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01. Okt. 2002

Russland und die neue Weltordnung

Eine Moskauer Sicht

Russland hat sich eine Nische in der von den USA dominierten Weltordnung geschaffen und nach Überwindung der Konfrontation und Konkurrenz mit den USA seine internationalen Möglichkeiten deutlich erweitert. Doch große Aufgaben warten im Innern des Landes auf ihre Lösung: Russland, so das Fazit des Autors, muss europäischer werden.

So wie der 11. September 2001 die Phase nach dem Kalten Krieg abschloss, beendete er auch die Periode der strategischen Doppeldeutigkeit in der russischen Außenpolitik. Das vergangene Jahrzehnt verbrachten Moskaus Politiker überwiegend damit, über die neue Position und Rolle ihres Landes in der Welt zu reflektieren und zu grübeln. Die Debatte reichte vom Unrealistischen („Management der Welt gemeinsam mit den Vereinigten Staaten“) bis hin zum Schädlichen (die Schaffung antiamerikanischer „Achsen“ oder „Dreiecke“) hinsichtlich Russlands Interessen.

Das Grundproblem dieser Ambivalenz war die unausgesprochene Weigerung der russischen politischen Elite, sich mit Amerikas neuer Vorherrschaft abzufinden. Die Russen waren keineswegs Revanchisten. Geradezu gelassen akzeptierten sie den Zerfall der Sowjetunion und besaßen die Ruhe, diese Entscheidung nicht erneut zu überdenken. Ihre Regierung stellte die neuen Grenzen, die in vielen Fällen Gebiete mit russischer Bevölkerung zerschnitten, niemals in Frage. Moskau ließ zu, dass seine Streitkräfte immer mehr zugrunde gingen, und verwandelte seine Rüstungsindustrie – oder was davon übrig war – zu einem Rüstungslieferanten par excellence für seine asiatischen Nachbarn.

Allerdings fiel es den Eliten und Teilen der Öffentlichkeit schwer, Amerikas Zugewinn an Einfluss zu akzeptieren, obwohl sie in Russlands Verlust sowohl von Status als auch Rolle eingewilligt hatten. Ob auf dem Balkan – zunächst in Bosnien und dann in Kosovo –, in Irak oder bei der NATO-Erweiterung, der Großteil der russischen politischen Klasse empfand die wachsende Vorherrschaft der Vereinigten Staaten zum weltweit einzigen Hegemon als völlig inakzeptabel. Ihrer Ansicht nach stand die neue Weltordnung nicht nur im völligen Gegensatz zu dem unausgesprochenen Geschäft, das den Kalten Krieg beendet hatte; eine „unipolare Welt“ wurde als Bedrohung erkannt, die abgewehrt werden musste.

Angesichts der Erkenntnis, dass die eigenen Mittel für diese Aufgabe zu begrenzt waren, wandelte sich Moskau anfangs zum Multilateralisten. Es befürwortete eine neue gestärkte Rolle für die Vereinten Nationen (UN) und versuchte, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zu einer regionalen Version der UN umzuformen. Als sich diese Bemühungen als fruchtlos erwiesen, griff Russland zu einem traditionelleren geopolitischen Ansatz: Wenn Washington nicht durch zahnlose internationale Organisationen gefesselt werden konnte, würde es durch eine schonungslose Gegenallianz aus den drei Hauptnationen Eurasiens, nämlich China, Indien und Russland, gezügelt werden. Doch es dauerte nicht sehr lange, bis auch diese süße geopolitische Seifenblase platzte.

Moskaus Bellen folgte kein Beißen. Unter Boris Jelzin blieb die regierende Elite im Wesentlichen vernünftig und passte sich, wenn auch widerwillig, allen Entwicklungen an, über die sie die Kontrolle verloren hatte. Als Wladimir Putin auf der Bildfläche erschien, waren die meisten Anpassungen de facto schon vollzogen, doch die Rhetorik blieb gleich. Um diese offensichtliche Schizophrenie zu heilen, wurde kein großer Entwurf benötigt, sondern nur gesunder Realitätssinn. Putin stellte die Außenpolitik, die unsicher auf dem Kopf stand (d.h. Russlands überholtes Selbstbild), wieder zurück auf ihre Füße (d.h. das nationale Interesse).

