Russisches Roulette
Gazprom und die Gaslücke - eine Gefahr für Deutschland und Europa
Investitionsstau, Intransparenz, Versorgungsunsicherheit: Russlands Stellung als Energielieferant Europas steht durch einen bedrohlichen Engpass auf dem Spiel, der Deutschland am härtesten treffen könnte. Die EU muss reagieren – durch konsequente Verhandlungsmacht gegenüber Moskau und rasche Diversifizierung ihrer Energieträger.
Auch während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist es der Bundesregierung bisher nicht gelungen, Moskau von einer marktwirtschaftlichen Ausrichtung seiner Energiepolitik zu überzeugen. Der Versuch, Präsident Putin von einer Instrumentalisierung seiner Energieressourcen und seines Pipelinemonopols für außenpolitische Zielsetzungen abzuhalten und den Energiechartavertrag wie das Transitprotokoll zu ratifizieren, schlug fehl.
Russlands Reputation als traditionell verlässlicher Energiepartner Deutschlands und der alten EU-15 ist aber auch durch eine sich dramatisch abzeichnende Gaslücke gefährdet, die von Moskau und Gazproms europäischen Energiepartnern bis Mitte vorigen Jahres völlig negiert wurde. Im September 2006 hat Putin diese Gaslücke in den innenpolitischen Diskussionen bestätigt, ohne jedoch den Umfang offenzulegen und für Transparenz in dieser für die EU so wichtigen Energiefrage zu sorgen. Auf den ersten Blick erscheint es unmöglich, dass in Russland ein Versorgungsengpass auftreten könnte – einem Land, das über 47 Billionen Kubikmeter Erdgasreserven verfügt (26 Prozent der weltweiten Vorkommen) und damit 50 Prozent der inländischen Energieversorgung deckt. Die Gefahr ist jedoch real: So drohen russischen und ausländischen Verbrauchern Lieferunterbrechungen, welche auch die für die Wirtschaftsentwicklung und Steuereinnahmen Russlands entscheidenden Erdgasverkäufe ins Ausland nachhaltig beeinträchtigen können. Für die russische Gaskrise sind im Wesentlichen drei Gründe ausschlaggebend: (1) der Rückgang der Fördermengen in den gigantischen Erdgasfeldern der Region Nadym Pur Taz (NPT); (2) ein unterschätzter Anstieg des inländischen Gasverbrauchs als Folge des hohen Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre und (3) die mangelnde Bereitschaft des staatlichen Energiekonzerns Gazprom, rechtzeitig in die Erschließung neuer Felder zu investieren. Gazprom hat – abgesehen von den Vorkommen in Zapolyarnoye – keine neuen umfangreichen Vorkommen mehr erschlossen, obwohl der Konzern über ausreichend Kapital verfügt. Hierfür gibt es folgende -Gründe:
- Der Großteil des von Gazprom geförderten Erdgases geht zu niedrigen Subventionspreisen auf den russischen Markt und nicht in den lukrativeren Export, wodurch Investitionen in neue Vorkommen und die damit verbundene Infrastruktur beträchtlich erschwert werden. Zwar ist eine Verdopplung der inländischen Gaspreise auf immer noch vergleichsweise günstige 90 Dollar pro 1000 (EU: 250– 300 Dollar) Kubikmeter bis 2011 geplant, doch sind einschneidende Preiserhöhungen vor den Präsidentschaftswahlen im März 2008 unwahrscheinlich.
- Zudem ist der Gazprom-Konzern trotz hoher Gewinne aus den Auslandsverkäufen mit 38 Milliarden Dollar hoch verschuldet.
- Auch ist das russische Finanzsystem noch immer zu schwach, um das zur Erschließung gigantischer Vorkommen erforderliche Kapital bereitzustellen – die Erschließung des Yamal-Gebiets in Westsibirien z.B. wird sich insgesamt auf 70 Milliarden Dollar und des Schtokman-Feldes auf mindestens 80 Milliarden Dollar belaufen.
