IP

12. Sep 2006

Säkularisierung oder Säkularismus?

Debatte

Nicht nur in der westlichen Welt diskutiert man über die Bedeutung der Religion für die Politik. In Indien wird seit längerem unter dem Begriff des „Säkularismus“ das Zusammenleben der vielen religiösen Gruppen in Südasien erörtert. Im vergangenen Sommer wurde diese Debatte für ein breiteres Publikum zugespitzt auf den Seiten von Outlook India geführt. Wir dokumentieren die Beiträge von drei führenden indischen Gelehrten, die auch deutliche Meinungen nicht scheuen.

Die Tücken der Einzigartigkeit Die Kritik des Säkularismus verwechselt Tradition mit Religion

von Kuldip Nayar

Wenn ich ihn richtig verstehe, so erklärte ich einmal Ashis Nandy, dann ist er der Ansicht, der Säkularismus sei für Indien keine gute Lösung. Er antwortete mir: „Das trifft mehr oder weniger zu.“ Und er steht mit dieser Meinung nicht allein. Es gibt mittlerweile eine zunehmende Zahl von Intellektuellen, die zu diesem Schluss kommen. Sie glauben, dass der Säkularismus von Anfang an dem indischen Staat eine Menge von Problemen aufgeladen hat. Unter anderem heißt es, der Säkularismus sei als ein westliches Konzept ungeeignet für Indien. Für andere ist die antireligiöse Richtung bedenklich, weil diese im Widerspruch zu den Grundlagen der indischen Gesellschaft stehe.

Könnte es sein, dass Gelehrte wie Nandy den Glauben an das pluralistische Ethos des Landes verloren haben? Das wäre verständlich. Wenn sie aber behaupten, in Indien seien Tradition und Religion gleichbedeutend, dann machen sie sich damit über die Synthese lustig, die das Land im Laufe vieler Jahre ausgebildet hat und die den gegenseitigen Respekt für die religiösen Gefühle der einzelnen Gruppen ermöglicht. Es ist nicht verkehrt, Religion und Tradition gleichzusetzen, so lange dabei anerkannt wird, dass die indische Tradition nicht von einer bestimmten Religion dominiert wird. Problematisch wird es dann, wenn der Hinduismus fälschlicherweise für diese Tradition gehalten wird. Unsere Tradition besteht dagegen vielmehr darin, verschiedenen Religionen und unterschiedlichen Glaubensrichtungen ihren Raum zu geben. Der Säkularismus ist ein Produkt dieser Entwicklung. Voraussetzung dafür waren Toleranz und Verständnis. Säkularismus meint daher im Wesentlichen, die Religion nicht mit dem Staat oder der Politik zu vermischen.

Während meiner kurzen Amtszeit als indischer Hochkommissar in London fragte ich die damalige Premierministerin Margaret Thatcher nach ihrem Eindruck von Michail Gorbatschow, den sie gerade besucht hatte. Gorbatschow habe ihr gesagt, erzählte sie, er verliere langsam die Kontrolle und könne das Land nicht mehr zusammenhalten. Sie habe ihm daraufhin geraten, nach Indien zu gehen und davon zu lernen, wie dort die Menschen seit Jahrhunderten trotz unterschiedlicher Religionen, Kasten, Sprachen und Lebensstandards zusammenlebten. Thatcher fragte mich dann, womit ich mir diese indische Entwicklung erklärte. Meine Antwort lautete, wir in Indien glaubten nicht, dass die Dinge entweder schwarz oder weiß seien. Vielmehr glaubten wir, dass es eine verschwommene Zone gebe, in der sich alle Dinge überlappen, und dass wir diese Zone immer weiter auszudehnen versuchten. Das ist unser Säkularismus. Und das Gefühl der Toleranz, der Geist des einander Entgegenkommens, die sich daraus entwickelten – das war der Leim, der uns zusammenhielt.

Es stimmt zwar, dass die Vertreter des Hindu-Nationalismus damit nichts mehr zu tun haben wollen. Ihrer Ansicht zufolge ist der Säkularismus gegen die Hindus gerichtet, und sie setzen ihn mit einer übersteigerten Rücksicht auf die Sorgen von Minderheiten gleich. Und es ist genau das, was Intellektuelle wie Nandy nicht erkennen. Wie Nehru einmal sagte, haben Religionen Werte geschaffen, auf denen das menschliche Leben aufbauen kann, und Prinzipien geformt, von denen es sich leiten lassen kann. Aber diese Werte und Prinzipien darf man nicht für die vererbten wesentlichen Merkmale einer endgültig ausgebildeten und in sich geschlossenen Kultur halten.

