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01. Sep 2006

Die neuen Herren der Welt

Öl gleich Macht: Energie-Verbraucherländer müssen umdenken

Der steigende Öl- und Gaspreis hat geopolitische Auswirkungen: Er verändert die Position der Ressourcenstaaten gegenüber Abnehmerländern, was wiederum Folgen für die weltweite Ordnungspolitik hat. Dieser Entwicklung muss auch Deutschland dringend Rechnung tragen. Nationale Energiepolitik allein reicht zukünftig nicht mehr aus. Notwendig ist eine gemeinsame europäische Energie(außen)politik, in der die EU ihren Energiemix und ihre Importe stärker diversifiziert und vor allem koordiniert.

Erst infolge des russischukrainischen Gaskonflikts Anfang des Jahres ist die Frage der zukünftigen deutschen und europäischen Energiesicherheit in den Fokus der Politik und der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt.1 Zum ersten Mal ist auch das deutsche Außenministerium davon überzeugt, dass Energiesicherheit ein zentrales Thema nicht nur der globalen Wirtschafts und Umweltpolitik, sondern auch der Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert sein wird.2 Seitdem wurden die Rufe nach einer gemeinsamen Strategie für die zukünftige EUEnergiesicherheit lauter. Grund dafür sind zunehmende Zweifel an der künftigen Verlässlichkeit Russlands als europäischer Energiepartner, die durch Moskaus wiederholte Androhung von Lieferkürzungen und Umleitungen nach China weitere Nahrung erhalten.

Der europäischen Krisendiplomatie ist es zwar gelungen, gegenüber dem Iran eine weitgehend geschlossene internationale Front gegen eine iranische Nuklearwaffenoption aufzubauen. Doch Russland und China haben bei der Frage eines härteren politischen Kurses gegenüber Teheran Vorbehalte, die von ihren energiepolitischen Interessen im Iran bestimmt sind.

Die IranPolitik ist ein Beispiel für den Trend, dass sich das Machtverhältnis zwischen Energieproduzenten und -konsumenten grundlegend zugunsten der Energieproduzenten zu verändern beginnt, was weitreichende Auswirkungen auf die globale Außen und Sicherheitspolitik haben wird. Der Kolumnist der New York Times Thomas L. Friedman spricht in diesem Kontext vom „Ersten Gesetz der Petropolitik“: Je höher die Preise für Rohöl auf den internationalen Märkten, desto geringer die innenpolitische Reformbereitschaft jener Staaten, deren Ökonomie und Staatshaushalt auf Erdölexport basieren, und desto konfrontativer deren Außenpolitik, was man derzeit an Russland, Iran und Venezuela beobachten kann. Während diese Energieexporteure innenpolitisch Rede und Pressefreiheit, demokratische Wahlen, unabhängige Justiz und Rechtsstaatlichkeit zunehmend aushöhlen, nehmen sie außenpolitisch bei wachsenden Öleinnahmen immer weniger Rücksicht darauf, was die Welt und insbesondere der Westen von ihnen hält.3 Dies hat Implikationen für die weltweite Ordnungspolitik und damit auch für die Gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik (GASP) der EU. Je mehr die Energieversorgung von fanatischen Muslimen, Diktatoren, Kriegsverbrechern und unsicheren Exporteuren abhängig ist, um so mehr leidet die eigene außenpolitische Glaubwürdigkeit: „Europas Quellen in der Nordsee gehen schnell zur Neige, und die Importabhängigkeit wächst so schnell, wie die Neigung schrumpft, Schurkenstaaten die Leviten zu lesen.“4

Zwar fordern der deutsche Außenminister Steinmeier und auch die EU eine aktive „Energieaußenpolitik“, die die EU auch bereits seit Jahren praktiziert – doch in Deutschland ist ein nationales Gesamtkonzept für Energiesicherheit noch nicht über das erste Diskussionsstadium hinausgelangt, ohne dass bisher eine zielführende Strategie erkennbar ist. Alle Parteien haben die dramatisch zunehmende Bedeutung der Energie und Versorgungssicherheit seit Ende der neunziger Jahre verkannt. Die Politik der EUKommission bis 2005 wurde nicht reflektiert, auch weil diese der deutschen Energiepolitik widerspricht, etwa in Fragen wie dem Ausstieg aus der Kernenergie oder der Verklammerung mit der GASP.

