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01. Juli 2006

Russlands Wirtschaftsentwicklung

Abhängig vom Ölpreis oder von der staatlichen Politik?

Die russische Wirtschaft befindet sich seit 1999 in einem
Aufschwung, der allerdings stark vom Ölpreis gesteuert und
damit instabil ist. Die Wachstumsaussichten werden von der
demographischen Entwicklung, der Verbesserung der Infrastruktur sowie
davon beeinflusst werden, ob die in einigen Branchen zu beobachtende
Renationalisierung wirtschaftlichen Erfolg haben wird.

Seit 1999 liegen die jährlichen Zuwachsraten des russischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen fünf und zehn Prozent. Zwar ist das gesamtwirtschaftliche Wachstum 2005 etwas geringer als 2004 ausgefallen und für 2006 wird eine weitere Abschwächung erwartet, doch liegen die Wachstumsraten gegenwärtig immer noch in einer Größenordnung, die eine Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts innerhalb von 15 Jahren zur Folge hat.

Präsident Wladimir Putins Vision von einem „Einholen Portugals“ (gemeint ist das Gleichziehen mit dessen Pro-Kopf-Einkommen) ist bei einer Fortsetzung der positiven Wirtschaftsentwicklung durchaus realistisch, auch wenn dieses Ziel nicht in der von ihm gewünschten Frist von zehn Jahren erreichbar sein wird.

Ein wenig wurde dieses positive Bild allerdings durch die schwache Entwicklung der Industrieproduktion getrübt, deren Zuwachsrate sich 2005 gegenüber 2004 von acht auf vier Prozent halbiert hat. Dies lag vor allem daran, dass Russlands Förderung von Erdöl und Erdgas 2005 nahezu stagnierte, obwohl Energierohstoffe weltweit sehr gefragt waren. Die Gründe für das schwache Abschneiden des russischen Energiesektors im Jahr 2005 waren hausgemacht. In Russlands Ölsektor hatte die Zerschlagung des Yukos-Konzerns und seine Eingliederung in die staatliche Rosneft Produktionsverluste zur Folge, während im Gasbereich der seit Jahren andauernde Förderabfall in den westsibirischen Hauptfördergebieten durch die Produktions-aufnahme in neuen Vorkommen nur knapp ausgeglichen werden konnte.

Weil jedoch 2005 die Öl- und Gaspreise neue Rekordhöhen erreichten, hatte das stockende Produktionswachstum bei Erdöl und Erdgas keine negativen Auswirkungen auf die Unternehmensergebnisse und die monetären Ströme in der Volkswirtschaft: Die privaten Gewinne und Arbeitseinkommen sowie die staatlichen Budgeteinnahmen profitierten von den steigenden Erlösen auf den Exportmärkten. Dass der russische Wirtschaftsaufschwung seit Anfang des Jahrzehnts überwiegend von der Ölpreisentwicklung beeinflusst ist, zeigt ein Vergleich der Schaubilder 1 und 2:

Der steigende Ölpreis sowie der an ihn gekoppelte Preis für Erdgasexporte auf den europäischen Markt wirken sich als „Lokomotiven“ der Wirtschafts-entwicklung aus, die andere Sektoren mit sich ziehen. Allerdings hat der Exportboom auch Schattenseiten. Die anhaltend hohen Außenhandelsüberschüsse führen zur Aufwertung des Rubels. Dadurch werden Exporte (außerhalb der durch steigende Exportpreise begünstigten Rohstoffwirtschaft) erschwert und Importe sowohl von Konsum- als auch Investitionsgütern begünstigt. Das in vielen Rohstoffexportländern auftretende Phänomen der „Holländischen Krankheit“ florierender Rohstoffsektoren bei gleichzeitig unter Preisdruck leidenden verarbeitenden Industrien macht sich auch in Russland bemerkbar. Ein weiterhin hoher oder sogar noch steigender Erdölpreis wird sich daher in Russland auch in Zukunft teilweise positiv, teilweise negativ auswirken.

Auf jeden Fall führt die Abhängigkeit vom Ölpreis zu einer Unbeständigkeit der Wachstumsraten von Produktion und Investitionen. Dies zeigte sich bereits in den Jahren 1999 bis 2005, als sich die Schwankungen des Ölpreises in entsprechenden Wachstumszyklen der russischen Wirtschaft niederschlugen. Noch wichtiger als die Stetigkeit des Wirtschaftswachstums ist jedoch, in welcher Größenordnung die Wachstumsraten künftig liegen werden.