- Gazprom hat in den vergangenen vier Jahren fast 18 Milliarden Euro für den Erwerb von Anteilen an Unternehmen außerhalb des Gassektors ausgegeben. Wenn überhaupt, sind die von Gazprom getätigten Investitionen auf Fremdakquisitionen (wie in Zentralasien) und die Export-Infrastruktur ausgerichtet und nicht auf den Bau und die Modernisierung inländischer Pipelines oder die Erschließung neuer Erdgasfelder.
- Zwar mögen einzelne potenzielle Investoren aus dem Ausland bereit sein, weiterhin Milliarden in zunehmend politisch unsichere Russland-Geschäfte zu investieren, doch liegen 70 Milliarden Dollar über dem, wozu selbst die meisten großen Energieunternehmen bereit sind; besonders, solange die Rechte von Investoren nicht viel stärker gesetzlich abgesichert werden als bisher. Selbst die zu Zeiten niedriger Energiepreise Anfang der neunziger Jahre abgeschlossenen Produktionsvereinbarungen werden entgegen früheren Investitionsschutzzusicherungen für ausländische Unternehmen von der russischen Regierung unterlaufen.
- Zudem ist es westlichen Investoren nicht erlaubt, mehr als einen Geschäftsanteil von 49 Prozent zu halten. In der politischen Praxis sind westliche Anteilseigner russischer Energieunternehmen gezwungen, sich mit viel niedrigeren Prozentanteilen zu begnügen, da ausländische Direktinvestitionen vor allem in den strategischen Sektoren der Energie- und Rohstoffwirtschaft weithin ungern gesehen werden.
Die Folgen dieser mangelnden Investitionsbereitschaft sind äußerst bedrohlich, wie der ehemalige stellvertretende Energieminister Vladimir Milov warnt (siehe Grafik). Seine Zahlen werden gestützt von der Internationalen Energieagentur (IEA), die von einem jährlichen Förderrückgang um 20 Milliarden Kubikmeter (bcm) ausgeht, was bis zum Jahr 2015 eine Versorgungslücke von bis zu 200 bcm bedeuten könnte. Ähnliche Zahlen hat das russische Institute of Natural Monopolies Research (IPEM) ermittelt, dessen Analyse das jährliche Defizit bis 2010 auf 120 bis 123 bcm sowie im Jahr 2020 auf 186 bis 343 bcm beziffert. Bereits im Frühsommer 2006 hatte das Forschungsinstitut für die Wirtschaft der Gasindustrie, eine Tochtergesellschaft von Gazprom, einen dramatischen Strategiewechsel für den Erdgasmonopolisten vorgeschlagen: Russland solle seine Erdgasexporte in die europäischen Märkte verringern und sich stattdessen darauf konzentrieren, neue Gasfelder zu erschließen, um die inländische Nachfrage zu befriedigen – diese wird sich bis auf 654 bcm pro Jahr bis 2020 erhöhen.
Dabei sind diese Zahlen womöglich noch zurückhaltend und optimistisch. Sie beruhen auf der Annahme, dass Gazprom in der Lage ist, den Lieferumfang von jährlich etwa 550 bcm aufrechtzuerhalten. Dagegen jedoch sprechen zwei Gründe: Zum einen sind die kleineren NPT-Vorkommen wesentlich schwieriger auszubeuten, während die Inbetriebnahme der gigantischen Yamal-Anlagen Zeit benötigt. Zum anderen ist unklar, inwieweit die verbliebenen NPT-Reserven effizient und profitabel gefördert werden können.
