Weltspiegel

29. Apr. 2024

Russland auf dem Weg zum totalitären Staat

Unter Putin und auf absehbare Zeit wird sich das Land weiter radikalisieren und isolieren. Diese Realität muss in Deutschland endlich gesehen werden.

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Bild: Blumen am Grab von Alexei Nawalny
Am Tag nach Alexei Nawalnys Beerdigung halten seine Mutter Lyudmila und Schwiegermutter Alla gemeinsam vor dem mit Blumen gesäumten Grab auf einem Moskauer Friedhof inne, März 2024.

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Putins Wiederwahl Mitte März markiert eine neue Stufe in der Transformation des politischen Systems in Russland, die durch die Invasion in der Ukraine bereits beschleunigt wurde. Auch wenn die Ergebnisse dieser Wahl mit un­realistischen 77,5 Prozent Wahlbeteiligung und 88,5 Prozent für die Bestätigung von Wladimir Putin bereits im Vorfeld von der Präsidial­administration weitestgehend festgelegt worden waren, ist es wichtig, für die Entwicklung in Russland den Wahlprozess zu analysieren. Diese „Wahl“ sollte eher als Bestätigung bezeichnet werden, die nicht einmal mehr versucht, den Anschein von Wettbewerb zu erwecken. Vielmehr ist sie ein vollständig gesteuerter Prozess, bei dem der Staat entscheidet, wer, wen, wie und wann wählt. Als Konsequenz wählt nicht die Gesellschaft in einem kompetitiven Prozess den Präsidenten, sondern der Kreml entscheidet, welche Art von Gesellschaft und welche Ergebnisse der Präsident möchte. 

Damit einher geht eine System- und Regimetransformation hin zu einer semitotalitären Autokratie, die auf dem Weg zu einem totalitären Staat ist. Während Putin versucht, sich in eine zaristische Tradition insbesondere von Alexander dem Großen zu stellen, wurzelt sein Handeln und Denken doch fast ausschließlich in der Logik der Stalinzeit. Jeder Kritiker oder Anders­denkende ist ein nationaler Verräter, und Verräter müssen ausgemerzt werden. 

Die Tötung von Putins wichtigstem Herausforderer, Alexei Nawalny, ist Ausdruck dieser totalitären Transformation. Auch antiwestliche Rhetorik sowie Anti­semitismus kehren zurück in den offiziellen Diskurs: der ukrainische Präsident, der als Jude durch die russische offizielle Propaganda zum Faschisten gemacht wird, und die Palästinenser, die ausschließlich als Opfer bezeichnet werden. 

Diese Wahl ist ein Meilenstein in einem Transformationsprozess, der die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat auf neue Weise definiert. Es gibt keine Bürger und keine funktionierenden Institutionen mehr, auf die sich die Gesellschaft berufen kann, sondern wir sehen Despotismus und Sicherheitsinstitutionen im Rahmen einer Vertikale der Macht, wobei ausschließlich Präsident Putin entscheidet. Gerichte dienen nicht dazu, die Gesellschaft vor Unrecht zu schützen, sondern sie sind ein Instrument des Staates, um Unrecht zu sprechen. 

Eine politische Opposition existiert nicht mehr – diese ist entweder im Gefängnis, im Ausland oder tot. Selbst ein Kandidat wie Boris Nadeschdin, weitgehend unbekannt und eher Teil des Systems, wurde zur Wahl nicht zugelassen. Man hatte Angst vor Kontrollverlust und einer möglichen Diskussion seiner vorsichtigen Kritik am Krieg gegen die Ukraine, die der offiziellen Propaganda entgegensteht. Die wachsende Kontrolle des Internets, der Versuch, nach chinesischem Modell ein „Runet“ zu schaffen, das vom globalen Internet abgekoppelt wird, demonstriert, wie weit die Selbstisolation und Kontrolltendenzen gehen. 