Demgegenüber wurde außerhalb der EU das Thema Energiesicherheit schon immer mit der jeweiligen Außen und Sicherheitspolitik sowie innenpolitischer Stabilität verbunden. Durch die verschärfte globale Nachfrage und die begrenzte Reichweite der fossilen Energieträger (Erdöl reicht noch für rund 40 Jahre) haben die geopolitischen Dimensionen der Energiesicherheit noch zugenommen. Für die EUStaaten stellt sich nun die zentrale Frage, ob sie vor dem Hintergrund verschärfter Energie und Ressourcenkonkurrenz sowie weltweiter Renationalisierungstendenzen nicht kohärentere gemeinsame Strategien für die europäische Energiesicherheit im 21. Jahrhundert benötigen. Hierzu sollen zunächst einige der neuen strategischen und geopolitischen Trends der internationalen Energiesicherheit analysiert werden.

Politische Stabilität in den Energieförderstaaten

Als der Ölpreis 2005 auf über 60 Dollar anstieg, wurde von zahlreichen Ökonomen schon bald ein erneutes Absenken auf etwa 30 bis 40 Dollar erwartet und der Preisanstieg als temporäres Problem verkannt. Dabei spielt die Angst und Spekulationsprämie von derzeit etwa zehn Dollar zwar eine Rolle, wird in ihrer Bedeutung jedoch überschätzt. Übersehen wird dabei, dass selbst kapitalstarke Spekulanten bestehende Trends höchstens verstärken, selbst aber keine Preise machen können und somit nicht die Ursache des hohen Ölpreises sind.

Zahlreiche Prognosen der weltweiten Energienachfrage haben ebenfalls seit Jahren den Anstieg des Bedarfs in erheblichem Umfang unterschätzt und so dazu beigetragen, dass die Energieunternehmen nicht rechtzeitig genügend Investitionen getätigt haben. Grund für die Fehlprognosen ist nicht allein, dass man die Nachfrage aus Asien unterschätzt, sondern auch, dass man die politische Stabilität in den Energieförderstaaten nicht infrage gestellt hat. Der Hurrikan im Golf von Mexiko im Sommer 2005 oder die Instabilität in einzelnen Staaten wurden von Wirtschaftsexperten zumeist als singuläre oder temporäre Ereignisse verharmlost. Aus ihrer Sicht sind solche Ereignisse prinzipiell nicht vorhersehbar und finden daher in ihren Prognosen keine Berücksichtigung. Dies ist aber schwer nachvollziehbar, da dies systematische Faktoren sind, die sich sehr wohl prognostizieren lassen. Auch der Statusbericht der Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt für den deutschen Energiegipfel am 3. April 20065 folgte entsprechenden Gutachten von Experten, die für 2020 von einem Ölpreis von lediglich 46 Dollar ausgehen. Auch das im Statusbericht angeführte höhere Preisszenario von nominal 68 Dollar (real 47 Dollar pro Fass) für 2020 dürfte zu optimistisch sein. Jedoch wurde weder die Frage der politischen Stabilität der Energieförderstaaten in Zusammenarbeit mit Klima, Regional und außenpolitischen Experten problematisiert, noch war das Auswärtige Amt bei der Erarbeitung des Statusberichts involviert.

Bereits für die Rohölrekordmarke von 78,60 Dollar für Nordseeöl der Sorte Brent Mitte Juli sind erhebliche Ausfälle in den Energieförderstaaten mitverantwortlich. So ist seit mindestens einem Jahr die irakische Ölproduktion um 600 000 bis 900 000 Fass pro Tag (b/d) geringer als geplant, die Nigerias um 530 000 b/d (ein Fünftel der Gesamtproduktion), die Venezuelas um 400 000 b/d und jene im Golf von Mexiko um 330 000 b/d. Weltweit haben zielgerichtete Angriffe auf die Infrastruktur (Pipelines und Raffinerien) stark zugenommen. Afrika ist gegenwärtig für rund zehn Prozent der globalen Rohölproduktion verantwortlich; bis 2010 wird rund ein Drittel des zusätzlichen Öls auf dem Weltmarkt aus Afrika kommen. Daher gewinnt auch hinsichtlich Afrikas die Frage der politischen Stabilität der Erdölförderstaaten erheblich an Bedeutung für die EU und den Rest der Welt.