Der Kampf zwischen Säkularismus und exzessivem Nationalismus ist nichts Neues. In Europa hat man mit allen Formen von Religionen und heiligen Kriegen experimentiert, und der Begriff des Gottesstaats wurde ausgiebig erörtert. Nachdem man aber Jahrhunderte lang Krieg geführt hatte, kam man zu dem Schluss, das Religion und Staat getrennt sein sollten.

Auch was zur Unterstützung des Hindu-Nationalismus vorgebracht wird, ist nicht neu. Nach der Teilung Indiens 1947 konnte man Schlimmeres hören. Der Kampf um die Unabhängigkeit war säkularen Idealen verpflichtet, und diesen wurde ein heftiger Schlag versetzt, als das Land auf der Grundlage der Religion geteilt wurde. Damals griffen hinduistische Nationalisten zu den Waffen, um Muslime zu vertreiben. Man sagte ihnen, sie sollten nach Pakistan gehen, dort sei nun ihr Platz.

Über die Gedanken Gandhis, der sich für Pluralismus und Frieden einsetzte, rümpfte man die Nase. Man sah darin lediglich eine feige Antwort auf den „islamischen Chauvinismus“. Viele Intellektuelle erklärten damals, dass die indische Kultur und Tradition der Hinduismus war und dieser sich darum auch in der neu zu schaffenden Verfassung widerspiegeln müsse. Nehru jedoch, Abul Kalam Asad und Sardar Patel verteidigten ihre Position und verwarfen dieses veraltete und unwissenschaftliche Denken, das sich auf die Religion berief. Darum verabschiedete Indien schließlich eine der liberalsten Verfassungen, die den Minderheiten sogar das Recht einräumte, ihre Religion öffentlich zu verkünden und zu propagieren.

Natürlich gab und gibt es weiterhin den Einfluss der Religion auf die Politik. Mittlerweile wird dieser im Namen der Kultur verkauft. Wie Intellektuelle wie Nandy dazu stehen, zeigt nur, dass sie nicht mehr wissen, welcher Seite sie sich anschließen sollen.

Eine Milliarde Gandhis

von Ashis Nandy

Viele Zeitalter lang war eine natürliche Toleranz, die eng mit dem Glauben verbunden war, die Grundlage unseres Zusammenlebens. Warum versuchen meine Freunde nun, dieser Wurzel ein importiertes Konzept wie den Säkularismus aufzupfropfen? Der Säkularismus ist nicht gleichbedeutend mit allgemeinem Einvernehmen; er ist nur ein Weg, um ein solches Einvernehmen zu erreichen. Als eine Ideologie ist er keine 300 Jahre alt. Aber obwohl der Säkularismus in den letzten Jahren völlig darin versagt hat, den Aufstieg des Hindu-Nationalismus sowie des islamischen, jüdischen und christlichen Fundamentalismus aufzuhalten, in Indien genauso wie auf der ganzen Welt, haben offensichtlich nur wenige den Mut, über den Säkularismus hinauszublicken.

Mein Freund Kuldip Nayar, mit dem ich in vielen Debatten Seite an Seite gekämpft habe, auch in solchen Debatten, die er „säkular“ nennen würde, hat nun meine Ablehnung des Säkularismus beklagt. Er meint, ich habe den Glauben an die pluralistischen Traditionen Südasiens verloren. Damit hat er mich allerdings gründlich missverstanden. Meine Kritik des Säkularismus hat nämlich zum Ziel, diese Traditionen, die bereits vor Gandhi bestanden, wieder zu beleben. Es handelt sich dabei um eine Suche nach postsäkularen Formen der Politik, die den Bedürfnissen eines demokratischen Staatswesens in Südasien besser gerecht werden.

