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14. Juni 2023

Russlands Versagen

Russlands Krieg in der Ukraine ist für Moskau bisher ganz anders verlaufen als von Putin geplant. Warum? Gründe, warum Moskau in der Ukraine militärisch bislang scheitert.

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Bild: Zerstörter russischer Panzer in der Ukraine
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Der seit über 15 Monaten andauernde Feldzug Russlands in der Ukraine ist für Moskau ein militärisches Desaster. Anstatt in der Anfangsphase des Krieges die Hauptstadt Kiew wie geplant im Handstreich einzunehmen, musste sich die russische Armee schon im April 2022 aufgrund des erbitterten ukrainischen Widerstands nicht nur aus den Außenbezirken wieder zurückziehen, sondern hattee gleich die gesamte Region zu räumen. Im Herbst 2022 eroberte die Ukraine in einer überraschenden Offensive schließlich große Teile der Oblasten Charkiw im Norden und Cherson im Süden zurück. Bis Ende Mai 2023 zerstörten, beschädigten oder erbeuteten die ukrainischen Truppen über 2000 russische Kampf- und mehr als 3500 Schützenpanzer.

 

Viel schwerer wiegen für Russland die Verluste von rund 43.000 getöteten und 145.000 bis 180.000 verwundeten Soldaten. Zum Vergleich: In Afghanistan beklagte die Sowjetunion in zehn Jahren Krieg rund 15.000 gefallene und 35.000 bis 50.000 verletzte Soldaten. Warum konnte Russland die Ukraine bisher militärisch nicht bezwingen?

Ineffiziente Planung

Um zu verstehen, wie gerade Russlands ineffiziente Planung des Feldzugs seine militärischen Fähigkeiten und anfänglichen strategischen Vorteile zunichte machte, ist es hilfreich, sich vor Augen zu führen, wie die Invasion in der Ukraine verlaufen wäre, wenn Moskau wirklich seiner Militärstrategie gefolgt wäre. Nach der russischen Doktrin soll ein zwischenstaatlicher Krieg zwischen zwei (fast) gleichwertigen Gegnern mit wochenlangen Luft- und Raketenangriffen auf die feindlichen Truppen, Militäreinrichtungen und die kritische Infrastruktur beginnen. Russlands Armee betrachtet diese Phase als die entscheidende in der Kriegsführung, in der die Operationen der Luftstreitkräfte und die Raketenangriffe zwischen vier und sechs Wochen dauern, um die militärischen Fähigkeiten und die Widerstandskraft des Gegners zu schwächen. Bodentruppen werden in der Regel erst dann eingesetzt.

Die russischen Luftstreitkräfte sind zu Beginn der Invasion zwar verstärkt Angriffe auf ukrainische Stellungen geflogen, sie haben aber nicht systematisch kritische Infrastrukturen angegriffen. Möglicherweise glaubte Moskau, dass man die Ukraine schnell niederringen könne und wollte so die Verkehrswege, Einrichtungen und das Stromnetz intakt lassen, um eine schnelle Übernahme des Landes und die Versorgung der Bevölkerung nicht zu gefährden. Russland setzte seine Bodentruppen gleich am ersten Tag in Marsch, anstatt darauf zu warten, die ukrainische Armee insgesamt nachhaltig zu schwächen. Das Ergebnis war für Moskau katastrophal.

Die russischen Einheiten, die sich in schmalen, tiefen Kolonnen teils ohne Flankenschutz beeilen mussten, zu festgelegten Zeiten in bestimmten Gebieten einzutreffen, überforderten ihre Logistik, schützten ihre rückwärtigen Verbindungslinien nicht, wurden von ukrainischen Einheiten auf bestimmten Routen sogar eingeschlossen und anschließend unerbittlich von diesen mit Artillerie und Panzerabwehrwaffen bekämpft. Weil Russlands Bodentruppen innerhalb weniger Tage in große Bedrängnis gerieten, musste sich die eigene Luftwaffe schnell von der Bekämpfung der ukrainischen Flugabwehr und Luftwaffe abwenden und voll auf die direkte Unterstützung der eigenen Truppen konzentrieren. Diese Umstellung trug dazu bei, dass Russland bis heute keine vollständige Luftüberlegenheit erlangen konnte und zwang die russischen Piloten dazu, in niedriger Höhe u.a. in Reichweite der ukrainischen Stinger-Flugabwehrraketen zu fliegen. Die Verluste bei Hubschraubern und Kampfjets schnellten in die Höhe. Bis heute hat Russland mindestens 170 Kampfjets und Kampfhubschrauber verloren.