Selbst kurzfristigere Produktionsausfälle können große Auswirkungen auf die Preisstabilität haben, wenn sie sich mit anderen Unsicherheitsfaktoren zu einem Ereignis mit globalen Auswirkungen summieren. Dass BP derzeit in den USA aufgrund technischer Probleme mit den Pipelines ein großes Ölfeld schließt, ist hierfür ebenso ein Beispiel wie der fehlgeschlagene Terroranschlag auf das saudiarabische Ölverarbeitungszentrum Abqaiq im Februar, der allein zu einem weltweiten Preisaufschlag von zwei Dollar führte. In Abqaiq werden rund zwei Drittel der saudischen Gesamtproduktion von Rohöl verarbeitet. SaudiArabien als die „Zentralbank von Rohöl“ stellt mit über 7,5 mb/d mehr als ein Sechstel des Öls bereit, das auf dem Weltmarkt gehandelt wird, und muss daher als die kritische Größe bei der globalen Rohölversorgung angesehen werden.

Bis 2025 wird jedoch eine weitere Zunahme des weltweiten Rohölbedarfs von gegenwärtig 85 auf mindestens 115 mb/d erwartet. Ungeachtet der Anstrengungen zur Förderung alternativer Energieträger werden die fossilen Energiequellen bis zu 90 Prozent des weltweiten Nachfrageanstiegs decken müssen. Rohöl wird dabei vermutlich mit etwa 37 Prozent der global wichtigste Energieträger bleiben. Allerdings befinden sich 65 Prozent der weltweiten Rohöl und 34 Prozent der Gasreserven in der Region des Persischen Golfes, die traditionell politisch instabil ist und in der weiter eskalierende politische Konflikte vor allem innerhalb der arabischen Staaten zu befürchten sind. Bereits seit Ende der neunziger Jahre müssen zehn der 14 weltweit größten Erdölförderstaaten als politisch instabil gelten.

Wer jedoch die politische Lösung allein darin sucht, die Abhängigkeit von Erdölimporten aus dem Mittleren Osten zu verringern, indem man die Abhängigkeit von russischem Gas erhöht, wie dies Gerhard Schröder getan hat, schwächt die Versorgungssicherheit lediglich auf einer anderen Ebene. So erhöht sich die weltweite Nachfrage nach Erdgas, das schon heute ein Viertel des globalen Primärenergieverbrauchs deckt, um jährlich rund 3,5 Prozent bis 2020 mehr als jeder andere fossile Energieträger. Mit dem drastischen weltweiten Ausbau des Flüssiggasmarkts (Liquefied Natural Gas/LNG) wird sich dieser bis 2015 vermutlich auf 364 Millionen Tonnen pro Jahr verdreifachen. Das stärkt einerseits die Versorgungssicherheit insoweit, als der neue zusätzliche Energieträger global importiert und in Krisenzeiten per Tanker wie bei Erdöl zu einem anderen LNGExporteur umgeleitet werden kann. Andererseits nehmen durch das Entstehen eines ebenfalls globalisierten Erdgasmarkts auch hierbei die geopolitischen Risiken zu, da auch viele LNGExporteure innenpolitisch instabil sind und die Abhängigkeit von sicheren Schifffahrtsrouten und ihrer Nadelöhre (wie die Straßen von Hormuz, Bab elMandab und Malakka sowie der SuezKanal) steigen wird.

Weltweite Renationalisierungstendenzen

Auch die Auswirkungen der gegenwärtigen Renationalisierungstendenzen und eines weltweiten RessourcenNationalismus werden bisher in vielen Analysen und Prognosen kaum berücksichtigt. Empirische Erfahrung zeigt aber, dass hieraus vor allem in Nichtdemokratien geringere Effizienz, niedrigere Produktionsvolumen, völlig unzureichende Transparenz und ausufernde systemimmanente Korruption resultieren. Die staatlichen Energiekonzerne in Russland, wie Gazprom, sind ein deutliches Beispiel für derartige Folgen. Auch das Beispiel Venezuelas zeigt, dass die Wiederverstaatlichungspolitik zu einem dramatischen Absinken der Rohölförderung führt.

