Buchkritik

24. Juni 2024

Russland: Gewalt als Klammer

Welche Rolle spielt der gesellschaftliche Wertewandel, wenn die Regierung eines Landes ihre Bevölkerung darauf einschwören will, ein anderes Land mit Krieg zu überziehen? Neue Bücher zu Chauvinismus, Nationalismus und Militarismus in Putins Russland. 

Bild
Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

 

Seit Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hat, werden zwei Fragen intensiv diskutiert: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen, und wie verändert er nicht nur die Welt, sondern auch den Aggressor selbst? 

Dass der Krieg eine autoritäre Vorgeschichte hat und eng mit der Machtübernahme Wladimir Putins im Jahr 2000 verbunden ist, dürfte unstrittig sein. Nicht nur, weil die Bedeutung der russischen Geheimdienste an den Schaltstellen der Macht wuchs, sondern auch, weil Eliten fortan eine immer größere Rolle spielten, die Russland in einer imperialen Tradition sehen. 

Gleichzeitig setzte im Land ein Wertewandel ein – Gewalt, Menschenverachtung und die zentrale Rolle des autoritären Staates standen nun im Zentrum der Politik des Kremls. Dadurch wurde eine Militarisierung des russischen Staates und der Gesellschaft befördert; eine Entwicklung, die durch die ­Invasion in der Ukraine nochmal einen Schub bekommen hat. 

Ein erhellendes Buch über russischen Chauvinismus in diesem Kontext hat Sabine Fischer vorgelegt, Osteuropa- und Russlandspezialistin der Stiftung Wissenschaft und Politik. Aus feministischer Perspektive analysiert Sabine Fischer den Zusammenhang zwischen den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland und der entfesselten Gewalt, der Moskaus Krieg gegen die Ukraine kennzeichnet.

Gewalt, so Sabine Fischers zentrale These, ist die Klammer des Systems Putin. Unter Putin beobachtet die Autorin die Entwicklung eines aggressiven Männlichkeitskults, der offen ausgelebten Sexismus befördert und zur Norm macht. Im Zusammenspiel von Nationalismus, Sexismus und Autokratie sieht Fischer die Grundelemente, die das unter Putin entstandene System ausmachen und den aktuellen russischen Chauvinismus definieren. Aus einer feministischen Perspektive argumentiert die Autorin, dass die allgemeine politische Ordnung von der Geschlechterordnung geformt werde. Besseres Regieren sei nicht möglich, solange Frauen unterdrückt würden. Doch genau das geschieht heute in Russland – durch Gesetzesveränderungen und durch die Tolerierung einer wachsenden Gewalt gegenüber Frauen durch den Staat.

Wo, wie in Russland, nationalistische Identifikation mit einer männlichen Führungsfigur im Zentrum des politischen Denkens steht, gibt es keinen Platz für Gewaltenteilung, demokratischen Pluralismus oder eine diverse und partizipative Gesellschaft. Für die Autorin ist damit eine Systemrivalität zwischen Autokratie und Demokratie verbunden: Russlands Autokratie steht in einer imperialen Tradi­tion und versucht mit einer natio­nalistischen und gewalttätigen Politik, die demokratischen und europäischen Ambitionen der Ukraine zu verhindern. 

Damit folgt Fischer einem liberalen Blick auf die russische Politik und deren chauvinistische Ausprägung. Sie widerspricht der realistischen politikwissenschaftlichen Schule und deren Ansatz, dass die Ukraine nur ein Objekt von Mächtepolitik sei. Wichtiger sind aus ihrer Sicht die progressiven gesellschaftlichen Entwicklungen in Ländern wie der Ukraine, Belarus und Georgien. Russlands Führung möchte in diesen Ländern eine Öffnung der Gesellschaft und Demokratisierung aufhalten – und auch in Russland selbst sieht Putin einen solchen gesellschaftlichen Wandel als Bedrohung seiner Macht.

Hier markieren die Massendemonstrationen gegen Putins Wiederwahl zum Präsidenten 2011/12 einen Wendepunkt in der russischen Politik. Aus Sicht des Regimes stellten die Demonstrierenden vor allem in größeren russischen Städten die Machtfrage. Damit rückten die Verfechter eines demokratischen Wandels ins Zentrum staatlicher Repression. 

Mit seiner Wiederwahl bot Putin rechtsextremen und chauvinistischen Stimmen ein größeres Forum und nutzte deren Argumente auch im Kontext der Krim-Annexion 2014. Fischer zufolge radikalisierte sich Putin in den Folgejahren dramatisch. Habe Putin in seinen ersten beiden Amtsperioden eher aus taktischen Gründen mit nationalistischen Ideen experimentiert, so sei diese Tendenz nach der Annexion der Krim deutlich stärker geworden. Im russischen Diskurs wird die Ukraine „feminisiert“ und zum „­Vergewaltigungsopfer“ stilisiert. 

Mit ihrem analytischen Werkzeug geht die Autorin durch verschiedene Kriege, die Russland in den vergangenen 25 Jahren geführt hat, und betrachtet dabei auch das Verhältnis zur EU und Deutschlands Rolle in der europäischen Russland-Politik. 

