Buchkritik

28. Aug. 2023

Russische Blackbox

Drei Bücher und ein Ärgernis: Wer verstehen will, wie sich Russland in Zukunft entwickeln wird, braucht eine solide historische Analyse des Angriffskriegs auf die Ukraine. Denn Putin zieht aus der ­Vergangenheit Legitimation für die Politik der Gegenwart.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Wer Russlands kommende Entwicklung verstehen will, der muss seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine seit Februar 2022 erklären, dessen historische Wurzeln analysieren und auch die über­sehenen Anzeichen für diesen Zivilisationsbruch. Dabei wird es immer schwieriger, den Dynamiken in Russland selbst zu folgen, wie kürzlich der eher überraschende Marsch der Privatarmee Wagner auf Moskau gezeigt hat. Russland wird zur Blackbox, die Kremlastrologie ist zurück.

Die Wissenschaftlerin in der Abteilung für Kriegsstudien am King’s College in London, Jade McGlynn, hat mit „Memory Makers. The Politics of the Past in Putin’s Russia“ ein erhellendes Buch vorgelegt. Es zeigt, wie der Kreml die Geschichte Russlands neu schreibt, um seine aggressive Gegenwart zu rechtfertigen. Das Buch ist in seinen Grundzügen zwar vor der Invasion in der Ukraine entstanden, zeigt aber wichtige Elemente, die zu diesem Krieg führten. Westliche Beobachter hätten die Wirkung russischer Propaganda und historischer Obsession auf die russische Elite und Gesellschaft lange unterschätzt, so die Autorin.

Die Instrumentalisierung von Geschichte, die Schaffung eines Mythos vom exklusiven Heldentum und einer russischen Opferrolle wurden von der Unsicherheit befördert, die aus einer ideologischen Leere nach dem Ende der Sowjetunion und nicht aufgearbeiteter historischer Traumata im 20. Jahrhundert entstanden ist. Der Kreml und seine Berater haben erkannt, dass die Macht der Erinnerung enorm ist und sie dazu genutzt, die russische Gesellschaft auf Krieg und Repression vorzubereiten, so McGlynn.

Die russische Regierung und staatliche Medien haben systematisch als „Memory Maker“ Geschichte in das Zentrum der politischen und populären Kultur gebracht. Damit haben sie die Grundlage für Manipulation, Mobilisierung und Legitimation durch Geschichte gelegt. Historisches Framing dient nicht nur der Legitimierung der Regierungspolitik, sondern der Neuinterpretation von Patriotismus, der Bedeutung von ­Russischsein sowie der „Wahrheit“ selbst. ­Russische Staatsmedien nutzen das historische Einrahmen und Designen von Geschehnissen, um ihren Konsumenten das Gefühl zu geben, sie nähmen Teil oder rekonstruierten heroische Episoden aus der eigenen Vergangenheit. Zugehörigkeit wird durch Wiederholung beziehungsweise durch das „Nachspielen von Geschichte“ erzeugt.

So ist der Kampf gegen sogenannte Nazis in der Ukraine eine Wiederholung des Heroismus im Kampf gegen die deutschen Faschisten im Zweiten Weltkrieg. Zentral ist für McGlynn, dass der Kreml und seine Medien den wichtigen Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung ­auflösen.

Während Geschichte eine auf Fakten basierte Präsentation von Ereignissen ist, stellt Erinnerung die Sammlung und Repräsentation von gelebten Erfahrungen dar. Somit wird zu Geschichte und damit Fakten, was tatsächlich individuelle und kollektive Erinnerung ist. Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg werden mit Veteranengeschichten, historischen Analogien und Inszenierungen instrumentalisiert, um die Akzeptanz von Krieg in der heutigen Gesellschaft zu erreichen. Geschichte übernimmt damit die Funktion von Ideologie und wird neben Erinnerungspolitik zum wichtigsten Instrument der russischen Führung, um den Identitätsdiskurs in Russland in ihrem Sinn zu strukturieren.

Dabei besteht die russische postsowjetische Erzählung aus drei Elementen: Russland braucht einen starken Staat, es hat einen eigenen Entwicklungspfad, der sich vom westlichen Europa unterscheidet, und es ist eine messianische Großmacht, die der Welt etwas Einzigartiges anzubieten hat. Diese drei Elemente sind Kern der russischen historischen Ideologie.

Mit dem Krieg gegen die Ukraine hat für die Autorin die russische Führung damit begonnen, ihre eigenen Manipulationen und Lügen zu glauben. Für McGlynn kann Russland nur Frieden mit seinen Nachbarn schließen, wenn es seine eigene Geschichte aufgearbeitet hat. Jedoch ist genau das Gegenteil der Fall: Putin instrumentalisiert und interpretiert die russische Geschichte neu zur Legitimation seiner imperialen und kolonialistischen Politik.



