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01. Sep 2008

Revolution des Selbermachens

Marke Eigenbau: Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion

Es gibt sie noch, die guten alten Massenmärkte. In Teilen ist die Welt der Massenproduktion noch so intakt, wie sie es für die Volumenanbieter bis weit in die Nachkriegszeit hinein war. Und das wegen und nicht trotz inszenierter oder systematisch auftretender Angebots-, Nachschub- und Lieferengpässe. Es sind die Reste jener Versorgungsmentalität, die Henry Ford Anfang des letzten Jahrhunderts mit dem denkwürdigen Satz auf den Punkt gebracht haben soll: „Der Kunde kann sein Auto in jeder gewünschten Farbe bekommen – vorausgesetzt sie ist schwarz.“ Danach ließ er über 15 Millionen schwarze T-Modelle vom Band rollen, weshalb nicht nur diese Art der teilautomatisierten Fließbandproduk-tion nach ihm benannt wurde, sondern gleich eine ganze Epoche der Wirtschaftsgeschichte.

Massenhaft wurde im Fordismus ein und dasselbe Produkt industriell hergestellt, um den ersten großen Konsumhunger zu stillen. Der aufgrund der Kostenreduktion durch die Automatisierung stetig fallende Preis war das wichtigste Argument für steigenden Absatz. Erst in den sechziger Jahren, mit zunehmend gesättigten Märkten, änderte sich das. Produktdifferenzierung lautete das Gebot der Stunde. Auf einmal konnte jedes Auto in zig Modellvarianten, auf Wunsch auch in mauve-metallic, bezogen werden. Brand Stretching – die Ausdehnung einer Marke über möglichst viele Produktkategorien – wurde zur wichtigsten Taktik im Kampf um Supermarkt-Regalmeter und Aufmerksamkeit, um Marktanteile und Mind Share.

Die zugrunde liegende Logik der Massenproduktion blieb davon im Wesentlichen unangetastet. Noch immer wird die Produktion und Distribution von Gütern zu großen Teilen so organisiert, wie es seit jeher in den Lehrbüchern der Betriebswirtschaftslehre steht: in auf Effizienz getrimmten Fabriken mit hochgetakteten Fertigungsstraßen und über klassische Vertriebskanäle, die diese Strukturen widerspiegeln und einen möglichst reibungslosen Abverkauf garantieren. Wal-Mart, die großen Elektronik-Fachmärkte und die Mega-einkaufszentren sind die gut befestigten Bastionen dieser Art von Konsum. Man kann schlecht bestreiten, dass sie ihren Teil dazu beitragen, dass das alte Versprechen der sozialen Marktwirtschaft „Wohlstand für alle!“ in den Industrieländern heute im Großen und Ganzen als eingelöst betrachtet werden kann – zumindest was die Versorgung mit materiellen Gütern angeht. Auch wenn wir uns damit von der ebenfalls nicht ganz unproblematischen Forderung des Utilitarismus, das „größte Glück der größten Zahl“ anzustreben, immer weiter zu entfernen scheinen.

Man kann sogar argumentieren, die Logik der Massenproduktion ist auf einem historischen Allzeithoch angelangt. Durch die Globalisierung der letzten Jahrzehnte wurde ein Turbo zugeschaltet. Die globalisierten Wertschöpfungsketten sind zu einem weltumspannenden Netz geworden, das mehr nach den modifizierten Uraltregeln des Manchester-Kapitalismus zu funktionieren scheint, als ein neues Paradigma erkennen zu lassen. Produziert wird dort, wo es am billigsten ist, und zwar so massenhaft wie irgend möglich. Offshoring, im Gegensatz zum Outsourcing, bezeichnet die Praxis, nicht nur Teile der Wertschöpfung auszulagern, sondern ganze Fabriken und Produktionsanlagen an ihren angestammten Standorten abzubauen und in Regionen mit niedrigen Lohnkosten – meist ist das China – neu zu errichten. Keine Frage: Vom Weltall aus gesehen ist unser Planet ein Planet der distribuierten Massenproduktion. Mehr als die Hälfte der 100 größten Wirtschaftseinheiten der Welt sind transnationale Konzerne, keine Staaten.1 Der globale Handel mit Gütern und Dienstleistungen hat sich seit Mitte der achtziger Jahre in etwa verdreifacht; der Containerumschlag wuchs im gleichen Zeitraum um den Faktor fünf. Ein gewaltiges Volumen an Massenware aus der globalisierten Massenproduktion, das die Weltmärkte flutet und den materiellen Wohlstand der westlichen Noch-Industrienationen auf ein historisch nie dagewesenes Niveau katapultiert hat.