Langfristige Wirtschaftsaussichten

Über die längerfristige Wirtschaftsentwicklung gehen die Meinungen stark auseinander. Das russische Wirtschaftsministerium prognostiziert – je nach Entwicklung des Ölpreises und in Abhängigkeit von einer mehr oder weniger „innovativen“ Wirtschaftspolitik – anhaltend hohes Wirtschaftswachstum im Bereich von fünf bis sieben Prozent pro Jahr bis 2015. Die Londoner „Economist Intelligence Unit“ ist dagegen wesentlich pessimistischer und sagt mittelfristig einen Rückgang der Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts auf drei Prozent voraus. Verantwortlich dafür seien kurzfristig schwer zu beeinflussende Faktoren wie die demographische Situation, Mängel der Infrastruktur sowie staatliche Interventionen in die Wirtschaft, darunter Schritte zur Verstaatlichung (Renationalisierung) von Unternehmen.

Die bestehenden Mängel der Infrastruktur auf den Gebieten des Transportsystems sowie der kommunalen Versorgungssysteme ließen sich, allerdings nicht kurzfristig, durch entsprechende Investitionsprogramme beheben. Sie müssten vom Staat wie auch von der Privatwirtschaft durchgeführt und finanziert werden, begleitet von einer Privatisierung bisheriger kommunaler Dienstleistungen. Dagegen stellen die negativen Entwicklungen im Bevölkerungsaufbau für Russland eine Herausforderung dar, auf die geeignete Antworten noch weitgehend fehlen.

Wachstumshemmnis Demographie

Die demographischen Trends in Russland hat die Weltbank in einer Studie eindringlich wie folgt beschrieben (siehe Tabelle 2): In Russland führen nicht nur abnehmende Geburtenraten, sondern vor allem eine extrem hohe Sterblichkeit in mittleren Jahrgängen zur Überalterung der Bevölkerung und deren stetigem Rückgang. Besonders auffällig ist im internationalen Vergleich die hohe Sterbenswahrscheinlichkeit der männlichen Bevölkerung zwischen 15 und 60 Jahren, die mit 42 Prozent mehr als dreimal so hoch ist wie in westlichen Ländern. Häufigste Todesursachen sind Herz- und Kreislauferkrankungen, wofür in erster Linie eine ungesunde Ernährung, Alkohol- und Nikotinkonsum verantwortlich sind.

Präsident Putin nannte das demographische Problem in seiner Jahresbotschaft 2005 das „drängendste des gegenwärtigen Russlands“ und verlangte Gegenmaßnahmen, die zur Senkung der Sterblichkeit und zur Erhöhung der Geburtenhäufigkeit führen; zudem mahnte er eine „effektive“ Migrationspolitik an. Einige wenige Lichtblicke konnte er bereits erkennen: Erste Schritte zur Erhöhung der Straßenverkehrssicherheit seien eingeleitet, ein Rückgang der Kindersterblichkeit sei zu beobachten und teilweise auf die Verbesserung der sozialen Lage zurückzuführen. Das „Nationale Projekt Gesundheit“ werde seiner Meinung nach ebenfalls einen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten. Ziel der Einwanderungspolitik solle die Rückkehr der Auslandsrussen (gemeint sind die Russen in den GUS-Staaten) sein. Gleichwohl ist kaum anzunehmen, dass all dies den Bevölkerungsrückgang aufhalten wird. Dieser könnte das langfristige Wirtschaftswachstum tatsächlich hemmen.

Kann Renationalisierung das Wirtschaftswachstum fördern?

Russlands Bruttoinlandsprodukt wird zu etwa zwei Dritteln im privaten Bereich (einschließlich der informellen Wirtschaft) erzeugt; nur ein Drittel entfällt auf die Wertschöpfung des Staates und staatlicher Betriebe. Dieses Verhältnis besteht auch in der Energiewirtschaft. Gerade im Energiebereich erregten allerdings seit 2003 Übernahmen privater Betriebe durch Staatsunternehmen Aufsehen und ließen im Westen Befürchtungen über eine Renationalisierungswelle laut werden. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit standen die Zerschlagung von Michail Chodorkowskis Ölkonzern Yukos und die Übernahme des Yukos-Hauptbetriebs Juganskneftegas durch die staatliche Rosneft sowie der Kauf der dem Oligarchen Roman Abramowitsch gehörenden Ölfirma Sibneft durch die halbstaatliche Gazprom. In beiden Fällen wurde die Finanzkraft der beteiligten Staatsunternehmen erheblich strapaziert, was die Wachstumsraten der Öl- und Gasförderung 2005 gegenüber 2004 verminderte. Vorangegangen war 2003 bereits der Kauf von Severnajaneft durch Rosneft, den Chodorkowski in Gegenwart Putins mit Korruption in Zusammenhang gebracht hatte, was zu einem der Auslöser der Kampagne gegen ihn wurde.