Überforderte Logistik

Moskau beschloss außerdem, fast alle seiner aktiven Boden- und Luftlandeeinheiten für einen einzigen, mehrachsigen Angriff einzusetzen; das widerspricht der Tradition der russischen Armee, Truppen aus Sibirien und dem Fernen Osten als zweite Staffel oder strategische Reserve vorzuhalten. Mit dem Versuch, mehrere Teile und urbane Zentren der Ukraine gleichzeitig einzunehmen, überforderte Russland seine unflexible, veraltete Logistik. Gezielte Angriffe der ukrainischen Armee auf die überdehnten und ungeschützten Versorgungsrouten sowie die zu nah an der Front befindlichen Depots taten ein Übriges, um den russischen Nachschub für die vorrückenden Einheiten massiv zu behindern. Hätte Russland Tage oder Wochen vor dem Einsatz von Bodentruppen Luft- und Raketenangriffe durchgeführt, entlang einer kleineren Frontlinie angegriffen und größere Reserven vorgehalten, wäre die Invasion vermutlich anders, wenn nicht sogar in Russlands Sinne erfolgreicher verlaufen.

Politische Einmischung

Es ist schwer zu sagen, warum Russland so stark von seiner eigenen Militärdoktrin abgewichen ist. Ein Grund dafür scheint aber offenkundig: die politische Einmischung des Kremls. Die Invasion soll allein vom russischen Präsidenten und seinen engsten Vertrauten in den Nachrichtendiensten, Streitkräften und der Regierung geplant worden sein. Demnach plädierte diese kleine Gruppe Eingeweihter für eine schnelle Invasion an mehreren Fronten, eine rasche Einnahme von Charkiw sowie Kiew, um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj durch ein Attentat oder eine Entführung auszuschalten, sowie den anschließenden Einsatz eines Netzwerks von Kollaborateuren, die eine neue Regierung bilden sollten.

Das war eine zu ambitionierte militärische Planung, die ein größerer, erfahrenerer Kreis von Fachleuten und Logistikern vielleicht für unmöglich gehalten, vermutlich aber massiv infrage gestellt hätte. Die extreme Geheimhaltung ließ es auch nicht zu, die Rüstungsindustrie auf eine erhöhte Produktion von Waffen und Munition vorzubereiten. Selbst nachdem die russischen Einheiten in der Nähe der Ukraine stationiert worden waren, wurden sie deshalb nicht ausreichend versorgt. Auch wurde das seit Monaten für Manöver genutzte Material nicht rechtzeitig gewartet bzw. repariert, weil die Truppenkommandeure in dem Glauben gelassen wurden, die Truppen würden, wenn überhaupt, weiterhin nur Übungen abhalten und danach wieder in ihre Kasernen zurückkehren. In der Folge blieben viele (gepanzerte) Fahrzeuge in den ersten Tagen des Feldzugs wegen fehlender Ersatzteile und Treibstoffe in der Ukraine einfach liegen.

Falsche Annahmen

Der kleine Zirkel von Eingeweihten im Kreml plante eine Invasion, die mit fehlerhaften Annahmen, willkürlichen politischen Vorgaben sowie militärischen Fehlern gespickt war: Die russische Armee wurde in einem auf 10 bis 14 Tage projektierten Feldzug mit mehreren Angriffslinien ohne Nachfolgekräfte an operative Ziele gebunden, die für die Größe der eingesetzten Streitkräfte von rund 180.000 Soldaten offensichtlich zu ehrgeizig waren. Moskau scheint davon ausgegangen zu sein, dass die Ukrainer selbst keinen großen Widerstand leisten, dass sich die ukrainische Armee unter dem russischen Ansturm schnell auflösen und dass der Westen nicht in der Lage sein würde, Kiew rechtzeitig militärisch wie wirtschaftlich zu helfen.