Ein historisch begründeter Sonderweg

Diese Entwicklungen nehmen dem politischen System seine Flexibilität und definieren den Übergang zu totalitären Strukturen, wie wir sie aus der russischen Geschichte und vor allem aus der Stalinzeit kennen. War das System Putin in den ersten beiden Amtsperioden weitestgehend ideologiefrei, so sehen wir jetzt die Verfestigung einer reaktionär konservativen Ideologie, die zu einem wesentlichen Legitimationsinstrument wird. Sie ist nationalistisch, russozentristisch, imperialistisch und damit antidemokratisch, antipluralistisch, antiliberal, minderheitenfeindlich, misogyn. Damit ist sie anschlussfähig für entsprechende reaktionäre und populistische rechte Flügel in Europa, den USA und weltweit, die aus Sicht des Kremls wichtige Verbündete gegen Liberalismus, Demokratie und „westliche Ideologie“ sind. Gleichzeitig sehen wir die Rückkehr des russischen Exzeptionalismus aus der Zarenzeit, der sich über andere Völker und Nationen stellt und den Russen eine besondere Stellung bzw. einen „Sonderweg“ gibt. 

Der Staat wird zum zentralen Akteur, dem alles, auch das Leben seiner Bürger, untergeordnet wird

Es sind vor allem der Westen, die NATO und die USA, die aus Sicht des Kremls Russland zerstören wollen und es deshalb in einen Krieg zwingen. Dabei fühlen sich die Führungseliten bereits seit mehr als zehn Jahren im Krieg mit dem Westen, der mit dem Angriff auf die Ukraine von einem hybriden zu einem konventionellen Krieg wurde. Die Legitimation des Systems Putin erfolgt mit dem Krieg nicht (nur) gegen die Ukraine, sondern auch gegen den Westen. Die Ukraine wird nur noch als Stellvertreterin des Westens gesehen, die vernichtet werden muss. Und das Regime ist bereit, dafür fast jeden Preis zu zahlen. Das entspricht der imperialen Haltung, die Ukraine sei kein Staat und keine Nation, sondern ein Anhängsel Russlands. 

Dazu verbreitet die offizielle Propaganda das Bild des heroischen Todes für das Vaterland. Der Staat wird zum zentralen Akteur, dem alles, auch das Leben seiner Bürger, untergeordnet wird. Somit dient der Krieg nicht nur der Ablenkung von inneren Entwicklungsdefiziten, sondern er wird zur heroischen Sinnstiftung für das Volk stilisiert. 

Gleichzeitig beobachten wir eine wachsende Kluft zwischen der Gesellschaft und dem Regime, das die Gesellschaft vor allem mit Angst und Isolation steuert und brutal jede Abweichung von der vom Staat definierten Norm sanktioniert. ­Jegliche Opposition und abweichende ­Meinung werden vernichtet oder weggesperrt. Der Tod von Nawalny – seine Vernichtung durch langsame Folter nach der gescheiterten Vergiftung 2020 – soll nicht nur andere Akteure davon abhalten, das Regime herauszufordern. Denn er markiert auch eine neue Phase eines Staates, der seine Gegner systematisch tötet. Das war unter Putin schon immer so, aber ein Michail Chodorkowski konnte noch lange im Gefängnis leben, mit der Außenwelt kommunizieren und sogar das Land verlassen, was keinem anderen Putin-Kritiker oder Oppositionspolitiker mehr erlaubt wird.


Gellschaftlicher Widerstand

Heute sehen wir neue und alte Elemente des Widerstands in der Gesellschaft: Mütter und Ehefrauen von Soldaten, die versuchen zu protestieren, lange Schlangen für Unterschriften für den Präsidentschaftskandidaten Nadeschdin, der sich öffentlich gegen den Krieg ausspricht, kreative Mittel des Protests am Wahltag, aber auch im täglichen Leben durch Einzelaktionen. Trotz des schrumpfenden Raumes für die Gesellschaft, ihre Meinung und ihren Widerstand zu artikulieren, wird es neue Formen des Protests geben. Die abnehmende Flexibilität des Regimes, fehlende Räume für die Aussprache anderer Positionen schwächen das Regime und werden es noch paranoider machen. Die Sicherheit des Regimes und in erster Linie von Putin selbst ist zu einem treibenden Faktor der Selbstisolation und Begrenzung jeglicher externer Einflüsse geworden. Die Logik und Macht des Sicherheitsapparats bestimmen das Funktionieren des Regimes.

Damit gibt es für niemanden mehr Sicherheit. Selbst Konformität und Anpassung reichen nicht mehr aus, Loyalität muss aktiv gezeigt werden und wird damit zu einem Ritual wie in der Sowjetunion, wo keiner mehr an den Erfolg des Kommunismus glaubte, aber so getan hat, also ob dieser demnächst erreicht wird.