Ob ein stärkerer staatlicher Einfluss im Energiesektor volkswirtschaftlichen Nutzen bringt, ist unklar. Beim Förderwachstum fallen jedenfalls die Staatsunternehmen Rosneft und Gazprom hinter ihren privaten Konkurrenten zurück und gelten als vergleichsweise intransparent. Dabei ist anzumerken, dass der russische Staat – im Unterschied zu den meisten OPEC-Ländern – kein reines Staatseigentum im Energiesektor anstrebt, sondern sich mit einer Mehrheit an den führenden Unternehmen begnügen will. Was der Kreml allerdings auf keinen Fall zugestehen will, sind Mehrheitsbeteiligungen ausländischer Firmen an russischen Energieunternehmen. Daher wurde einerseits der von Chodorkowski geplante Verkauf des Yukos-Konzerns an westliche Ölfirmen verhindert, die 13 Milliarden Dollar teure Auszahlung von Roman Abramowitsch (der seither in England lebt) durch das Staatsunternehmen Gazprom aber gebilligt.

Im rüstungsnahen Bereich sind Verstaatlichungstendenzen unverkennbar. Der bislang private russische Titanproduzent VSMPO Avisma, der ein Drittel des Weltmarktbedarfs deckt, befürchtet eine Übernahme durch den staat-lichen Waffenhandelskonzern Rosoboronexport, weil seine Produktion als strategisch wichtig angesehen wird. Zwei große Maschinenbaubetriebe gingen bereits 2005 in halbstaatliche Hände über. Der Oligarch Kacha Bendukidze übereignete, nachdem er georgischer Wirtschaftsminister geworden war, seinen Anteil an den Vereinigten Maschinenbaubetrieben (ehemals Uralmasch) an die Gazprombank. Wladimir Potanin, ebenfalls ein Oligarch der ersten Stunde, verkaufte seinen 22-Prozent-Anteil an dem Energiemaschinenbauer Kraftmaschinen statt an Siemens an den russischen Stromkonzern Vereinigte Energiesysteme (UES). Beide Transaktionen entsprachen Wünschen des Kremls und bedeuten die Eingliederung erfolgreicher Unternehmen in branchenfremde, aber staatlich beeinflusste Strukturen.

Es gibt jedoch auch Beispiele für Teilverstaatlichungen, bei denen ein ökonomisches Motiv überwiegt. Im Kraftfahrzeugsektor wurde der kränkelnde Automobilbauer AvtoVAZ (Togliatti) in den Staatsbetrieb Rosoboronexport eingegliedert, und die Rede ist auch vom Zusammenschluss der beiden verbleibenden größeren Autoproduzenten, der Pkw-Firma GAZ (Nischny Nowgorod) und des Lkw-Bauers KamAZ (Nabereschhnye Tschelny) unter dem Dach von Rosoboronexport. Es wird angestrebt, der immer stärker werdenden Auslandskonkurrenz und ihren russischen Niederlassungen einen wettbewerbsfähigen großen russischen Autoproduzenten gegenüberzustellen – ob dies Erfolg haben wird, wird erst die Zukunft zeigen. Beim Flugzeugbau beginnt 2006 der Zusammenschluß der staatlichen und privaten Flugzeugbetriebe unter dem Dach der Vereinigten Flugzeugbau-Gesellschaft (OAK), die sich zu drei Vierteln in Staatsbesitz befinden soll. Damit werden nicht nur die finanziellen und personellen Kapazitäten der unter Auftragsmangel leidenden Branche gebündelt, sondern daraus kann auch ein Partner für die europäische Luftfahrtindustrie entstehen.

Russland als Energiemacht: Erpressungspotenzial gegenüber Europa?