Diese Schlussfolgerungen schienen nicht ganz unberechtigt: Russische Nachrichtendienste führten vor dem Krieg verdeckte Umfragen durch, nach denen nur 48 Prozent der Bevölkerung „bereit“ waren, die Ukraine zu verteidigen. Präsident Selenskyjs Zustimmungsrate lag am Vorabend des Krieges bei unter 30 Prozent. Moskau hatte schon im Vorfeld genügend willfährige Ukrainer rekrutiert, um nach der Einnahme der Hauptstadt Kiew eine neue, mit Russland kollaborierende Regierung einzusetzen. Möglicherweise gingen die russischen Planer auch davon aus, dass die ukrainische Armee gar nicht kampfbereit sei und ihr auch die Artilleriemunition schnell ausgehen würde. Und: Angesichts der Reaktion des Westens auf die russische Annexion der Krim im Jahr 2014 und der relativ geringen Waffenlieferungen im Vorfeld des Angriffs im Jahr 2022 mag Moskau weiter davon ausgegangen sein, dass der Westen die Ukraine gar nicht oder nicht rechtzeitig unterstützen würde.

Der Kreml wertete die Daten wohl so aus, um das Ergebnis zu sehen, was er einfach gerne sehen wollte. Denn die oben genannte Umfrage ergab auch, dass 84 Prozent der ukrainischen Befragten die russischen Streitkräfte als Besatzer und nicht als Befreier ansehen würden. Die USA und ihre Verbündeten breiteten Russlands Pläne und verschiedene Versuche, einen Vorwand für eine Invasion zu schaffen, vor der ganzen Welt aus. Und sie warnten Russland vertraulich und öffentlich, dass das Land enorme Konsequenzen zu erwarten hätte, wenn es einen Krieg beginnen würde. Doch offensichtlich hat niemand aus Präsident Putins innerem Kreis ihn davon überzeugen können, dass er die Planungen grundsätzlich überdenken oder sich auf einen anderen, härteren Konflikt vorbereiten sollte: einen Konflikt, in dem die Ukraine sich wehren und umfangreiche westliche Unterstützung erhalten würde.

Unzureichende Reformen

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Jahr 2022 offenbarte auch, dass die Reformen der russischen Armee in den Jahren zuvor nicht ausreichten, um einen fast gleichwertigen Gegner schnell und ohne große Verluste niederzuringen. Als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach, konnte die neue russische Führung eine Armee mit fünf Millionen Soldaten nicht weiter finanzieren. Die Aussicht auf eine Landschlacht mit der NATO war in weite Ferne gerückt. Als Reaktion darauf begann Russland mit einem Reform- und Modernisierungsprozess. Ziel war es, eine kleinere, professionellere und mobilere Armee zu schaffen, die in der Lage sein sollte, kurze und schnelle Kriege an Russlands Peripherie zu führen.

Dieser Reformprozess setzte sich bis ins Jahr 2008 fort, indem Einheiten aufgelöst, Offiziere in den Ruhestand versetzt, Trainingsprogramme und die militärische Ausbildung überarbeitet und mehr Mittel bereitgestellt wurden, um die Zahl der Berufssoldaten zu erhöhen, die Abhängigkeit von einberufenen Reservisten zu verringern und moderne Waffen zu beschaffen. Im Rahmen dieses Prozesses ersetzte Russland sowjetische Divisionen, die einst für große Landschlachten konzipiert waren, durch weniger schwerfällige Brigaden und taktische Bataillonsgruppen (BTG). Letztere zeigten sich selbst voll besetzt und ausgerüstet nicht in der Lage, auch aufgrund eines konzeptionellen Mangels an Infanterie, lange und intensive Kämpfe an einer ausgedehnten Frontlinie zu führen.

Hinzu kommt, dass viele der in der Ukraine eingesetzten 125 BTGs schon unterbesetzt waren, als sie in die Ukraine einmarschierten. Der grundsätzliche Mangel an Soldaten führte weiter dazu, dass Russlands technisch mittlerweile moderneres und leistungsfähigeres Gerät nicht sein volles Potenzial entfalten konnte. Außerdem verfügte die russische Armee nicht über genügend motorisierte bzw. mechanisierte Infanterie sowie Nachrichtendienst- und Aufklärungskräfte, um ihre Verbindungslinien und Nachschubkonvois in der Ukraine effektiver zu schützen.