Der Empfehlungsteil ist allerdings etwas kurz und allgemein geraten. Eine bessere Bildungs- und Medienpolitik ist sicher wichtig, aber nicht ausreichend, um auf die russische hybride Aggression zu reagieren. Der Blickwinkel auf Chauvinismus und toxische Männlichkeit ist erhellend, um die Veränderungen in Russland unter Putin und die Gefährlichkeit des Regimes zu verstehen. Der Versuch der Autorin aber, alle wichtigen Entwicklungen russischer Politik auch mit Blick auf die EU und Deutschland zu diskutieren, führt zu einer Verkürzung der Analyse an einigen Stellen. Es wäre vermutlich besser gewesen, einige zentrale Entwicklungen herauszugreifen und diese zu vertiefen.


Machismo im Maschinenraum

Der Künstlerin, Dichterin und feministischen Aktivistin Darja Serenko ist nicht nur ein ausgesprochen gut geschriebenes, geistreiches und lakonisches Buch gelungen, sondern vor allem eine scharfe Analyse der russischen Machokultur aus dem Maschinenraum des russischen Staates. Die Mitbegründerin des russischen Feministischen Antikriegswiderstands, die inzwischen im Ausland lebt, analysiert ihre Erfahrungen in russischen Institutionen, wo Frauen zumeist auf mittleren und unteren Ebenen die Arbeit machen und Männer in den Leitungspositionen sitzen und ihre Macht ausspielen. 

Das Buch beschreibt Geschlechterrollen in der russischen Gesellschaft. Frauen passen sich an, spielen Rollen, die von ihnen erwartet werden, und sobald sie diese Erwartungen nicht erfüllen, werden sie vom Staat sanktioniert. Dieser Erfahrungsbericht aus Bibliotheken, Galerien und Universitäten zeigt, wie wichtig Solidarität zwischen Frauen ist und wie wenig Raum für eigene Ideen oder Veränderung das russische System bietet. 

Institutionelle Gewalt gegen Frauen ist Alltag in Russland; Schutz dagegen kommt weder vom Staat noch von der Gesellschaft, und all das wird von zu vielen Frauen akzeptiert. Ziel der Autorin ist es, allen Frauen, die Gewalt in der ein oder anderen Form in russischen Institutionen oder durch den Staat erfahren haben, eine Stimme zu geben und ihre Geschichten zu erzählen. 

Im zweiten Teil des Buches beschreibt die Autorin Erfahrungen aus einem zweiwöchigen Gefängnisaufenthalt, zu dem sie verurteilt wurde, weil sie sich gegen den Krieg in der Ukraine engagiert hatte. In diesen 15 Tagen erlebt sie Gewalt gegen sich und trifft auf andere Frauen, die inner- und außerhalb der Gefängnismauern Gewalterfahrungen gemacht haben. Sie erlebt Erniedrigung und Schutzlosigkeit, aber auch Momente der Solidarität und der Nähe mit Mitgefangenen. 

Darja Serenko beschreibt, wie die Verrohung der russischen Gesellschaft institutionalisiert und verinnerlicht wird und warum nur wenige Menschen sich dagegen wehren. Ihr Buch ist allen zu empfehlen, die verstehen wollen, wo die ungeheure Gewalt herkommt, die täglich durch russische Soldaten in der Ukraine ausgeübt wird. Viele dieser Menschen haben Gewalt erlebt und bringen sie aus dem Krieg zurück in die russische Gesellschaft. 


Feindbild Polizei

Ein weiteres schockierendes Porträt der russischen Gesellschaft ist „Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen“, geschrieben vom ehemaligen Moskau-Korrespondenten der Süddeutschen Zeitung Julian Hans. Hans hat Gerichtsakten studiert und sich in fünf Fälle intensiv eingearbeitet, die Verbrechen und Gewalterfahrung in der russischen Gesellschaft repräsentieren. Anhand dieser Fälle zeigt der Autor, wie mit dem Zerfall der Sowjetunion Korruption, Selbstbereicherung und Rechtlosigkeit um sich griffen. 

Die Macht des Stärkeren setzte sich durch – Einschüchterungsversuche, Drohungen und Morde inklusive. Der Staat traf keine Anstalten, die Opfer zu schützen, im Gegenteil. Staatsanwaltschaften, Polizei, Bürgermeister und Gouverneure machten teils gemeinsame Sache mit den Trägern mafiöser Strukturen und wurden dafür reich entlohnt. Mit der Macht­übernahme Wladimir Putins 2000 änderte sich daran nichts. Zwar funktionierte der Staat wieder besser – mehr Rechtsstaatlichkeit aber brachte das nicht. 

Hans beschreibt, wie Nachbarn wegsahen, wenn Ehefrauen und Töchter geschlagen und vergewaltigt wurden, wie Behörden auch hier die männlichen Täter schützten statt die weiblichen Opfer. Er beschreibt religiösen Fanatismus, der einherging mit Patriarchentum und alltäglicher Gewalt gegen die eigenen Frauen und Kinder. Dazu kamen Gesetze, die eher den Täter schützten, und Behörden, die erst reagierten, wenn die Opfer sich wehrten. 

