Zur Partnerschaft verurteilt: Russland und die NATO
Die Kooperation zwischen Russland und der NATO funktioniert noch lange nicht in allen Bereichen.
Doch die heutigen Probleme resultieren aus der Vergangenheit und können überwunden
werden – so auch die Sorge Moskaus, dass Russland von neuen amerikanischen Stützpunkten in
den baltischen Staaten und Polen eingekreist werden könne. In spätestens 15 Jahren, so der stellvertretende
Direktor des Carnegie-Zentrums in Moskau, werde Russland ein vollwertiger Partner
des Westens sein.
Die Beziehungen zwischen Russland und der NATO kann man
heute zwar als Zusammenarbeit bezeichnen, es ist aber eine
Kooperation, die nur in bestimmten Bereichen funktioniert.
Bestehen bleiben die recht ernsthaften Einwände der
russischen Seite gegen die NATO-Erweiterung und die
mögliche Stationierung von amerikanischen
Streitkräften auf dem Territorium neuer Allianzmitglieder,
unter anderem in den baltischen Staaten und in Polen.
Die gegenwärtigen Beziehungen zwischen Russland und dem
Nordatlantikpakt sind, was Qualität und Niveau angeht, dem
politischen Zusammenwirken Russlands mit dem Westen insgesamt
ziemlich ähnlich. Diese Beziehungen basieren auf einer
realen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit; es gibt keinen
Grund, ihnen eine drastische Verschlechterung oder eine
durchgreifende Verbesserung zu prognostizieren. Was bleibt,
sind gewisse Widersprüche in den Beziehungen zwischen
Russland und der NATO. Mal verringert sich der Argwohn der
beiden Seiten, mal vergrößert er sich, aber als
Faktor ist er nach wie vor vorhanden. Die Ursache liegt vor
allem darin, dass vorerst weder Russland noch das
Nordatlantische Bündnis eine adäquate Form des
Zusammenwirkens gefunden haben. Die Suche danach wird eine der
Hauptsorgen in den nächsten Jahrzehnten sein.
Wahrscheinlich ist diese Aufgabe lösbar: Früher oder
später werden beide Seiten ein Verhältnis geschaffen
haben, in dem sie aufhören, einander als potenzielle
Gegner zu betrachten.
Das größte Problem beim Zusammenwirken Russlands
mit der NATO – eine mögliche Militarisierung der
baltischen Staaten und Polens – kann aller Voraussicht
nach gelöst werden, denn heute gibt es keinen ernsthaften
Grund mehr zu der Annahme, dass die USA darauf abzielen,
Russland mit einem Ring von Militärstützpunkten zu
umgeben. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben keinen
derartigen Plan. Es ist zu vermuten, dass die russischen
Militärs in Zukunft nicht mehr von einer Erhöhung der
Gefahr durch den Westen sprechen werden.
Die Problematik im Hinblick auf den Vertrag über die
konventionellen Streitkräfte in Europa hängt mit der
Politik Russlands in den GUS-Ländern zusammen. Im
Bewusstsein der politischen Elite des Westens wächst das
Gespenst eines „russischen Imperialismus“, das den
Verdacht aufkommen lässt, Moskau bereite sich darauf vor,
die Nachfolgerepubliken der UdSSR zu kontrollieren. Das ist
jedoch ebenso ein Stereotyp, ein Märchen, wie die Annahme
einer Einkreisung Russlands durch neue amerikanische
Stützpunkte. Wenn es Moskau gelingen sollte, seine
legitimen nationalen Interessen in den GUS-Ländern
(Gewährleistung der Sicherheit und der gegenseitig
vorteilhaften wirtschaftlichen Zusammenarbeit) ohne Verletzung
der allgemein gültigen Normen des Völkerrechts zu
verteidigen, so wird es auch in dieser Frage die
Möglichkeit geben, in der Einstellung des Westens zu
Russland auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben.
Probleme zwischen Russland und der NATO wird es
möglicherweise eher dort geben, wo es um Aktionen der USA
geht, bei denen sie das Atlantische Bündnis als Instrument
ihrer Außenpolitik nutzen. Dazu kann man die bereits
erwähnte mögliche Stationierung amerikanischer
Streitkräfte in den baltischen Staaten und in Polen
zählen. Derartige Schritte werden Moskau zweifellos
aufhorchen lassen und dort eine negative Einstellung
hervorrufen.