Die größte Gefahr für das Regime kommt nicht aus der Opposition oder Gesellschaft, sondern sie kommt aus dem Regime selbst. Es ist vor allem der Sicherheitsapparat, der die Ressourcen hat, um Putin herauszufordern. Solange das System jedoch ausreichend Ressourcen durch den Verkauf von Rohstoffen einnimmt und verteilt, um Loyalität zu erkaufen, droht hier kaum Gefahr. Dabei war die Revolte von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin 2023 einer der interessantesten Stresstests für das System seit Jahren. Als ein schwarzer Schwan aus dem Inneren des Regimes, als ein Produkt des Systems Putin hat Prigoschin für einen Moment die Machtvertikale überrumpelt. Dabei war kein relevanter Akteur bereit, sich ihm entgegenzustellen und Putin zu schützen. Putin selbst scheint für mehrere Tage nicht gewusst zu haben, wie er reagieren soll, und deshalb hat das System nicht reagiert. Dessen zentrale Schwäche ist die totale Abhängigkeit von Putins Handlungsfähigkeit. Dass Prigoschin durch Tötung sanktioniert wurde, liegt in der Logik des Systems, ebenso wie die folgenden Säuberungen im Sicherheitsapparat und in der Armee.


Zurück in die Vergangenheit

Dieses Regime, das seine Legitimität auf Gewalt baut, bietet keine Zukunft für Russland. Alle Ressourcen werden in Waffen, Munition und Soldaten investiert. Alles dreht sich um eine große Vergangenheit, die Erhaltung des Imperiums und eine konservative Ideologie, die die Gesellschaft zerstören und weiter entmenschlichen wird. Putin hat es in seiner mehr als 20-jährigen Herrschaft nicht geschafft, ein Zukunftsmodell zu entwickeln. Russland ist letztlich sowohl im Wettbewerb mit dem Westen als auch China unterlegen.

Der aggressive und autoritäre Charakter des Putin-Systems wurde im Westen zu lange unterschätzt

Mit Putins Rückkehr 2012 ins Präsidentenamt wurden jegliche Ambitionen für eine Modernisierung Russlands beendet. Der brutale Krieg gegen die Ukraine befördert das Land zurück in eine Zeit der konventionellen Kriege, wie wir sie aus dem 19. Jahrhundert kennen. Die Gesellschaft reagiert mit Anpassung, Konformismus und Zynismus – ein Gift, das zersetzend wirkt. Gleichzeitig erfolgt eine Demodernisierung des Landes, die nicht nur technologisch ist, sondern auch gesellschaftlich: mit der Vertreibung der westlich orientierten Mittelschicht ins Ausland und einer vormodernen, konservativen Ideologie. 

Was in Deutschland und vielen westlichen Staaten zu lange unterschätzt wurde, ist der aggressive und autoritäre Charakter des Systems Putin. Das Land führt seit zwei Jahrzehnten Krieg, erst in Tschetschenien (2000er Jahre), dann in Georgien (2008) und seit 2014 in der Ukraine. Gewalt nach innen und nach außen ist Teil der DNA des politischen Systems unter Putin, und westlicher Opportunismus hat das Regime eingeladen, seine Aggression auszudehnen. Die Tötung von Gegnern in Europa ohne Rücksicht auf nationale Grenzen und Gesetze, der Export von Korruption, Desinformation und Manipulation zeigen den aggressiven Charakter des Regimes. All das ist zu lange toleriert, heruntergespielt und relativiert worden. Zum Teil ließen sich auch deutsche Politiker kaufen und verbreiten Narrative der russischen Des­information. Das Gift wirkt ebenfalls in anderen europäischen Gesellschaften.

Russland wird sich auf absehbare Zeit und insbesondere unter Putin weiter radikalisieren und isolieren. Veränderungen kommen eher aus dem Machtapparat, der Interesse daran haben wird, auch nach Putin das von ihm geschaffene System zu erhalten. Wenn wir diese Realität nicht sehen wollen, treten wir nur in eine neue Phase des Opportunismus und der Beschwichtigung ein, die unsere Glaubwürdigkeit und die Demokratie weltweit weiter untergraben wird. Dies erinnert stark an die deutsche Geschichte. Es wäre die ­falsche Lehre aus der ­Machtübernahme des deutschen ­Faschismus.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 68-71

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Stefan Meister

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Dr. Stefan Meister leitet das Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).