Der Begriff des Säkularismus entstand in einem Europa, das von religiösen Kämpfen, Kriegen und Pogromen zerrissen war. Es war in diesem Kontext unmöglich, in der Tradition noch eine Quelle der Toleranz zu erblicken. Dieser Fall ist in Indien und weiten Teilen Südasiens nie eingetreten. In Indien haben die meisten Unruhen in Städten stattgefunden, und selbst diejenigen, die die Dörfer erreichen, beginnen häufig in den Städten. Darum verwundert es nicht, dass in den letzten 50 Jahren weniger als vier Prozent aller Menschen, die bei Unruhen ums Leben kamen, in Dörfern starben, obwohl dort 75 Prozent der Inder wohnen. In den Städten dagegen, wo 25 Prozent der Inder leben, starben 96 Prozent der Opfer. Es ist darum eine Form obszöner Arroganz, wenn man durch die indischen Dörfer ziehen will, um Toleranz durch Säkularismus zu predigen – ich jedenfalls mache dabei nicht mit.

Diese Ideen der Toleranz sind bei den einfachen Leuten und im Alltagsleben mit volkstümlichen religiösen Vorstellungen verbunden, wie abergläubisch, irrational und primitiv diese auch immer dem fortschrittlichen und säkularen Indien erscheinen mögen. Das moderne Indien hat bis auf den heutigen Tag keinen einzigen Helden des Säkularismus hervorgebracht, abgesehen von Nehru, dessen Ausstrahlung auch langsam dahinschwindet. Wenn aber Ashoka, Akbar, Kabir und Gandhi, die Helden der Säkularisten, ohne das Konzept des Säkularismus auskamen, dann kommen auch die Menschen Südasiens ohne es zurecht. Sie brauchen weder Führer noch Avantgarde, weder Akademiker noch Journalisten, die sie belehren oder ihnen modische Theorien verkaufen, wie sie zu Toleranz und Respekt gegenüber anderen Glaubensrichtungen erzogen werden können. Es ist an der Zeit, dass wir Wissenschaftler die Sprache und Kultur dieser einfachen Inder entziffern. Wir betrachten ihren Glauben als unterlegen, aber sie waren es, die das Zusammenleben in unserer Gesellschaft erträglich gemacht haben.

Es ist nun einmal einfach so, dass in einer Demokratie Menschen ihre Werte in die Politik einbringen, ob uns das gefällt oder nicht. Und statt diesen Menschen eine Idee aufzuerlegen, die für die nichtenglischsprachige Mehrheit keinen Sinn ergibt – selbst die Übersetzung von „Säkularismus“ (dharmanirapekshata) ist ein Behelfskonstrukt, das wörtlich Amoralität bedeutet –, sollten wir endlich diese Menschen ernst nehmen, von ihnen lernen und auf ihren einheimischen Konzepten aufbauen, die im wirklichen Leben seit Jahrhunderten funktioniert haben. Wenn der Säkularismus nichts anderes meint als die traditionelle Toleranz in Südasien, warum brauchen wir dann eine importierte Idee, um über die lokale Toleranz zu reden? Und warum sollten wir eine Idee aus Ländern importieren, die keine Geschichte wirklicher religiöser, rassischer, kultureller und ethnischer Toleranz vorzuweisen haben? Warum sollten wir nicht vielmehr etwa das Konzept der convivencia aus dem mittel-alterlichen islamischen Spanien übernehmen – das man mit guten Gründen für das einzige wirklich pluralistische politische Gebilde halten kann, das Europa in den letzten tausend Jahren hervorgebracht hat?

Aber ich weiß auch, dass es zu nichts führen wird, diese Fragen zu stellen. Einige Dinge sind einfach nicht möglich in der von der indischen Meinungsindustrie und den staatstragenden Dissidenten geprägten vorherrschenden kolonialen Kultur. Wäre es anders, hätte zumindest die indische Linke ein paar Lehren von der Ideologie der Sandinisten übernommen, die aggressiv nichtsäkular und auf die Befreiungstheologie gestützt war. Stattdessen hat sich Indiens hirntote, noch in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg lebende koloniale Linke ein anderes Vorbild auserkoren: Sie äfft immer noch im Namen des Säkularismus die leninistischen Rohheiten eines mörderischen Regimes nach, das während seiner so genannten revolutionären Phase 62 Millionen seiner eigenen Bürger umbrachte.