Gegenwärtig befinden sich etwa 72 Prozent der globalen Erdöl und 55 Prozent der Erdgasreserven in der Hand staatlicher oder semistaatlicher Unternehmen. Im Mittleren Osten werden heute rund 70 Prozent aller Ölgeschäfte durch staatliche Akteure getätigt. Auch in Ostasien werden rund 60 bis 70 Prozent aller Ölimporte über staatliche oder halbstaatliche Energiekonzerne abgewickelt. Vor dem Hintergrund der Konzentration der verbleibenden Öl und Gasreserven im Persischen Golf ist bereits heute eine zunehmende Veränderung des Machtgleichgewichts zwischen privaten und staatlichen Energiefirmen zu beobachten. Allein im Jahr 2005 wurden weltweit neue Geschäftsabschlüsse mit staatlich kontrollierten Öl und Gaskonzernen in einem Umfang von 30 Milliarden Dollar getätigt – dreimal so viel wie 2004! Durch die Renationalisierungspolitik schlug allein der russische Energiesektor dabei mit 20 Milliarden Dollar zu Buche.

Doch werden in den nächsten beiden Jahrzehnten mehr denn je alle Produktionskapazitäten der weltweiten Erdöl und Erdgasförderung benötigt. Entscheidend sind dabei nicht so sehr die Endlichkeitsszenarien für die einzelnen fossilen Rohstoffe. Vielmehr ist die tatsächlich auf den Märkten zur Verfügung stehende Menge und nicht das potenziell mögliche Produktionsvolumen entscheidend. So hat SaudiArabien ein gegenwärtiges Produktionsniveau von 10–11 mb/d. Im Jahr 2025 müsste SaudiArabien die Produktion auf über 20 mb/d steigern, wenn die globale Rohölversorgung gewährleistet sein soll. Tatsächlich kann Riad für diesen Zeitpunkt bisher lediglich ein Produktionsniveau von etwa 14–15 mb/d zusichern. Gleichzeitig muss die gegenwärtige Rohölproduktion im Persischen Golf um etwa 80 Prozent erhöht werden, wenn der erwartete Anstieg der weltweiten Energienachfrage um fast 50 Prozent bis 2020 bewältigt werden soll.

Die Iran-Krise und ihre energiepolitische Bedeutung

Der Iran ist nicht nur das mit Abstand bevölkerungsreichste Land im Mittleren Osten, sondern verfügt über die nach Russland zweitgrößten Erdgasreserven der Welt (16 Prozent) und inzwischen auch die zweitgrößten Erdölreserven nach SaudiArabien und noch vor dem Irak. So haben sich von 1980 bis 2004 die Ölreserven mehr als verdoppelt und sind damit stärker gestiegen als die im gesamten Mittleren Osten.

Darüber hinaus kontrolliert der Iran die Straße von Hormuz, die aufgrund des Öltransports von 17 mb/d – rund ein Fünftel des weltweiten Rohölbedarfs – das wichtigste, aber auch verwundbarste Nadelöhr des weltweiten Rohöltransports ist. Der Iran exportiert rund 2,5 mb/d (sechs Prozent der Weltexporte, Rang vier hinter SaudiArabien, Russland und Norwegen) seiner Gesamtproduktion von 4,1 mb/d (2005) und ist damit gegenwärtig der zweitgrößte Rohölproduzent innerhalb der OPEC.

2004 gingen allein 50 Prozent der Rohölexporte des Iran nach Asien und 34 Prozent nach Europa. Aufgrund der energiepolitischen Interessen Russlands, Chinas, Indiens und anderer Staaten wird die Machtposition des Iran beständig ausgebaut. Aufgrund der laufenden Verhandlungen dieser Staaten mit Teheran über neue zwei bis dreistellige Milliardengeschäfte läuft jegliche westliche Sanktionspolitik schon im Ansatz ins Leere.

Bezeichnend ist hierbei auch die russische Politik. Moskau hat zwar kein Interesse an einer iranischen Nuklearwaffenoption. Doch bedeutet dies nicht, dass Russland deswegen an einer Beilegung des Konflikts interessiert ist. Denn eine solche würde eine enge energiepolitische Zusammenarbeit zwischen der EU und Iran eröffnen, die den energie und geopolitischen Interessen Russlands widerspricht. Daher hat Moskau sein energiepolitisches Engagement im Iran parallel zu seiner Vermittlerrolle im Nuklearkonflikt verstärkt und versucht, durch Investitionen zumindest ein Mitspracherecht bei den zukünftigen Energieexporten Teherans zu erhalten. Solange dies nicht gewährleistet ist, präferiert Moskau, den derzeitigen diplomatischen Konflikt aufrechtzuerhalten. Dies erklärt auch, warum Russland und China den iranischen Präsidenten Mitte Juni zum jüngsten Gipfeltreffen der SchanghaiOrganisation für Zusammenarbeit eingeladen (und ihn damit international hoffähig gemacht) haben, was zur Proklamierung einer energiepolitischen Kooperation zwischen Moskau, Teheran und Peking geführt hat. Daher überrascht es nicht, wenn sich Achmadinedschad seiner neuen Machtposition zunehmend bewusst ist und keine Kompromissbereitschaft in der Nuklearfrage signalisiert. Auch die Benutzung der Ölwaffe durch Androhung eines Exportstopps wie Anfang Juni spiegelt das neue außenpolitische Selbstbewusstsein der iranischen Machtelite wider.