Eine Beziehungsgeschichte

Der Historiker und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Martin Schulze Wessel, hat mit „Der Fluch des Imperiums: Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ ein wichtiges und geradezu spannendes historisches Buch zum Verständnis der heutigen Entwicklungen um den Russland-Ukraine-Krieg geschrieben. Dabei handelt es sich um mehr als eine weitere Abhandlung zur russischen Imperialgeschichte; es ist eine Beziehungsgeschichte zwischen Russland, der Ukraine, Polen und in Teilen Preußen.

Erst mit dieser Vierecksgeschichte wird klar, warum die Ukraine aus dem historischen Gedächtnis ihrer Nachbarn verschwunden ist. Mit der Ausbreitung russisch-imperialer Herrschaft seit Peter dem Großen wurde die Ukraine durch die sukzessive Abschaffung des Hetmanats, dem Vorgänger des heutigen ukrainischen Staates, ein Teil des inneren Imperiums. Sie wurde ins Zarenreich integriert und aus den Geschichtsbüchern beseitigt. Polen dagegen genoss nach den Teilungen im 18. Jahrhundert und der kurzzeitigen Schaffung eines vom Zarenreich abhängigen Staates (1815–1831) eine gewisse Autonomie und zählte zum äußeren Imperium. Beide verloren infolge der russischen Expansion ihre Staatlichkeit und entwickelten einen vergleichbaren Befreiungsnationalismus.

Im Zarenreich entstand Ende des 19. Jahrhunderts ein Widerspruch zwischen dem eigenen imperialen Hegemonialanspruch sowie Rückschlägen im Wettbewerb mit den europäischen Großmächten und einer Marginalisierung gegenüber einem fortschrittlichen europäischen Diskurs. Dieser Gegensatz führte zur Vorstellung eines russischen Exzeptionalismus und der Verbreitung von antieuropäischen Ideen. Das auch von McGlynn diskutierte Konzept einer besonderen russischen Mission entstand laut Schulze Wessel in der Auseinandersetzung des Imperiums mit Polen und der Ukraine. So wurde im 19. Jahrhundert das nach Unabhängigkeit strebende Polen als verlängerter Arm des westlichen Europas gesehen – mit dem Ziel, das Zarenreich zu schwächen. Gleichzeitig wurden die ukrainischen Autonomiebestrebungen als polnische Intrige interpretiert, wiederum mit westeuropäischem Einfluss.

Russlands aktueller Angriffskrieg gegen die Ukraine sowie die scharf antiwestliche Rhetorik müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Im Zarenreich entstand ein Zusammenhang zwischen außenpolitischen Entwicklungen und der Konstruktion kollektiver Identität. Außenpolitik generiert als Mächtepolitik imperiale Ideologie. Die Ukraine als inneres Imperium spielt seit dieser Zeit eine zentrale Rolle im russischen Selbstverständnis als Großmacht.

Putin zieht für den Autor aus der Vergangenheit Legitimation für die Politik der Gegenwart. Er sieht sich in der Tradition Peters des Großen und interpretiert die Politik von Alexander III. als Blaupause seiner eigenen Politik. In diesem Denken baut sich der russische Präsident aus historischen Versatzstücken eine neue Realität: die „heilige gemeinsame Vergangenheit“ von Russen und Ukrainern, die Dämonisierung der ukrainischen Führung in der Tradition von Stepan Bandera und als fünfte Kolonne des Westens. Dieses ideologische Konstrukt aus historischen ­Zitaten existierte in Russland bereits seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Putins ukrainische Obsession nahm hier ihren Anfang. Für Schulze Wessel liegt der Fluch des Imperiums in der Verbindung von imperialer Politik, Außenpolitik und Identitätsentwürfen, in der sich imperiale Traditionen mit russischem Nationalismus verknüpfen. In diesem großrussischen Nationenkonzept stellt die Ukraine ein fast schon existenzielles Element dar, das von der eigenen Tradition nicht zu trennen und zentral für die Ausübung imperialer Macht ist.

Dieses Identitätsproblem kann nur gelöst werden, wenn die Russen sich nicht mehr mit dem Imperium identifizieren und ihren eigenen Nationenbegriff klären, so der Autor. Davon sind sie jedoch weit entfernt.



Wandel zum Ideologen

Der langjährige Russland-Korrespondent der ZEIT, Michael Thumann, hat mit „Revanche. Wie Putin das bedrohlichste ­Regime der Welt geschaffen hat“ ein Vermächtnis seiner langjährigen Arbeit in Russland vorgelegt. Dabei besticht das Buch vor allem durch seine Klarheit und die Authentizität der Vielzahl von persönlichen Erlebnissen des ­Autors in Russland.