Sein Ansatz lautet: An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist Russlands Aufgabe Russland und nicht die Welt. Russlands grundsätzliche und dringliche Aufgabe besteht in der Modernisierung, um die Schlusslichter der westlichen Welt einzuholen und somit dem Schicksal eines Dritte-Welt-Landes zu entgehen. In einem globalisierten Umfeld kann die Modernisierung nicht nur durch die Mobilisierung innerer Ressourcen erreicht werden. Westliches Kapital und Technologie sind unentbehrlich. Diese Tatsache hat deutliche Auswirkungen auf die Außenpolitik. Da Russland für immer sein eurasisches Empire und seine Supermachtexklusivität verloren hat, sollte es nun konsequent seine europäische Identität unterstreichen. Und vor allem sollte Russland sich nicht mit den USA anlegen.

Der 11. September 2001 ermöglichte es Putin, auf diesem Weg Meilensprünge zu machen. Plötzlich war er frei, offen die abgenutzte und mit Medaillen behängte Tunika seiner Vorgänger abzulegen und einen erheblich praktischeren Geschäftsanzug anzulegen. Wie Robert Legvold, Professor an der New Yorker Columbia Universität, formulierte, änderte Putin nicht so sehr Moskaus Politik, er veränderte die gesamte Tagesordnung. Die russischen Eliten, zunächst überrascht vom Staatschef, dann erstaunt von seiner Kehrtwendung, stolperten schließlich mit, und die starke öffentliche Unterstützung für den Präsidenten hielt an. Putin hat somit die erste Runde gewonnen.

Der Freund USA

Das Jahr 2001 markierte den unilateralen und endgültigen Rückzug Moskaus von dem Rest Rivalität mit den Vereinigten Staaten. Im Frühjahr desselben Jahres gab der Kreml wirkungsvoll das heilige Prinzip der nuklearen Gleichheit auf, indem er entschied, die russischen strategischen Nuklearstreitkräfte drastisch zu reduzieren und herabzustufen. Im Sommer wurden Pläne verkündet, die beiden verbleibenden Außenposten in Übersee, in Vietnam und  auf Kuba, zu schließen. Im Herbst 2001 ließ Moskau, als es sich auf keinen Wettbewerb mit dem amerikanischen Truppenaufwuchs in Zentralasien und Georgien einließ, die Vorstellung fallen, der postsowjetische Raum sei Russlands exklusives strategisches Einflussgebiet. Im Winter drückte Putin „Bedauern“, aber auch kaum mehr, über die Aufhebung des ABM-Vertrags aus. Die Erweiterung der NATO um die baltischen Staaten wurde als „nicht hilfreich“ bezeichnet, war aber definitiv keinen diplomatischen Streit wert.

Es muss erneut unterstrichen werden, dass all dies wenig damit zu tun hatte, dass Russland sich zähneknirschend dem Unvermeidbaren beugte, als vielmehr mit der grundlegenden Änderung der Tagesordnung. Die formale Anerkennung des Endes der Supermachtbeziehungen und das Herunterspielen der Geopolitik sollten eine Eintrittskarte für ein neues und viel versprechenderes Verhältnis mit den Vereinigten Staaten sein. Ironischerweise bleiben Sicherheitsfragen im Zentrum dieser neuen Agenda. Qualitativ jedoch besteht sie aus einer Reihe völlig neuer Fragen, wie der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und der regionalen Instabilität in Asien. Wie Afghanistan verdeutlicht hat, könnte Russland für die USA ein höchst wertvoller Partner sein – umgekehrt könnten Amerikas Handlungen in der Tat die russische Sicherheit stützen.

Indem er sowohl aus einem weiteren Vorteil Russlands als auch aus Amerikas neuen Ängsten Kapital schlug, hat Putin den USA eine „Energie-Partnerschaft“ angeboten. Dies soll dabei helfen, im Falle politischer Unruhen in Saudi-Arabien den Weltölmarkt zu stabilisieren. Neben der Schaffung einer wesentlichen Grundlage für die aufkeimende freundschaftliche Beziehung zielt Putins Vorstellung auf die Gewinnung westlicher Investitionen und Technologie zur Entwicklung der russischen Ölindustrie. Und ganz allgemein erkennt Russland inzwischen, dass es die Unterstützung der USA braucht, um als Marktwirtschaft behandelt zu werden und um beispielsweise in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen zu werden. Das ultimative Ziel für Russland wäre, genug amerikanische Investitionen anzuziehen, um das politische Verhältnis entscheidend zu stabilisieren. Dies kann allerdings nur durch Russlands inneren Wandel geschehen.