Im Zusammenhang mit dem ukrainisch-russischen Gasstreit, aber auch hervorgerufen durch Russlands Selbstpositionierung als Energie-Supermacht, wurden Befürchtungen laut, Russland könne seine Angebotsmacht benutzen, um politische Ziele – etwa die Konservierung bzw. Wiedergewinnung seiner Vormachtstellung im postsowjetischen Raum – durchzusetzen. Während der russische Anteil an den europäischen Erdölimporten rund ein Drittel beträgt, kommen aus Russland rund zwei Drittel des Erdgases, das Europa von außerhalb seines Territoriums bezieht.1 Das „Erpressungspotenzial“ könnte daher vor allem gegenüber den europäischen Gasabnehmern bestehen.

Gegen diese Möglichkeit spricht allerdings der Umstand, dass Russland seine Energieträger fast ausschließlich nach Europa liefert und daher auf seine europäischen Abnehmer noch mehr angewiesen ist, als diese von Russland abhängen. Bestenfalls kann man von einer hohen gegenseitigen numerischen Abhängigkeit sprechen, deren Umsetzung in politische Handlungsmacht für beide Seiten kaum möglich ist. Weder kann Russland gegenüber seinen Hauptkunden seinen Ruf als verlässlicher Lieferant aufs Spiel setzen, noch haben die Abnehmer ihrerseits ein „Boykottpotenzial“, das sie etwa zur Erzwingung demokratischer Verhältnisse in Russland einsetzen könnten. Daraus erklärt sich auch, dass die Handelsbeziehungen zwischen der Sowjetunion bzw. Russland und den europäischen Kunden in Zeiten des Kalten Krieges von politischen Entwicklungen unberührt vor sich gingen. Auch der „Gaskrieg“ zwischen der Ukraine und Russland fügt sich in dieses Bild ein, denn die russische Seite musste sich nach wenigen Tagen zu einem Kompromiss bereit finden, weil es auf Grund ukrainischer Gasentnahmen aus den nach Westeuropa führenden Fernpipelines dort zu einem Druckabfall gekommen war.2

Eine Betrachtung des russischen Angebotspotenzials bei Erdgas zeigt auf, dass die Energie-Großmacht Russland, anders als es scheint, nicht auf sehr festen Beinen steht.3 Die Gasförderung der halbstaatlichen Gazprom, die vom Kreml als Instrument seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik ausersehen ist und der die größten Gaslagerstätten Russlands übertragen wurden, wird bis 2020 nur noch wenig zunehmen. Dies liegt daran, dass die größten, in Westsibirien gelegenen Gasfelder in Russland schon seit Jahrzehnten ausgebeutet werden und sich in der Phase des Förderniedergangs befinden. Auch wenn ab 2010 die ebenfalls großen Vorkommen auf der Jamal-Halbinsel und in der Barentssee ihre Förderung aufnehmen werden, kann dadurch zwar der Förderniedergang der westsibirischen Gigantenfelder ausgeglichen, aber kein spektakulärer Förderzuwachs erzielt werden. Anders sieht es mit der Gasförderung der Ölgesellschaften und unabhängigen Gasunternehmen aus. Sie werden, wenn der ihre Rentabilität hemmende niedrige Inlandspreis für Erdgas entsprechend angehoben wird, ihre Förderung erheblich ausweiten können. Mit ihrer Hilfe könnte zwischen 2005 und 2020 ein Zuwachs der Gasförderung von knapp zwei Prozent pro Jahr erreicht werden. Um jedoch eine Steigerung des Gasexports zu erzielen, die für die geplanten Exporte nach China/Südostasien und in die USA ausreicht, muss außerdem der Gasexport aus Zentralasien nach Russland erheblich ansteigen. Dies wiederum setzt voraus, dass Turkmenistan seine Vertragsverpflichtungen gegenüber Russland einhält und die von ihm ebenfalls angestrebten Exportalternativen Richtung China und Pakistan/Indien nicht realisiert.