Zudem ist fraglich, wie wirkungsvoll die Rettungsstrategie von Gazprom sein wird: Als weltgrößter Eigner von Erdgasreserven will der Monopolist selbst noch mehr als bisher Erdgas aus Zentralasien importieren, um so die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage schließen zu können. So kommt derzeit bereits ein Drittel des von der EU aus Russland importierten Erdgases faktisch aus Turkmenistan. Analysiert man die tatsächlichen Kapazitäten in Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan, erscheint dieses Vorhaben unrealistisch: So hat die IEA eine Vielzahl von Problemen ausgemacht, die von mangelnden turkmenischen Investitionen in seine Erdgasindustrie bis hin zum schlechten Zustand der zentralasiatischen Pipeline (CAC) reichen, die derzeit erheblich unter ihrer Kapazität läuft. Auch der am 12. Mai zwischen Russland, Turkmenistan und Kasachstan vereinbarte Bau einer neuen kaspischen Gaspipeline nach Russland ab 2009/2010 mit ihrem Volumen von jährlich zehn Milliarden Kubikmetern ist in dieser Hinsicht völlig unzureichend. Angesichts derartiger Unsicherheiten und unzureichender Informationen aus Moskau ist eine genaue Prognose des Umfangs der Versorgungslücke in 2010 schwierig – Russland und die EU können sich glücklich schätzen, wenn das Defizit nicht über 126 bcm hinausgeht.
Russische Lösungswege
Russland stellen sich vor allem zwei Lösungswege: Erstens könnte die entstehende Lücke zum Teil von unabhängigen Erdgaslieferanten geschlossen werden, für die der Inlandsmarkt durch eine Preiserhöhung attraktiver wird. Gemäß der nationalen Energiestrategie von 2003 sollen unabhängige Firmen bis 2020 etwa 20 Prozent der Erdgasversorgung decken (derzeit 13 Prozent). Wie viel die unabhängigen Unternehmen zur zukünftigen Erdgasversorgung tatsächlich beisteuern können, hängt zudem von deren Kapitalausstattung und der Zusicherung ab, die Netze des Gazprom-Konzerns nutzen zu können. Beides ist derzeit jedoch mehr als fraglich, da dies das Gesamtkonzept eines vom Kreml gesteuerten, vertikal integrierten Energieriesen unterlaufen würde. Somit droht künftig der Zugang unabhängiger Lieferanten zum Gazprom-Netz noch viel stärker beschränkt zu werden: Je schneller die Förderung aus den eigenen Quellen zu versiegen droht, desto mehr unabhängige Firmen wird Gazprom übernehmen, um seine Gaslücke auszugleichen.
Der zweite Lösungsweg – von Putin favorisiert, von Wirtschaftsminister Gref und anderen Experten heftig kritisiert –, liegt in der Ersetzung des Erdgases auf dem Inlandsmarkt durch Kohle, Wasser- und Kernkraft. Derzeit erzeugt der Stromkonzern UES etwa 40 Prozent seines Stroms aus Erdgas. Es erscheint aber fraglich, ob die zusätzlich benötigten Wasser- und Kernkraftwerke rechtzeitig gebaut werden können, um die Versorgungslücke wirklich überbrücken zu können. Zudem droht die übrige russische Wirtschaft aus Sicht von Gref ohne weiterhin stark subventionierte Gaspreise international noch weniger wettbewerbsfähig zu werden.
Europas Wege aus der Krise
Auch auf europäischer Ebene sind zwei Wege aus der Krise denkbar – der erste ist interner Natur, der zweite liegt in der Ausarbeitung eines richtigen Rahmens für die Energiepartnerschaft mit Russland. Intern muss die EU ihren Gasmarkt liberalisieren, eine Strategie zur Vernetzung der wichtigsten Gasmärkte entwickeln, die strategische Gasbevorratung für Krisenfälle drastisch ausbauen und die Importe diversifizieren. Die Liberalisierung wird zumindest jenen Ländern alternative Quellen erschließen, die am stärksten von russischen Erdgaslieferungen abhängen – und Kontinentaleuropa für neue, vor allem von Großbritannien erschlossene Erdgasquellen öffnen. Das Vereinigte Königreich verfügt inzwischen über drei Flüssiggasanlagen in Milford Haven und auf der Isle of Grain sowie über die Norwegen-Pipeline, so dass der britische Gasmarkt mit dem Zufluss von Flüssiggas aus Katar ab 2008 beträchtliche Überschüsse aufweisen wird. Durch die beiden über den Kanal führenden Verbindungen könnten dann mehr als 30 bcm Erdgas für den kontinentalen Markt bereitgestellt werden; auch der Zugriff auf Erdgas aus Algerien und Libyen könnte die in Russland entstehende Versorgungslücke zumindest teilweise schließen.