Um mit Putins Worten zu sprechen: Die Asymmetrie in den amerikanisch-russischen Beziehungen ist eine Tatsache, aber „keine Tragödie“. Russland muss sich einfach seiner Zwangsvorstellung von der amerikanischen Macht entledigen und lernen, aus der Zusammenarbeit Nutzen zu ziehen. Jedoch ist Putins Russland, auch wenn es Amerikas Freund ist, nicht zwangsläufig dessen Gefolgsmann. Moskau wird einem amerikanischen Angriff auf Irak nicht im Weg stehen, aber es wird ihn nicht unterstützen. Die russische Regierung würde eine Wiederaufnahme der Inspektionen unterstützen, nicht jedoch einen Regimewechsel. Falls es ihr nicht gelingen sollte, die amerikanische Regierung zu einer Änderung ihrer Haltung zu bewegen, würde sie nach Wegen suchen, um ihre finanziellen und wirtschaftlichen Interessen in Irak zu schützen, auch unter Einsatz ihres Prestiges als Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats. Die russischen und die amerikanischen Ansichten zu Iran haben sich in jüngster Zeit nicht angenähert. Putin scheut sich nicht, den nordkoreanischen Präsidenten, Kim Jong Il, in die Arme zu schließen. Die Regierung von George W. Bush ihrerseits erteilt Moskau in Bezug auf Georgien Ermahnungen und tadelt es (mild) hinsichtlich Tschetschenien. Der Kreml-Chef jedoch hat entdeckt, dass es leichter ist, die russischen Nationalinteressen zu fördern und nicht mit den USA übereinzustimmen (natürlich nur in Grenzen), wenn man offiziell als Freund Amerikas bezeichnet wird.

Europa als Modell

Eines der frühen Opfer von Putins Neuordnung der Prioritäten war die Idee eines speziellen russischen „dritten Weges“ in Politik, Wirtschaft, gesellschaftlichen Werten usw. Für Putin und diejenigen, die seinen Ansatz aktiv unterstützen (darunter die erfolgreichsten Leute in Russland, von den Vorsitzenden der Ölmultis bis zur wachsenden Mittelschicht), gibt es keinen besonderen russischen Weg. Für sie ist Russland im Wesentlichen europäisch, selbst wenn es auf einigen Gebieten rückständig und unterentwickelt ist. Folglich bedeutet Modernisierung in erster Linie Europäisierung. Bei der Integration Russlands mit (nicht in) Europa geht es um das Wie, nicht um das Ob. Russlands „Eintritt in Europa“ heißt nichts anderes als innere Transformation entlang europäischer Leitlinien.

Das Argument für eine Annäherung zwischen Russland und der EU ist nie zuvor stärker gewesen und entsteht aus der inneren Dynamik beider Partner. Die wichtige Unterscheidung liegt darin, dass die Aufgabe für Russland überwiegend innenpolitisch ist, während es bei der EU hauptsächlich um ihre internationale Rolle und ihre Bedeutung als Weltakteur geht. Auf beiden Seiten gibt es grundlegende Probleme – hinsichtlich der „Vertiefung“ (Reform) auf der russischen Seite und in Bezug auf die „Erweiterung“ (Reichweite) auf EU-Seite.

Kaliningrad bietet ein anschauliches Beispiel für den Widerstreit dieser beiden Probleme: Beide Partner sollten ermuntert werden, den anderen dazu zu drängen, jeweils „Wandel“ und „Integration“ zu fördern. Die Anstrengungen sind es wert. Kaliningrad, der Nordwesten Russlands und das Baltikum sind die bestmöglichen Gelegenheiten, Russland bei der Europäisierung zu helfen und somit die Sicherheit und den Wohlstand Europas zu verbessern.

Kaliningrad führt auch zu der allgemeineren Frage nach dem Endergebnis der Beziehungen zwischen der EU und Russland. Angesichts der Tatsache, dass die EU-Mitgliedschaft Russlands in den nächsten 20 Jahren nicht ernsthaft erwogen werden kann, bleibt die Frage nach einem funktionsfähigen Ersatz. Die Russen würden wahrscheinlich eine lose Konstruktion bevorzugen, bestehend aus einer Freihandelszone, einer Energie-Partnerschaft und visumfreien Reisen. Politisch gäbe es einen Konsultationsmechanismus. Auf dem Gebiet der Sicherheit gäbe es gegenseitige Vereinbarungen in weiten Bereichen, von der Verbrechensbekämpfung bis hin zur Friedenserhaltung. Darüber hinaus müsste Russland die Regeln und Prinzipien der EU in seine eigene Gesetzgebung übernehmen, um denen seiner westlichen Nachbarn zu entsprechen.