Neben der Unsicherheit über die Zuverlässigkeit Turkmenistans als Geschäftspartner stellt der russische Binnenverbrauch die zweite problematische Größe dar. Gemäß der russischen Energiestrategie soll der Inlandsverbrauch nur mit 1,3 Prozent pro Jahr zunehmen und somit deutlich geringer anwachsen als das Bruttoinlandsprodukt. Ob es zu der geplanten Effizienzsteigerung vor allem bei der Stromerzeugung kommen wird, hängt aber wesentlich von der zukünftigen Preisentwicklung für auf den Binnenmarkt geliefertes Erdgas ab. Da mehr als zwei Drittel der russischen Erdgasförderung im Inland verbraucht werden, bieten Maßnahmen der Energieeffizienz und Energieeinsparung ein weites Betätigungsfeld, darunter auch für westliche Firmen – aber nur, wenn sie von einer entsprechenden Preispolitik gestützt werden. Eine deutliche Begrenzung des Wachstums des russischen Binnenverbrauchs von Erdgas (oder sogar seine Senkung) könnte die absehbare Verzögerung der großen Erschließungsvorhaben im Hohen Norden Russlands ausgleichen und Befürchtungen über eine sich abzeichnende „Gaslücke“ gegenstandslos machen (siehe auch den Beitrag von Alexej Miller, S. 32–35).

Könnte, wie befürchtet wird, Russland einen erheblichen Teil seiner Erdöl- und Erdgasexporte von Europa weg nach Asien lenken und somit die europäischen Abnehmer unter Druck setzen und gleichzeitig seine strategische Partnerschaft mit China energiepolitisch untermauern? Dagegen spricht, dass die russischen Öl- und Gaspipelines aus den in Westsibirien und Westrussland gelegenen Hauptfördergebieten nach Westen führen, während die nach Osten weisenden Pipelineprojekte erst seit 2005 mit einer Ölpipeline Richtung Pazifik-Küste langsam in Gang kommen.

Bei Erdgas sind die Lieferbeziehungen bis auf weiteres (d.h. bis zur weit-gehenden Ersetzung des Pipelinetransports durch Flüssiggastransport) durch das bestehende Pipelinenetz festgelegt, das in Westrichtung von gegenwärtig rund 200 Milliarden m³ bis 2020 voraussichtlich auf rund 300 Milliarden m³ erweitert werden wird. Die Exportkapazität Richtung Osten (China/Pazifik-Küste) muss dagegen erst aufgebaut werden und dürfte 2020 mit rund 100 Milliarden m³ maximal 20 Prozent der gesamten russischen Gasexportkapazität (Pipeline- und Flüssiggas) betragen. Die Exporte in Ostrichtung sollen vorwiegend aus den Öl- und Gasvorkommen Ostsibiriens und des Fernen Ostens gespeist werden. Zum Teil sollen allerdings auch die westsibirischen Felder für die Exporte in Richtung China und Japan herangezogen werden.

Daraus ergibt sich für die russische Energie-Exportpolitik ein gewisser Handlungsspielraum – Öl- und Gasmengen könnten in begrenztem Umfang entweder nach Europa oder nach Ost- und Südostasien geleitet werden.4 Dieser Handlungsspielraum darf aber nicht überschätzt werden. Nicht nur setzen ihm die Pipelinekapazitäten Grenzen, sondern Russlands Gazprom begibt sich mit seinen Exporten Richtung Osten auch in Konkurrenz zu den zentralasiatischen GUS-Staaten Kasachstan und Turkmenistan, die wegen ihrer geringeren Transport- und Förderkosten gegenüber den Lieferungen aus den neu zu erschließenden west- und ostsibirischen Öl- und Gasfeldern im Vorteil sind. Daher werden die östlichen Märkte zumindest aus ökonomischer Sicht für Russland keine dem europäischen Markt überlegene Alternative darstellen. Europa wird auch in Zukunft der dominierende Markt für russische Energieträgerexporte bleiben.

Zwar bringt die russische Seite die „chinesische Karte“ (und auch die Option USA) absichtsvoll ins Spiel, um europäische Vorbehalte gegenüber dem Vordringen russischer Energieunternehmen auf den europäischen Märkten zu überwinden, doch sollten beide Seiten nicht der Vorstellung von einem Nullsummenspiel unterliegen, bei dem es nur Gewinner oder Verlierer geben kann. Vielmehr können beide Seiten erheblich gewinnen, wenn sie sich im Energiebereich zu einer großangelegten Zusammenarbeit auf den Gebieten der Effizienzerhöhung, des Energiesparens, der CO2-Sequestrierung (Abscheidung und Lagerung von Kohlendioxyd) und beim Übergang zu nichtfossilen Brennstoffen bereit finden. Dies wäre gleichzeitig die effektivste Energie- Sicherheitspolitik, die für Europa denkbar ist.

Dr. ROLAND GÖTZ, geb. 1943, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Russland/GUS bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 24‑31

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