mit einer monatelangen Schmutzkampagne unter Druck gesetzt worden, allgemein hatte die mazedonische Öffentlichkeit ­erwartet, dass die Arbeit der SJO ergebnislos bleiben würde.

Doch nicht nur lieferte die SJO Beweise für massive Wahlfälschungen, sie legte seit Februar auch mehrmals Ermittlungsergebnisse zu weiteren Korruptionsaffären mazedonischer Politiker vor. Das brachte Staats­präsident Djordje Ivanov am 12. April schließlich dazu, die Notbremse zu ziehen: Er erließ jene Amnestie für 56 Politiker und hochrangige Beamte, die anschließend die gegenwärtigen Massenproteste auslöste.

Die Zukunft ist ungewiss

Wie es weitergeht in Mazedo­nien, ist nur schwer vorherzusagen. Zwar nahm Staatspräsident Ivanov nach dem massiven öffentlichen Druck der vergangenen Monate seine umstrittene Amnestie am 6. Juni vollständig zurück. Doch Mazedoniens Bürger demonstrieren und protestieren weiter. Vertreter der „Protestiram!“-Bewegung verlangen unter anderem ein Mitspracherecht an den Verhandlungen der Parlamentsparteien über die politische Zukunft des Landes.

Auch wurden die für den 5. Juni angesetzten Parlamentswahlen auf einen unbestimmten Zeitpunkt im Herbst verschoben, nachdem zwischenzeitlich selbst die EU-Vermittler die Voraussetzungen für faire Wahlen, also in erster Linie eine vollständige Bereinigung der Wählerverzeichnisse, nicht gewährleistet sahen. Ob der Termin im Herbst gehalten werden kann, ist noch unklar.

Inzwischen hat statt der EU auch Deutschland die Vermittlerrolle bei der Befriedung der mazedonischen Staatskrise übernommen. Obwohl viele Mazedonien-Experten dies nicht öffentlich aussprechen mögen, werfen sie Johannes Hahn und Mitgliedern des Vermittlerteams Unkenntnis der mazedonischen Verhältnisse, Überforderung, diplomatisches Ungeschick und Versagen vor. So fiel der belgische Diplomat Peter Vanhoutte, der dafür zuständig war, die Umsetzung von mehr Pressefreiheit zu überwachen, durch ebenso bizarre wie peinliche Tweets auf, in denen sich Katzen verklausuliert zur Situation der mazedonischen Medien äußern.

„Wir geben nicht auf“

Ohne viel Aufhebens beauftragte der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier Anfang Mai Johannes Haindl, den deutschen Botschafter in Österreich, als seinen Sondergesandten mit der Vermittlung in der mazedonischen Staatskrise. Ob er mehr Geschick beweist als Hahn, ist für Experten noch eine offene Frage. Dušan Reljic´ von der SWP sieht zumindest kein schnelles Ende der Eskalation in Mazedonien: „Das Gruevski-Regime will sich um jeden Preis an der Macht halten.“ Er weist ebenso wie die serbische Politologin Jelena Milic´ darauf hin, dass Gruevski sich inzwischen hilfesuchend an Russland gewandt hat und russische Politiker ihrerseits die mazedonischen Bürgerproteste als illegitime Umsturzbewegung verurteilen. „Mazedonien ist, wie die meisten anderen Länder der Region, ein schwacher, instabiler Staat, um den die EU sich nicht allzu sehr kümmert“, so Milic´. „Russland springt in diese Lücke, und dieser Einfluss wird immer gefährlicher.“

Der Völkerrechtler und ehemalige Diplomat Nikola Dimitrov appelliert seinerseits mit großem Nachdruck an die EU, Mazedonien nicht abzuschreiben: „Wenn die Demokratie in Mazedonien scheitert, dann riskiert die EU, dass die gesamte Region an autoritäre Führer fällt, die hinter dem Vorhang des Pro-EU-Sprechs das russische Modell nachahmen. Die EU darf Mazedonien auf keinen Fall ignorieren, denn in keinem anderen Land der Region wurde der Machtmissbrauch so umfassend aufgedeckt und dokumentiert. Wenn die EU diesen so offensichtlichen Fall nicht löst, dann wird es auch die anderen starken Männer des Balkans nicht entmutigen.“

Die drei Sonderstaatsanwältinnen jedenfalls werden nicht aufgeben – schon allein deshalb nicht, weil sie sich in der Verantwortung der protestierenden Bürgerinnen und Bürger sehen, deren Hoffnung sie sind. Viele Demonstranten tragen T-Shirts mit den Konterfeis der drei Frauen, auf der Straße, beim Einkaufen oder in Cafés werden sie oft angesprochen und ermutigt, häufig möchten Menschen sich mit ihnen auf Selfies ablichten. „Wir geben nicht auf“, sagt die SJO-Sprecherin Lencˇe Ristoska. „Wir werden unsere Mission weiter verfolgen, wir werden professionelle und unparteiische Ermittlungsergebnisse vorlegen. Recht, Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz werden in unserem Land siegen.“

Keno Verseck arbeitet als freier Journalist zu den Entwicklunngen in den mittel- und südosteuropäischen Ländern.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S.

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