Die Hauptschwierigkeit der Beziehungen zur EU (im Gegensatz zur Partnerschaft mit den Amerikanern) besteht für Russland im organischen Wesen dieses Engagements, was sich im Wort „Integration“ ausdrückt. Die Werte des Europarats und die Praktiken in Tschetschenien werden weiterhin ernsthafte, sogar grundlegende Probleme sein, gleich wie erfolgreich oder vorteilhaft eine Energie-Partnerschaft sein mag.

Ein ganz besonderes Problem in den Beziehungen zwischen Russland und der EU stellen die westlichen GUS-Staaten Weißrussland, Ukraine und Moldau dar. Obwohl sich die EU nach Osten erweitert, steht das russische Kapital bereit, um die attraktiveren Anlagegüter in den neuen unabhängigen Staaten zu übernehmen. Für einige zeichnet sich schon eine neue Teilung Osteuropas ab. Dennoch haben die russischen Firmen, je mehr sie langfristig denken (was sie zunehmend tun), ein wachsendes Interesse an wirtschaftlichen Reformen vor der Haustür. Im Hinblick auf die politische Souveränität der genannten Nationen ist es wahrscheinlich, dass diese respektiert wird. Selbst im Falle von Weißrussland liegt es im Wesentlichen an den Weißrussen selbst, diese Entscheidung zu treffen. Kürzlich erklärte Putin Alexander Lukaschenko, dass eine „Union“ aus extrem ungleichen Partnern reine Fiktion sei. Im Falle der Ukraine und Moldaus stellt sich die Frage einer Aufnahme durch Russland nicht.

Einige Russen sind der Meinung, dass selbst eine „teilweise“ Integration ihres Landes für die EU zu viel sein könnte – nicht nur, weil Russland zur selben Kategorie der harten Fälle gehört wie die Türkei und die Ukraine. Es ist zudem größer und komplexer. In diesem Fall müssen sich die Russen daran erinnern, dass ihr Land nicht nur die äußerste Grenze Europas ist. In einem mehr als nur geographischen Sinn liegt Russland zwischen (West-)Europa und Amerika. Der Ferne Osten Russlands hat allen Grund dazu, zuerst über den Pazifik zu schauen als in Richtung Atlantik. Es könnte sein, dass sich, von Brüssel aus gesehen, „Europa“ – selbst theoretisch – nur bis zum Ural erstreckt. Dann sollte Russland östlich des Urals nach einer anderen Rangfolge unter seinen hauptsächlichen westlichen Partnern suchen und der Nordamerikanischen Freihandelszone mehr Bedeutung schenken als der EU. Russland als eurasisches Reich gehört der Vergangenheit an. Die Zukunft könnte einem euro-pazifischen Staat Russland gehören. Der Blick nach vorn jedoch erfordert die Regelung der Beziehungen zu China.

Engagement in China

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfuhren die Beziehungen Russlands zu China sogar eine noch dramatischere Umkehr als diejenigen mit den Vereinigten Staaten. Über drei Jahrhunderte hatte sich Russland in der Vorherrschaft befunden – und China im Niedergang. Russland war aktiver, anmaßender und technologisch weiter entwickelt; China passiv und häufig pessimistisch. Noch 1990, ein Jahrzehnt, nachdem sich die Dynamik beider Staaten entscheidend geändert hatte, hatten China und die Sowjetunion etwa das gleiche Bruttoinlandsprodukt. Zwölf Jahre später ist das BIP Chinas vier Mal so hoch und die Kluft wird immer größer. Dies bringt für Russland die Notwendigkeit mit sich, die Asymmetrie im bilateralen Verhältnis zu regeln.

Unter Putin hat das unbeholfene (und unkorrekte) geopolitische Kalkül von Multipolarität einem praktischeren Ansatz den Weg geebnet. Er fußt auf bestimmten Grundsätzen: An der Spitze steht die absolute Priorität guter Nachbarschaft. So wie ausgedehnte Kriege in Europa der Vergangenheit angehören, möchte Russland, dass dies auch für seinen Fernen Osten gilt. Folglich hat Russland ein massives Interesse daran, dass China sich zu einer verantwortungsvollen Status-quo-Macht entwickelt und will es dabei unterstützen. Es schätzt Beijings Bereitschaft, sich für die Stabilität in zwei möglichen Konfliktgebieten nahe der russischen Grenze zu engagieren, nämlich in Zentralasien und Korea.