Doch solchen Drohungen steht die Verwundbarkeit des Iran gegenüber, die darin besteht, dass rund 80 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Rohölexport stammen. Dennoch lautet das politische Kalkül Teherans, dass ein Ausfall seiner Ölexporte von 2,5 m/d aufgrund der mangelnden globalen Reserveproduktionskapazitäten nicht über mehrere Monate durch andere Ölländer kompensiert werden kann. In einem solchen Krisenfall wird ein Anstieg des Ölpreises auf über 100 Dollar pro Fass erwartet, den auch die EU fürchtet, weshalb sie vor einem Ölimportboykott gegenüber dem Iran zurückschreckt.

Russlands Energieaußenpolitik

Deutschlands Energiepartnerschaft mit Russland trug vor allem in der Schröder-Ära Züge eines Sonderwegs, der innerhalb der EU Misstrauen erzeugte (wie bei der geplanten OstseePipeline) und nach der EU-Erweiterung noch weniger mehrheitsfähig war. Damit aber unterminierte Berlin eine kohärente gemeinsame EU-Politik gegenüber Moskau, das wiederum durch diese deutsche Politik in die Lage versetzt wurde, die einzelnen EUStaaten gegeneinander auszuspielen.

Während auch EUStaaten derzeit bei protektionistischen Renationalisierungskonzepten Zuflucht suchen, schafft Russland mit jedem Tag neue politischwirtschaftliche Tatsachen. Während Moskau innenpolitisch mit seiner Wiederverstaatlichungspolitik die marktwirtschaftliche Orientierung weitgehend aufgegeben hat, wird der Zugang ausländischer Unternehmen zu russischen Öl und Gasfeldern noch weiter erschwert. So gelten zukünftig als „strategische Öl und Gasfelder“ bereits solche, die mehr als 70 Millionen Tonnen Öl oder 50 Milliarden Kubikmeter Gas enthalten (zuvor lagen die Grenzen bei 150 Millionen Tonnen Öl und einer Billion Kubikmeter Gas). Zudem hat sich der Kreml geweigert, die Kontrolle über seine Pipelinenetze aufzugeben und sie ausländischen Unternehmen zu öffnen. Damit unterstehen dem Kreml die Förderlizenzen, das Pipelinenetz und das Exportmonopol. Unter diesen Umständen besteht gegenwärtig keine Aussicht auf eine Ratifizierung des Vertrags der Energiecharta und des Transitabkommens, was Moskau trotz des wiederholten Drängens der EU-Kommission und der Bundesregierung in den letzten Monaten klargestellt hat. Der Grund sind nicht primär ökonomische Motive, sondern die Auffassung, dass Energieressourcen und die Pipelinepolitik das wichtigste Instrument der russischen Außen und Sicherheitspolitik sind. Hier ist Moskau nicht an Marktwirtschaft, sondern an Stärkung seiner Monopolpositionen interessiert. Gazprom und der Kreml versuchen, Einfluss auf die gesamte Wertschöpfungskette in Deutschland und der EU zu nehmen, während gleichzeitig europäischen Unternehmen der gleiche Zugang in Russland schon im ersten Glied der Wertschöpfungskette verwehrt wird. Dazu hat Moskau den politischen Druck auf die EU erhöht und ist politisch willens, sogar die eigene Verlässlichkeit als Energiepartner in Frage zu stellen. Der Kreml geht dabei davon aus, dass Russland bei der grundlegenden Veränderung des Machtgleichgewichts von Energieproduzenten und konsumenten ohnehin am längeren Hebel sitzt.