Die zweite Lösung liegt für Europa darin, einen Rahmen zu schaffen, der ausländischen Investoren Zugang zu russischen Förderanlagen einräumt und damit einen stabilen Erdgasnachschub sichert. Hierzu könnten die EU und Russland ein Kapitel zur Zusammenarbeit auf dem Energiesektor im Rahmen des neu zu verhandelnden Partnerschafts- und Kooperationsabkommens vereinbaren. Die EU-Kommission hat aber bisher keine direkte Handlungskompetenz und kann sich lediglich auf Bestimmungen zur Umweltpolitik und zum Binnenmarkt sowie Wettbewerbsregeln stützen. Daher stellt die Europäische Energiecharta (ECT) einen besseren Ausgangspunkt dar: Zwar lehnt Russland ihre Ratifizierung weiterhin ab, doch ist Moskau mit der Unterzeichnung der Energiecharta bereits die Verpflichtung eingegangen, sich bereits vor deren Ratifizierung an ihre Bestimmungen zu halten. So beinhaltet die Energiecharta strenge Vorschriften zum Investorenschutz, die ausländischen Firmen die notwendige Gewähr geben, dass ihre Investitionen in den Energiesektor auch sicher sind.
Als Kollektiv befindet sich die EU in einer viel mächtigeren Verhandlungsposition als in den Energiebeziehungen mit Russland oft realisiert wird: Erstens verfügt Russland nicht über genügend Eigenkapital zur Erschließung seiner Erdgasvorkommen und muss sich zweitens mit erheblichen Engpässen beschäftigen. Drittens stellt die EU als wichtigster Kunde des Gazprom-Konzerns einen für Russland unverzichtbaren Markt dar. Und viertens könnte die EU auf klarer Reziprozität beharren und ihren eigenen Energiesektor so lange für russische Unternehmen sperren, bis die Energiecharta vollständig eingehalten wird und Russland seine Märkte öffnet.
Zudem sollte die EU auf einer Unterzeichnung des Transitprotokolls der Energiecharta durch Moskau bestehen, würde dies doch die Gazprom-Pipelines für unabhängige Energieversorger öffnen und ihnen einen Anreiz zum Ausbau ihrer Geschäfte, zur Kapitalbeschaffung und zum Verkauf von Erdgas sowohl auf dem Inlands- als auch dem Auslandsmarkt bieten. Dies alles setzt aber voraus, dass die EU künftig tatsächlich mit „einer Stimme“ gegenüber Moskau spricht. Der vom deutschen Außenministerium vorgeschlagene Ausweg, die wichtigsten Prinzipien in das neue Partnerschaftsabkommen der EU mit Russland zu übernehmen statt weiterhin auf eine Ratifizierung zu pochen, ist auf russischer Seite bisher jedoch auf wenig Gegenliebe gestoßen; zudem wäre eine Anerkennung derartiger Prinzipien in einem neuen Partnerschaftsabkommen für Moskau nicht in vergleichbarer Weise bindend wie in der ECT. Die von Russland unterzeichnete G-8-Deklaration des vergangenen Jahres ist hierfür ein Beispiel, wie ernst Moskau derartige politische Prinzipienerklärungen ohne völkerrechtliche Bindungen zur Stärkung der internationalen Energiesicherheit nimmt. Folgenreiche Engpässe