Um die Beziehungen grundlegend zu stabilisieren, versucht Russland, China in ein Netz interdependenter Wirtschaftsbeziehungen einzubinden. Derzeit helfen die russischen Rüstungsverkäufe und Technologietransfers an die chinesische Volksbefreiungsarmee mit einem jährlichen Wert zwischen einer und 2,5 Milliarden Dollar, die russische Waffenindustrie über Wasser zu halten und bieten Moskau ein Fenster zu Chinas vierter Modernisierung. Zusätzlich hilft der grenzüberschreitende Pendelverkehr mit China bei der wirtschaftlichen Unterstützung der fernöstlichen Regionen Russlands.  Dies ist jedoch kaum Anlass zur Beruhigung. Für die Zukunft hofft Moskau, ein entscheidender Energieversorger für die dynamische chinesische Wirtschaft zu werden. Ebenso arbeitet es daran, einen Fuß in den chinesischen Markt ziviler Güter und Erzeugnisse zu bekommen. In der höchst sensiblen Frage der chinesischen Immigration hat sich Moskau vorsichtig für eine Politik entschieden, die bemüht ist,  die Immigration eher zu regeln als sie zu verhindern.

Die Wende in den Beziehungen Moskaus zu den USA nach dem 11. September hat Beijing ohne brauchbaren Blitzableiter für die Wut Washingtons zurückgelassen. Die Russen müssen nun den Chinesen einschärfen, dass ihre Partnerschaft mit Amerika und ihre Integration mit Europa keine Bedrohung für das Reich der Mitte darstellen. Wenn es irgendetwas gibt, das sie am meisten fürchten sollten, so ist es, in einen amerikanisch-chinesischen Konflikt hineingezogen zu werden.

Innerer Wandel

In den letzten zwölf Monaten hat Russland damit begonnen, sich eine Nische in der von den USA dominierten Weltordnung zu schaffen. Dazu hat Moskau die Außenpolitik – traditionell eine Belastung für den Wohlstand der Nation – in ein Mittel zur inneren Erneuerung und Entwicklung verwandelt. Als Folge begann Russland, eher im Innern zu wachsen als nach außen. Ironischerweise hat Russland, nachdem es endlich die Konfrontation und die Konkurrenz mit den USA überwunden hat, ebenfalls seine internationalen Möglichkeiten deutlich erweitert. Vor ein paar Jahren galt es so gut wie abgeschrieben, als wertloser Ex-Gegner. Nun, als neu gewonnener Freund, zählt es in gewisser Weise in Amerikas geopolitischem, strategischem und auf die Energie bezogenem Kalkül.

Indem es seine europäische Identität wieder geltend machte, hat Russland einen langen und beschwerlichen Prozess der Integration mit der Europäischen Union begonnen. Obwohl sich diese Beziehung auf die Wirtschaft konzentriert, umfasst sie zugleich nahezu alle anderen Bereiche. Diese Art Integration ist eher organisch als institutionell. Sie bedeutet in der Tat inneren Wandel. Für Russland bedeutet europäisch zu sein modern zu sein. In der fernen Zukunft ist eine Assoziation zwischen Russland und der EU wahrscheinlich.

Als Freund Amerikas und Partner Europas  wird Russland nach einer vorhersehbaren, friedlichen und lohnenden Beziehung mit China streben. Aus einer relativ schwachen Position heraus kann es genügend Mittel aufbringen, um ein gewisses Maß an Interdependenz zu erreichen. Im Falle eines zukünftigen amerikanisch-chinesischen Konflikts über Taiwan kann man sich auf Russland, an der Seite  der EU, als eine Kraft zur Vermittlung und Konfliktlösung verlassen.

Putins außenpolitischer Kurs ist grundsätzlich nachhaltig, selbst wenn seine Architekten abrupt von der Szene abtreten würden (was unwahrscheinlich ist). Die Probleme des Präsidenten liegen weniger bei seinen möglichen Kritikern, als bei seinen Gefolgsleuten. Zu wenige können die Aufgaben bewältigen, die ihnen ihr Chef gestellt hat: Der diplomatische Dienst benötigt nicht nur neue Leitlinien, sondern neue Personen, um diese umzusetzen. Das Militär braucht dringend eine radikale Umstrukturierung. Eines teilt Präsident Putin mit Zar Peter dem Großen, den er bewundert: Beide erbten eine nicht mehr reparable Armee. Schließlich muss der Nationale Sicherheitsrat den Präsidenten sowohl konzeptionell als auch administrativ unterstützen; dies ist eine große Aufgabe. Putin verdient alle Anerkennung für den Durchbruch. Dieser war verblüffend, aber noch relativ einfach. Jetzt erst beginnt der schwierige Teil.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2002, S. 12 - 18.

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