Allerdings werden in Russland und auch im Ausland oft die zahlreichen innenpolitischen Instabilitätsfaktoren übersehen. So hat Russland in den nächsten 25 Jahren einen Investitionsbedarf von rund 900 Milliarden Dollar. Schon heute stagniert sowohl die Erdöl als auch Erdgasförderung, und Russland ist bei seinen Exporten in erheblichem Umfang auf Erdöl und Erdgas aus der Kaspischen Region abhängig. Das erklärt die umfangreichen russischen Aktivitäten zur Sicherung der regionalen Energieressourcen während der letzten zwei Jahre. Russland möchte durch langfristige Lieferverträge mit den kaspischen Regionalstaaten vollendete Tatsachen schaffen, bevor die EU zu einer gemeinsamen Energiepolitik gegenüber Zentralasien und dem kaspischen Becken in der Lage ist und den dortigen Regionalstaaten (und sich selbst) neue Diversifizierungsmöglichkeiten für ihre Energieexporte und importe eröffnet.

Die Zuverlässigkeit Russlands als Energielieferant ist auch deshalb fraglich, weil bisher nicht genügend Investitionen zur Steigerung der Erdgasproduktion getätigt worden sind. So geht die IEA von einer Versorgungslücke von bis zu 80–90 Milliarden Kubikmeter in einigen Jahren aus. Die Renationalisierungspolitik des Kremls sowie das Pipeline und Exportmonopol von Gazprom und die YukosAffäre haben jedoch das Investitionsrisiko erhöht und werden deshalb zu Investitionsverzögerungen und ausfällen führen.

Deutschland und die EU: Eine zukunftsweisende Energiepolitik?

Die bisherige Bilanz der Diskussionen um eine gemeinsame EU-Energiepolitik ist wenig ermutigend. Noch immer werden die globalen Herausforderungen und deren Auswirkungen auf die Gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik nur ungenügend wahrgenommen. Stattdessen haben die nationalen Egoismen innerhalb der EU wieder zugenommen und eine neue Ära des Protektionismus eingeläutet. Auch der deutsche Energiegipfel am 3. April ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. So wurde trotz der Investitionsversprechen der deutschen Energiewirtschaft von rund 80 Milliarden Euro weder die Frage der Versorgungssicherheit noch die Notwendigkeit einer Energieaußenpolitik oder ein zukunftsweisender Energiemix unter Berücksichtigung von Kernenergie und Kohle diskutiert. Stattdessen wurden diese Fragen um des Koalitionsfriedens und der Partikularinteressen der deutschen Industrie willen bis auf weiteres vertagt. Unter diesen Umständen ist die bis Ende 2007 angestrebte Ausarbeitung einer wirklich zukunftsfähigen Gesamtstrategie für Energiesicherheit bis 2020 weiterhin unsicher.

Immerhin zeigt sich nun in Deutschland ein breiteres öffentliches Problembewusstsein. Doch in der Frage einer gemeinsamen europäischen Energiesicherheit ist auch Deutschland zurückgerudert und sucht sein Heil offenbar in einer primär nationalstaatlichen Energiepolitik. So sprach sich Deutschland auf dem EU-Gipfeltreffen im März gegen die Übertragung von Kompetenzen in der Energiepolitik an die EU aus und wies mit Nachdruck eine gemeinsame Bevorratungspolitik von Erdgas zurück. Das deutsche Wirtschaftsministerium und die deutsche Gaswirtschaft fürchten, dass die EU die deutschen Gasspeicher vergemeinschaften und „entstaatlichen“ will, und benutzen dies seitdem als Totschlagargument gegen eine gemeinsame EU-Energiepolitik insgesamt. Dabei wird übersehen, dass nationale Regulierung in einer globalisierten Erdöl und zukünftig auch Erdgaswirtschaft kaum noch sinnvoll ist und dass die deutschen Gasspeicher für ein gemeinsames Krisenmanagement sowie eine Bevorratungspolitik ohnehin nicht ausreichen. Aus der Sicht anderer EUStaaten ist das Absichern nationaler Gaslieferungen und bevorratung für Berlin offenbar wichtiger als die Energie und Versorgungssicherheit der ganzen EU. Deutschland erscheint so als reicher Energieegoist, der zwar vom Binnenmarkt profitieren will, aber die Solidarität in einer Krisensituation vor allem den schwächeren EUStaaten verweigert.6