Die Aktivitäten anderer Mitgliedsländer des
Nordatlantikpakts im militärpolitischen Bereich lösen
hingegen keine besondere Beunruhigung in Moskau aus. Die
bilateralen Beziehungen Russlands auf militärpolitischem
und militärtechnischem Gebiet mit so großen Akteuren
in der europäischen politischen Arena wie Deutschland,
Frankreich und Italien können als vortrefflich bezeichnet
werden; auch die Beziehungen zu Großbritannien weisen ein
hohes Niveau auf.
Wenn einerseits die Vereinigten Staaten im
militärpolitischen Bereich das politische Establishment in
Russland argwöhnisch machen, und andererseits dieser
Argwohn gegenüber den europäischen Mächten nicht
vorhanden ist, so sind die Beziehungen zwischen Russland und
der NATO durch ein selektives Herangehen gekennzeichnet; dieses
Herangehen ist durch den Stand der bilateralen Beziehungen
Russlands zu den Mitgliedstaaten der Allianz bedingt.
Ungeachtet vieler Schwierigkeiten sind Russland und das
Nordatlantische Bündnis recht erfolgreich dabei, den
„georgischen Knoten“ zu lösen. Aber noch Ende
des Jahres 2003 bestanden ernsthafte Befürchtungen
hinsichtlich der Folgen, die die „Rosenrevolution“
in Georgien für die russisch-amerikanischen Beziehungen
haben könnte. Die nächste Etappe besteht in der
Überwindung der Widersprüche, die mit der Ukraine
zusammenhängen. Wenn es beiden Seiten gelingen sollte,
auch diese im Laufe des Jahres 2004 ohne ernsthafte
Zusammenstöße zu bewältigen, ohne die
lebenswichtigen Interessen Russlands zu beeinträchtigen,
so wird dies ein weiterer Schritt zur Festigung der Beziehungen
zwischen Russland und der NATO sein. Zu bewältigen sind
weiterhin die weißrussische und die moldauische Etappe.
Dies ist eine enorme Aufgabe, deren Vollendung erst durch ein
enges und konstruktives Zusammenwirken zwischen beiden Seiten
möglich sein dürfte.
Die aufgezählten Probleme sind jedoch Probleme der
Vergangenheit, ein Erbe des Zerfalls der Sowjetunion. Die
Entwicklung unserer Tage wird bestimmt durch den „Greater
Middle East“, und die künftige Entwicklung von
Morgen wird von der Situation in Ostasien abhängen –
darauf müssen Russland und die NATO ihre Aufmerksamkeit
richten.
Im Hinblick auf die kurzfristige Perspektive der Beziehungen
zwischen beiden Seiten lässt sich voraussagen, dass sich
Russland in der zweiten Amtszeit Wladimir Putins kaum als
assoziiertes Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses
betrachten wird. Zugleich werden beide Seiten auf Gebieten wie
Friedensaktivitäten, Raketenabwehrsystemen und in einigen
anderen Bereichen, die als nützlich und aussichtsreich
betrachtet werden, real zusammenarbeiten.
Es ist auch anzunehmen, dass sich für Russland in den
nächsten 15 bis 20 Jahren die Chance bieten wird, als
gewichtigerer Partner sowohl der NATO als auch der
Europäischen Union aufzutreten. Ein modernisiertes und
ökonomisch erstarktes Russland mit modernen, effektiven
und funktionalen Streitkräften könnte in einer ganzen
Reihe von Regionen Eurasiens mit der NATO auf einem
höheren Niveau zusammenarbeiten. Überdies wird
Russland in 10 bis 15 Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach
insgesamt zu einem vollwertigen Partner für den Westen
werden, dessen Einstellung sich dann ändern dürfte.
Nicht weniger wichtig ist, dass sich in Russland selbst die
Einstellung zum Westen verbessern wird; diese Entwicklung
bietet eine gute Perspektive.
Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 48-50
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