Aus purem Eigeninteresse sollten beide Seiten Maßnahmen gegen die drohende Versorgungslücke ergreifen. Russland ist in diesem Punkt möglicherweise besonders verwundbar: Würden die Erdgasexporte gestoppt – und der inländische Verbrauch weiterhin subventioniert – müsste Russland eine Reduzierung seiner Auslandsgewinne und ein geringeres Steueraufkommen hinnehmen, da Gazprom allein annähernd 20 Prozent der staatlichen Steuereinnahmen erbringt. Da der russische Energiesektor (zusammen mit dem Usbekistans und Kasachstans) zu den ineffizientesten der Welt gehört, könnten sich Versorgungsengpässe, je größer sie sind, umso negativer auf die Industrie auswirken. Noch schlimmer: Erdöl, Mineralien und Metall sind neben Erdgas die wichtigsten Devisenbringer und hängen sämtlich vom Erdgas bzw. von aus Erdgas gewonnenem Strom ab. Die Perspektive einer gravierenden Versorgungslücke stellt für Russland eine enorme Gefahr dar und könnte eine Abwärtsspirale in Gang setzen, die die Legitimität des russischen Staates bedroht und die wirtschaftlichen Gewinne seit 1999 zunichte macht.
Auch die meisten Staaten in Mittel- und Osteuropa sind auf russisches Erdgas angewiesen – anhaltende Versorgungsengpässe könnten dort viele Volkswirtschaften ernsthaft schädigen, die Aufnahme dieser Staaten in den Euro-Raum hinauszögern und das Wirtschaftswachstum verlangsamen. Auch jene westlichen EU-Staaten, die nicht direkt von russischem Erdgas abhängen, blieben nicht verschont, da sich Versorgungsengpässe in Ost- und Südeuropa wahrscheinlich in der gesamten EU in höheren Energiepreisen niederschlagen würden.
Aus strategisch-ökonomischem Blickwinkel bestünde die größte Gefahr jedoch nicht für Mittel- und Ost- europa, sondern für Deutschland. Gravierende Rückgänge der Erdgaslieferungen könnten in der deutschen Wirtschaft und – aufgrund deren Größe – in ganz Europa erhebliche Turbulenzen auslösen. Für Deutschland verschärft sich die ohnehin prekäre Lage noch dadurch, dass Engpässe eintreten könnten, lange bevor die von Ex-Bundeskanzler Schröder forcierte Ostsee-Pipeline (Nord Stream) ans Netz geht. So werden die von Finnland abgelehnte Routenführung und die ökologischen wie sicherheitspolitischen Einwände der Baltischen Staaten, Schwedens und Polens zu weiteren Verzögerungen der Inbetriebnahme führen. Auch hat der EU-Frühjahrsgipfel zwar der Nabucco-Pipeline (die Europa über die Türkei mit Gas aus Iran und dem Kaspischen Raum versorgen soll), nicht aber der Ostsee-Pipeline einen prioritären Status „von europäischem Interesse“ zuerkannt.
Somit ist Deutschland als größter europäischer Investor in Russland nicht nur durch unsichere Erdgaslieferungen bedroht, sondern muss auch einen Wertverlust seiner Auslandsinvestitionen befürchten, da derartige Versorgungsengpässe auch die russische Wirtschaft schrumpfen lassen. Eine Aussicht, welche die Gefahr bilateraler Sonderwege mit Russland in der EU unterstreicht.1 Unter diesen Umständen könnte sich die Ostsee-Pipeline als eine strategische Fehlentscheidung Deutschlands erweisen: Während damit einerseits die eigene Abhängigkeit von Russland weiter ansteigen könnte (von 42 Prozent aller Erdgasimporte in 2006 auf mehr als 60 Prozent nach Bau der Ostsee-Pipeline), wurde andererseits versäumt, die Liberalisierung der russischen Energiemärkte, einen freien Kapitalfluss und den Schutz der Eigentumsrechte ausländischer Investoren durchzusetzen.