Ich bin selbst ein Kind des modernen Indien, ein Ungläubiger. Und ich habe viele Jahre gebraucht, um zum Verräter an meiner Klasse – an den urbanen, westlich gebildeten, modernen Indern – zu werden und um Respekt zu entwickeln für die Menschen, die die indische Demokratie am Leben erhalten haben mit ihren unausgesprochenen Theorien und Praktiken des friedlichen Zusammenlebens in den Dörfern. Darum wurde ich nicht zum Gläubigen, aber ich bin so seit 20 Jahren gezwungen worden, diese Theorien und Prinzipien in meiner Arbeit wiederzuentdecken, zu erforschen und zu bestätigen. Bei diesem Bemühen bin ich Gandhis Maxime gefolgt, wonach diejenigen, die glauben, Religion habe nichts mit Politik zu tun, weder die Religion noch die Politik verstehen. Überlassen wir doch das Urteil darüber, ob dieses Bemühen umsonst war, der nächsten Generation von Menschen, die in Südasien leben.

Unser einziger kolonialer Denker Was Ashis Nandy gegen den Säkularismus vorbringt, beruht auf falschen Voraussetzungen und nicht auf Sachkenntnis

von Sanjay Subrahmanyam

Einmal mehr hat der berühmte indische Psychologe und intellektuelle Einzelkämpfer Ashis Nandy gezeigt, dass er genauso beeindruckend intelligent sein kann wie ermüdend, sich wiederholend und schlecht informiert. Über Indien und dessen Geschichte weiß er so wenig wie über Europa und dessen Vergangenheit. Mit dieser glückselig machenden uninformierten Unschuld ausgestattet, kann er auf brillante Weise ein Paradox nach dem anderen entwickeln. Dass das ganze kaum in der Realität verankert ist, hat ihn selten durcheinander gebracht. Fangen wir mit seiner Sicht auf die Geschichte der Begriffe an.

Nandy behauptet, der Begriff des Säkularismus sei in einem Europa entstanden, „das von religiösen Kämpfen, Kriegen und Pogromen zerrissen war“. Aber wann und wo geschah das? Im Frankreich Karls IX. und Heinrichs IV.? Während des Dreißigjährigen Krieges? Kann Nandy uns einige spezifische Zeiten und Gesellschaften nennen? Nein, denn Nandys Europa existiert überhaupt nur in seiner Phantasie. Es ist ein nichtexistenter Ort, den es nur deshalb gibt, weil er als ein Gegenbild zu Indien dient. Er glaubt, ihm alle möglichen Eigenschaften zuschreiben zu können, nur weil es seiner Einbildungskraft so gefällt.

In Wahrheit spielt der Begriff Säkularismus kaum eine Rolle für das politische Vokabular in den meisten europäischen, überhaupt in den meisten westlichen Gesellschaften. Selbst heutzutage spricht niemand in der politischen Sphäre Großbritanniens, Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Spaniens oder Portugals von Säkularismus, und genauso ist es in den Vereinigten Staaten, in Argentinien oder Brasilien. Weder Tony Blair noch Margaret Thatcher haben jemals, soweit ich mich erinnere, das Wort in einer Rede benutzt. Die einzigen Europäer, die einen ähnlichen Begriff gebrauchen, sind die Franzosen mit ihrer Idee der „laïcité“. Aber bei den Franzosen soll dieser Begriff nicht zwischen den verschiedenen Religionen vermitteln. Vielmehr hat er damit zu tun, dass sich der Staat während der Französischen Revolution von einer bestimmten Religion trennte, nämlich vom Katholizismus, was schließlich im Jahr 1905 gesetzlich verankert wurde. Doch das ist nicht gleichbedeutend mit Säkularismus. Die Europäer sprechen eher von Säkularisierung, doch damit bezeichnen sie einfach die Abwendung von der Religion, wofür etwa die Tatsache steht, dass die Kirchen immer weniger besucht werden. Und die Idee des Säkularismus, wie sie im 19. Jahrhundert in Großbritannien von George Holyoake und Charles Bradlaugh vertreten wurde, konzentrierte sich vor allem darauf, eine rationalistische Erziehung statt einer Erziehung auf religiösen Schulen zu propagieren.