Eindrücklich beschreibt der Autor, wie im Süden Russlands, im Gebiet Krasnodar, eine gewalttätige Familie sich mit mafiösen Praktiken riesige Ländereien und Betriebe angeeignet hat, wie Polizei und Staatsanwaltschaft mit ihr kooperieren und wie Opfer, die sich wehren, ungesühnt umgebracht werden. Junge Frauen werden regelmäßig vergewaltigt; die Gesellschaft schaut aus Angst weg, gewöhnt sich an diese Realität, die zur Normalität wird. 

In einem weiteren Fall beschreibt Hans sechs junge Männer im Gebiet Primorje, im äußersten Osten Russlands, die sich zusammenschließen, um systematisch Polizeistationen und Streifenwagen anzugreifen. Das geht so lange, bis ein enormes Aufgebot an Sicherheitskräften diese Männer stellt, einige von ihnen tötet und die übrigen gefangen nimmt. Im Verfahren wird deutlich, dass die Männer selbst Polizeigewalt erfahren haben und immer wieder in Konflikt mit dem Staat geraten sind. 

Die Gesellschaft ist uneins in der Frage, wie mit den Überlebenden umzugehen sei. Es gibt eine Welle der Sympathie für die Polizistenmörder, da viele Russen schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben. Viele von ihnen haben nicht das Gefühl, dass die Polizei ihre Interessen schützt oder sie sich gegen deren Übergriffe wehren könnten. Schutzlosigkeit und Angst prägen die russische Gesellschaft; die schweigende Mehrheit passt sich an. Menschen, die erniedrigt werden, erniedrigen andere. 

Die Stärke des Buches ist, dass es an alltäglichen, unpolitischen Fällen aufzeigt, wie ein Staat, der willkürlich und autoritär im Interesse der Herrschenden handelt, eine konformistische Gesellschaft hervorbringt. Die Menschen haben in der Sowjetunion gelernt, sich anzupassen, sie arrangieren sich mit den Bedingungen und folgen dem „Führer Putin“. Wenn Gut und Böse oder Schwarz und Weiß nicht mehr erkennbar sind, dann glauben große Teile der Gesellschaft der Staatspropaganda, auch um keine Probleme zu bekommen. 


Systematische Umerziehung

Die Metamorphose vor allem junger Menschen von eher kritischen und offenen Geistern hin zu hasserfüllten und Propaganda verbreitenden „Wutbürgern“ beschreibt der Publizist Ian Garner. In „Z Generation“ zeigt Garner anhand von Beispielen aus seinem Bekanntenkreis in Russland, wie Medien, Bildungseinrichtungen und staatliche Institutionen junge Menschen zu Patriotismus im Sinne antiwestlicher Politik und einer Unterstützung des Krieges gegen die Ukraine erziehen. Wie junge Menschen, die im Westen gelebt haben, ihre Vergangenheit negieren und sich dem staatlich organisierten Diskurs anpassen. Wie da eine ganze Generation heranwächst, die keinen anderen Präsidenten als Wladimir Putin kennt. Die mit einem Rollenbild lebt, das sich aus Patriotismus, Maskulinität, Aufopferung für den Staat und der Befürwortung eines sinnlosen Krieges speist. Für Garner ist das eine systematische Umerziehung einer ganzen Generation, die in eine Art von Faschismus führt. Junge Menschen, die in den Krieg ziehen, sich abschlachten lassen und danach von staatlichen Medien als Helden gefeiert werden. 

Auch wenn der Faschismusbegriff nicht hilfreich für die Analyse ist und man eher von totalitären Praktiken sprechen sollte, zeigt dieses Buch, wie schnell junge Menschen im Sinne gewalttätiger und menschenverachtender Politik umerzogen werden können. Alle vier Bücher zeigen, dass es eben nicht nur Putin war, der diesen Krieg begonnen hat und führt, sondern eine Gesellschaft, die über Jahrzehnte Gewalt und Rechtlosigkeit erfahren hat. Das Ergebnis ist Anpassung, Opportunismus und Komplizenschaft – mit Gewalt als Klammer zwischen Staat und Gesellschaft.

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Gewalt als Klammer" erschienen.

Sabine Fischer: Die chauvinistische Bedrohung. Russlands Kriege und Europas Antworten. Berlin: Econ 2023. 
288 Seiten, 24,99 Euro

Darja Serenko: Mädchen und Institutionen. 
Geschichten aus dem Totalitarismus. 
Aus dem Russischen von Christiane Körner. Berlin: Suhrkamp 2023. 191 Seiten, 23,00 Euro

Julian Hans: Kinder der Gewalt. Ein Porträt Russlands in fünf Verbrechen. München: C.H. Beck 2024. 253 Seiten, 18,00 Euro

Ian Garner: Z Generation. Into the 
Heart of Russia’s Fascist Youth. 
London: C. Hurst & Co Publishers 2023. 
256 Seiten, 31,15 Euro

 

 

 

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 120-123

Teilen

Mehr von den Autoren

Dr. Stefan Meister leitet das Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).