Auch der deutsche Hinweis, dass die Zusammensetzung des Energiemixes weiterhin ausschließlich in der Kompetenz der Mitgliedsstaaten liegt, hat primär mit dem Atomausstieg und dem Koalitionsfrieden zu tun, die keiner Mehrheitsentscheidung der EU unterworfen sein sollen. Doch auch die größten Volkswirtschaften der EU sind inzwischen zu klein, um einen zukünftigen nationalen Energiemix allein und ohne Berücksichtigung der Interessen der Nachbarstaaten sinnvoll bestimmen zu können. In Deutschland ist die Energiepolitik das am wenigsten politisch mehrheitsfähige Feld der nationalen EUPolitik. Eine „EU à la carte“ ist jedoch auch für Deutschland nicht möglich. Mehrheitsentscheidungen können nicht nur in den Politikfeldern befürwortet werden, in denen die eigene nationale Position die größten Mehrheiten innerhalb der EU verspricht. Vielmehr zeigt sich eine glaubwürdige EU-Politik gerade in der Bereitschaft, EUMehrheitsentscheidungen auch für eigene Minderheitenpositionen zu akzeptieren.

Eine grundlegende Umkehr von der „energiepolitischen Geisterfahrt Deutschlands“7 ist noch nicht zu erkennen. Wie bei vielen anderen Reformen werden vorrangig innen und parteipolitische Problemfelder identifiziert, während die Diskussion einer strategischen Zielorientierung der deutschen und europäischen Energiepolitik weitgehend fehlt. Deutschland und die EU müssen zukünftig gemeinschaftliche Mechanismen entwickeln sowie den politischen Realitäten auf internationaler Ebene die gebührende Aufmerksamkeit schenken. Dies gilt insbesondere für Deutschland, das als rohstoffarmes Land mit seinem Status als Exportweltmeister mehr als alle anderen Staaten auf eine funktionierende Weltwirtschaftsordnung, politische Stabilität in den Energieförderstaaten sowie sichere Transportrouten zu Lande und zu Wasser angewiesen ist.

Wenn die Bundesregierung wirklich die nationale Energiesicherheit stärken will, muss sie eine verstärkte Diversifizierung der Energiequellen und importe, offene Weltmärkte und eine erhebliche Erhöhung der Forschungsgelder anstreben. Dem widerspricht der deutsche Kernenergie und Steinkohleausstieg ebenso wie eine noch größere Erdöl und vor allem Erdgasimportabhängigkeit von Russland. In der mittelfristigen Perspektive bis 2030 werden alle Energieträger für einen möglichst breiten Energiemix benötigt. Zudem kann die Lösung nicht weniger, sondern nur mehr Marktwirtschaft lauten. Dies widerspricht nicht der Notwendigkeit, dass gleichzeitig der Nationalstaat und die EU eine größere Rolle bei Fragen der Energie und Versorgungssicherheit spielen müssen.

Deutschland muss sich bewusst werden, dass hohe Energiepreise vor dem Hintergrund einer verschärften globalen Ressourcenkonkurrenz ein zunehmender Standortnachteil gegenüber den USA und Asien werden. Daher führen, wie auch der G8-Gipfel zeigte, ein zunehmender nationaler Protektionismus und Ressourcennationalismus sowie eine provinzialistische Schrebergartenmentalität innerhalb der EU nur ins energie und außenpolitische Abseits.

Dr. FRANK UMBACH, geb. 1963, ist bei der DGAP zuständig für das Asien-Pazifik-Programm und internationale Energiesicherheit.

  • 1Vgl. Frank Umbach: Europas nächster Kalter Krieg, Internationale Politik, Februar 2006, S. 6–14.
  • 2Vgl. Frank Walter Steinmeier: Energie- und Außenpolitik ist Friedenspolitik, Handelsblatt, 23.3.2006, S. 3.
  • 3Vgl. Thomas L. Friedman: The First Law of Petropolictics, Foreign Policy, Mai/Juni 2006, S. 28–36.
  • 4Winand von Petersdorff: Energie von Schurken, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.1.2006, S. 32.
  • 5Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt: Energieversorgung für Deutschland – Statusbericht für den Energiegipfel am 3. April 2006, Berlin, März 2006, www.bmwi.de/BMWi/Navigation/Service/bestellservice,did=123650.htm.
  • 6Vgl. Wolfgang Proissl: Druckverlust in Europa, Financial Times Deutschland (FTD), 27.3.2006, S. 26.
  • 7Christian Hacke: Ausstieg heißt Abstieg, FTD, 28.6.2006, S. 26.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 52-59

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