Es ist daher ein gründlicher Irrtum zu glauben, Säkularismus sei ein üblicher politischer Begriff im Westen, der einfach als eine „importierte Idee“ auf Indien übertragen wurde. In Wirklichkeit hat dieser Begriff in Indien ein politisches Gewicht gewonnen, das er im Westen niemals besaß, und er hat in Indien eine zentrale Bedeutung erhalten, die die meisten Europäer gar nicht verstehen würden. Säkularismus ist längst ein indischer Begriff geworden.

Nachdem dies klargestellt wurde, kann man Nandy in einem anderen Punkt nur zustimmen: Er hat Recht, wenn er fordert, nach solchen Traditionen und politischen Konzepten Ausschau zu halten, die seit langem in Indien Toleranz hervorbringen. Aber zugleich wünscht man sich, er hätte selbst praktiziert, was er hier predigt. Nandy hat sich nie eingehender mit der indischen Geschichte beschäftigt. Er hat einfach keine Vorstellung davon, wie das Leben vor der Kolonialherrschaft war, wie die Menschen in Indien damals dachten und schrieben. Fragt man ihn nach Einzelheiten, verweist er auf das Ramayana und das Mahabharata, als ob diese nationalen Epen der Inder die Summe der indischen Geschichte umfassen würden. Nandys Kenntnis der Kolonialgeschichte beschränkt sich auf die Briten selbst und auf einige bengalische Autoren, die unter der Kolonialherrschaft lebten. Was für intellektuelle Quellen sind das, wenn nicht solche, die die „dominierende koloniale Kultur der indischen Meinungsindustrie“ widerspiegeln? Nandy hat kein einziges Werk aus dem 16. oder 17. Jahrhundert gelesen, er hat nicht einmal Autoren gelesen, die über solche alten Texte schreiben.

Um ein großer Denker zu sein, muss man sich wohl eine gewisse Unwissenheit und Unschuld bewahren, um dann wie Nandy vergnügt behaupten zu können, in Indien haben es vor der Kolonialherrschaft keine Historiker gegeben. Scheinbar kam Abu’l Fasl dann vom Mars. Und Nandy zeigt sich von seiner schlechtesten Seite, wenn er versucht, auf pompöse Weise Ratschläge zu erteilen. Er will, dass andere von dem Konzept der convivencia lernen, das scheinbar im mittelalterlichen islamischen Spanien existierte. Aber hat jemals im islamischen Spanien jemand diesen Begriff benutzt? So weit ich weiß – und anders als Nandy habe ich über die spanische Geschichte in dieser Epoche gearbeitet –, hat niemand das getan. Diese Idee wurde vielmehr von modernen, romantischen Historikern aufgebracht, die es auf eine frühere Epoche Spaniens anwendeten, und es ist daher für Spanien genauso wenig ein einheimischer Begriff wie Säkularismus für das Indien der Mogule.

Auch die Vorstellung, das Spanien jener Zeit sei „das einzige wirklich pluralistische politische Gebilde“ gewesen, das Europa in den letzten tausend Jahren hervorgebracht habe, ist nur ein weiteres Beispiel für schlechte Wissenschaft. Es handelt sich hier um einen Fall von Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter.

Darum sollte Nandy vielleicht über das Umsichgreifen „obszöner Arroganz“ nachdenken und erst einmal seine Hausaufgaben machen, bevor er anderen Lehren erteilt. Wenn er das tut, dann wird er, dessen bin ich mir sicher, viele Beispiele für Toleranz finden, und das nicht nur in den Dörfern, wie es seine allmählich ermüdende populistische Rhetorik einen Glauben machen will, sondern auch in anderen Teilen der indischen Gesellschaft, in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart. Doch das würde erst einmal harte Arbeit voraussetzen, und nicht diese intellektuellen Kurzschlüsse, die in „indigenistischen“ Kreisen so verbreitet sind.

Und es könnte auch bedeuten, sich eingestehen zu müssen, dass Nandy – mit seiner romantischen Feier der hinduistischen Vergangenheit Indiens, mit seiner Sehnsucht nach der „Reinheit“ der Eingeborenen, mit seiner Mythenbildung über ein unhistorisches Europa und mit seiner Nähe zur weinerlichen romantischen Tradition der so genannten bengalischen Renaissance – der einzige koloniale Denker ist, den wir heute noch haben. Er mag ein kolonialer Romantiker sein, aber das macht sein Denken nicht weniger kolonial.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2005, S. 64 - 69.

Teilen