Mangelhafte Waffensysteme

Russlands Versuche, modernere Waffen zu bauen und die Ausbildung zu verbessern, führten ersichtlich nicht zu einer höheren militärischen Effizienz auf dem Schlachtfeld. Einige der neuen Waffensysteme weisen erhebliche Mängel auf: Russische Lenkwaffen besitzen eine hohe Ausfallquote und treffen ihre Ziele nicht. Russischen Panzern fehlen aktive bzw. passive Schutzsysteme, was sie sehr anfällig für westliche Panzerabwehrwaffen macht. Außerdem gibt es kaum Hinweise darauf, dass Russland seine Ausbildungsprogramme vor der Invasion im Februar 2022 geändert hat, um seine Truppen auf die Ukraine vorzubereiten. Indem die russische Armee viele Einheiten Anfang September 2021 für das Großmanöver „Sapad“ nahe der ukrainischen Grenze stationierte und das militärische Gerät bei dessen Ende dann vor Ort beließ, konnte die auch nach einem Übungseinsatz notwendige Wartung und Reparatur der benutzten Ausrüstung nicht durchgeführt werden.

Geheimdienstinformationen für die Ukraine

Die USA und andere westliche Länder begannen schon vor der russischen Invasion damit, die Ukraine mit überlebenswichtigen nachrichtendienstlichen Informationen zu versorgen und führen dies bis heute unvermindert fort. Die Weitergabe von Geheimdienstinformationen an die Ukraine war an mehreren Punkten des Krieges entscheidend. Präsident Selenskyj soll von den USA vor dem Krieg über die russischen Angriffsplanungen auf Kiew umfassend informiert worden sein. Die detaillierten Hinweise gaben der Ukraine Zeit, eine Verteidigung vorzubereiten, die für den Schutz der ukrainischen Hauptstadt und der dort ansässigen Regierung unerlässlich war. Der Westen unterstützte auch die Planungen der bereits erwähnten ukrainischen Gegenoffensiven im September bei Charkiw und Cherson, die mit großem militärischem Erfolg abgeschlossen werden konnten.

Einige der wichtigsten Probleme für Russland liegen jedoch weitgehend außerhalb der Kontrolle Moskaus. Die ukrainische Entschlossenheit, sich gegen Russlands Angriffskrieg zur Wehr zu setzen, konnte die russische Armee zum Beispiel trotz ständiger, rücksichtloser und brutalster Raketenangriffe auf die zivile Infrastruktur nicht nachhaltig erschüttern. Russland war auch nicht in der Lage oder nicht willens, westliche Waffenlieferungen oder die Weitergabe von Geheimdienstinformationen an die Ukraine zu unterbinden.

Vorsicht vor zu frühem Urteil

Doch während der Krieg längst in sein zweites Jahr ging und die ukrainische Gegenoffensive begonnen hat, darf sich der Westen nicht nur auf das Versagen Russlands konzentrieren. Dessen militärische Leistungen und Fähigkeiten sind viel differenzierter, als es viele Kriegsberichte vermuten lassen. Die russischen Streitkräfte sind nicht gänzlich inkompetent oder unfähig sich anzupassen und weiterhin in der Lage, auch komplexe Operationen durchzuführen. Die russische Armee hat aus ihren Fehlern gelernt und strategische, wie die Verkleinerung seiner Ziele und die Mobilisierung neuen Personals, sowie taktische Veränderungen vorgenommen, indem sie u.a. ihre Nachschublager weiter nach hinten verlegt hat, außerhalb der Reichweite der ukrainischen HIMARS-Raketenartillerie.

Nur die Zeit wird zeigen, ob die ukrainischen Streitkräfte sich mit ihrer Frühjahrsoffensive militärisch durchsetzen werden und dem Konflikt selbst ein Ende setzen können. Der Krieg hat schon bisher einen unvorhersehbaren Verlauf genommen, allein deshalb sollte der Westen es vermeiden, voreilige Urteile darüber zu fällen, warum Russlands Feldzug bislang so desaströs verlaufen ist – damit man in Zukunft selbst nicht die falschen Lehren zieht, Strategien entwickelt oder Waffensysteme beschafft. Genauso wie der Westen Russlands Fähigkeiten vor der Invasion überschätzt hat, so könnte er sie jetzt unterschätzen. Oder wie es der amerikanische Philosoph George Santayana so treffend formulierte: „Nur die Toten sind sicher; nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen."

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online exklusiv, 14. Juni 2023

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Roger Näbig ist Rechtsanwalt und Journalist in Berlin; er betreibt den Blog „Konflikte & Sicherheit“.

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