Schlafwandelnd in die Versorgungslücke?
Die Aussicht auf gravierende Erdgasengpässe und die hohe Intransparenz russischer Energiepolitik sollte die -politischen Entscheidungsträger in Russland und Europa wachrütteln, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen statt weiter unkritisch russischen Versicherungen zu vertrauen. Manche dieser Maßnahmen können einseitig ergriffen werden, die wirkungsvollste Lösung aber wäre ein solides vertragliches Regelwerk mit Moskau, in dessen Rahmen Kapital zur Modernisierung der Infrastruktur, zur Erschließung neuer Vorkommen und zur Sicherung der Erdgasströme eingesetzt werden kann. Dies setzt aber eine völlige Umkehr in der russischen Energiepolitik der vergangenen Jahre voraus, die derzeit auf absehbare Zeit unwahrscheinlich ist.
Doch auch ungeachtet der russischen Gaslücke ist die EU gezwungen, ihre Erdgasimporte künftig viel stärker zu diversifizieren. Selbst im Fall, dass Russland doch so viel Gas exportiert wie ursprünglich in seiner viel zu optimistischen und inzwischen überholten Energiestrategie von 2003 geschätzt wurde (274 bcm Gesamtexporte pro Jahr in 2020), wäre dies hinsichtlich des gesamten Gasimportbedarfs der EU in 2030 von jährlich 490 bcm (280 bcm in 2004) völlig unzureichend – liegt dieser weitaus höher als in jeder anderen Weltregion (USA >200 bcm; China/Indien 85 bcm). Zwar sind auf dem Papier genügend Gasressourcen in der geographischen Nähe Europas vorhanden. Doch ist die innenpolitische Stabilität all dieser Länder ziemlich fraglich.
Dies wirft bereits heute die grundlegende Frage auf, ob genügend Investitionen auch in den anderen Gasexportländern getätigt bzw. unter diesen Umständen künftig erfolgen werden. Somit sind die EU und Deutschland – auch ungeachtet der russischen Gaskrise – gut beraten, den Anstieg des Gas(import)-bedarfs stärker zu begrenzen und den Energiemix bis 2030 so breit wie möglich aufzustellen. Dies gilt umso mehr, berücksichtigt man die russische Gaskrise und die Moskauer Instrumentalisierung der Gasexporte und des Gaspipelinemonopols für außenpolitische Zielsetzungen. Die von EU und der Bundesregierung anerkannte Notwendigkeit einer Stärkung zukünftiger Versorgungssicherheit – neben den Klimaschutzbemühungen – ist jedoch bis 2030 nur mit Kernenergie und Kohle zu gewährleisten. Unter diesen Gesichtspunkten gilt es, ein weitgehendes Gleichgewicht innerhalb der Energietrias von Versorgungssicherheit, Umwelt- und Klimaschutz sowie Wettbewerbsfähigkeit zu bewahren statt die Energiesicherheit von EU und Deutschland auf kurzsichtige und gefährliche Weise einseitig auf lediglich einen Faktor auszurichten.
Dr. ALAN RILEY, geb. 1964, lehrt Zivilrecht an der City University London und ist Associate Research Fellow am Center for European Policy Studies in Brüssel.
Dr. FRANK UMBACH, geb. 1963, ist Programmleiter in der DGAP und Experte für internationale Energiesicherheit.
- 1Vgl. Frank Umbach und Alexander Skiba: Licht und Schatten auf dem EU-Frühjahrsgipfel 2007 – Gemeinsame Energie- und Energieaußenpolitik oder nationale Sonderbeziehungen mit Russland, DGAPstandpunkt 03/07, Berlin, 24.4.2007.
Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 106 - 113.