Dem Buch liegen drei zentrale Element zugrunde. Erstens: Russlands Präsident Putin nimmt Rache am inneren und äußeren Feind für den Zerfall der Sowjet­union und das Schrumpfen des russischen Nationalstaats. ­Zweitens: Russland reagiert nicht auf die Handlungen des Westens, sondern es agiert aus sich selbst heraus. Thumann bezeichnet die besonders in der deutschen Politik und Öffentlichkeit ausgeprägte Suche nach den eigenen Fehlern als sinnlos, beeinflusse doch unser Handeln Russland kaum. Und drittens: Der Aufstieg Putins ist eine Spielart des radikalen neuen Nationalismus, den wir auch aus der Türkei, Ungarn oder Polen kennen.

Sind die ersten beiden Punkte wichtig für das Verständnis von Putins Russland, so sollten doch Zweifel an dem Vergleich mit anderen Nationalstaaten geäußert werden, ebenso wie an der These, dass der neue Nationalismus zum Krieg führt. Die beiden zuvor rezensierten Autoren haben deutlich gemacht, dass Putin sich in einer imperialen russischen Tradition sieht und die Ukraine in dieser Interpretation der russischen Geschichte ein existenzieller Teil des Imperiums ist. Somit sind die aktuellen Ereignisse nur vor dem Hintergrund eines Zusammenspiels von Innen- und Außenpolitik zu verstehen.

Putins Wandel vom Pragmatiker zum Ideologen sieht Thumann zu Recht in der inneren Legitimationskrise des Regimes begründet. Diese ist eine Folge der Ereignisse im Kontext der Rückkehr Putins ins Präsidentenamt 2012, der Massendemonstrationen einer städtischen Mittelschicht vorausgingen, die politische Teilhabe einforderte. Der Autor verdeutlicht die Wandlungsfähigkeit Putins – von einem europafreundlichen Pragmatiker hin zu einem antiwestlichen Ethnonationalisten. Dabei seien es nicht in erster Linie externe Ereignisse, die zu einem Umschwenken in der russischen Politik geführt hätten, sondern innere Entwicklungen. In der Legitimationskrise sei Putin ein Nationalist geworden, auf der Suche nach einer Ideologie, die seine Macht dauerhaft legitimiert.

Dabei unterschätzt der Autor die imperiale Tradition, die Putin als wichtige Legitimations­ressource erkannt hat, die in erster Linie durch das Zusammenspiel von inneren und äußeren Faktoren funktioniert. Jedoch muss man Thumann recht geben, dieser Diskurs erfolgt nicht durch das Zutun des Westens, sondern in einer Interpretation der Gegenwart durch die historische Linse und den Glauben an die eigene Propaganda.



Emotionen vor Sachlichkeit

Der britische Sicherheitsexperte Keir Giles und langjährige Beobachter der Entwicklungen in Russland hat mit „Russia’s war on everybody and what it means for you“ ein Buch über die verschiedenen Mittel der russischen Einflussnahme in Russland sowie auf westliche Staaten und Gesellschaften geschrieben. Dabei geht er durch den gesamten Instrumentenkasten der russischen hybriden und militärischen Einflussnahme, Zersetzung und Manipulation. Auch wenn Kritiker den Autor immer wieder als Pessimisten bezeichnet haben, was die Entwicklung Russlands betrifft, so ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine für Giles doch ein Beweis dafür, dass es richtig war, grundsätzlich mit den negativsten Szenarien zu rechnen.

Keir Giles ist gewiss ein Kenner der russischen Einflussnahme; trotzdem ist dieses Buch ein Ärgernis. Der Autor zitiert immer wieder die gleichen Politiker und Experten, um seine Thesen zu entwickeln, verliert sich dabei aber eher in Selbstbestätigung, Meinungen und ideologischen Phrasen, als tatsächlich etwas Neues zum großen Markt der Literatur zur russischen hybriden Kriegsführung hinzuzufügen. Mit diesem Buch positioniert sich der Autor, indem er sich von Gleichgesinnten bestätigen lässt, ohne dabei neue oder originelle Ideen zur Debatte beizutragen.

Gleiches gilt für die Frage, wie sich Russland künftig entwickeln wird: Sachlichkeit sollte vor Ideologie und Emotionen gehen; dieses Buch ist dazu leider im Gegensatz zu den drei anderen Büchern kein Beitrag.

 

 

Jade McGlynn: Memory Makers. The Politics of the Past in Putin’s Russia.London: Bloomsbury Publishing 2023, 248 Seiten, 20,00 Pfund

 

Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums: Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte.München: C.H.Beck 2023, 352 Seiten, 28,00 Euro

 

Michael Thumann: Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. München: C.H.Beck 2023, 288 Seiten, 25,00 Euro



Keir Giles: Russia’s war on everybody  and what it means for you. London: Bloomsbury Publishing 2023, 264 Seiten, 20,00 Pfund

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 120-123

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Dr. Stefan Meister leitet das Zentrum für Ordnung und Governance in Osteuropa, Russland und Zentralasien der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).