Eine andere Welt

Wenn das alles wäre, könnte vom Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion nicht die Rede sein. Aber es gibt eben auch ein diffuses Unbehagen. Es gibt spektakuläre Skandale wie den um bleiverseuchtes Kinderspielzeug aus China, im Zuge dessen der US-Spielzeuggigant Mattel im August 2007 insgesamt fast 19 Millionen Spielzeuge aus den Kinderzimmern dieser Welt zurückrufen musste. Es gibt militante Proteste, wo immer sich die mächtigen Wirtschaftsnationen der Welt treffen, um die Regeln des Spieles neu festzulegen, wie im Sommer 2007 am Zaun von Heiligendamm. Selbst im Mutterland des Konzernkapitalismus, den USA, gibt es eine wachsende Skepsis gegenüber der Globalisierung und dem offenen Welthandel. Angesichts eines bedrohlich angeschwollenen Außenhandelsdefizits und einer wachsenden Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern im Land konnten im Dezember 2007 laut Umfrage nur noch 28 Prozent der US-Amerikaner der Globalisierung der amerikanischen Wirtschaft etwas Positives abgewinnen, gegenüber 58 Prozent, die sie ablehnten.

Und es gibt eine alternative, kleinteilig strukturierte und dennoch global vernetzte Ökonomie: den Aufschein einer Realität jenseits der Massenproduktion, eine andere Welt, die nicht nur möglich ist, sondern in Grundzügen schon erkennbar vor uns liegt. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion ist keine spektakuläre, lautstarke und publikumswirksame Veranstaltung. Man muss schon genau hinschauen, um ihn dingfest zu machen und die Anzeichen des Kommenden dahinter zu erkennen. Es wird keine Entscheidungsschlacht geben, denn die Auflehnung gegen die Massenproduktion hat eher die Form einer klandestinen Widerstandsbewegung, eines Guerillakriegs, wenn man es pathetisch mag. Dennoch breitet sie sich individuell und verstreut überall aus, gewinnt Anhänger, Freunde und Sympathisanten.

Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion steckt hinter Independent Labels in Musik und Mode, einer neuen Vielfalt auf dem Zeitschriftenmarkt und dem Boom auf dem Kunstmarkt. Er äußert sich in der Wiederbelebung alter, längst ausgestorben geglaubter Handwerkstechniken und Gewerke. Er greift um sich mit dem Boom der Biobranche, der wachsenden Bedeutung fair gehandelter Produkte und regionaler Produktionskreisläufe. Er steckt hinter der wachsenden Open-Source-Bewegung, der Mitmach-Enzyklopädie Wikipedia und dem Siegeszug des Firefox-Browsers. Er verbindet Tüftler und Hobbybastler mit Künstlern und Kunsthandwerkern, Post-New-Economy-Start-up-Gründer mit Polit- und Sozialaktivisten der nächsten Generation. Vielleicht ist er nur deshalb noch nicht als Massenbewegung erkannt worden, weil er verstreut stattfindet und mannigfaltige Formen annimmt. Aber die Revolution des Selbermachens, der Eigeninitiative und der Selbstorganisation wird mittelfristig auch die Landschaft der Organisationen und die Wirtschaftsstruktur verändern.

Dennoch wäre es irreführend, von einer neuen Sozialen Bewegung zu sprechen, wie sie etwa die Frauen- oder die Friedensbewegung waren. Die meisten der Akteure verfolgen in erster Linie keine politischen Ziele, sondern ökonomische und private: das bessere, sinnvollere Leben hier und jetzt. Wir sind zudem davon überzeugt, dass die sich abzeichnende Renaissance von kleinteiliger Manufakturproduktion und unternehmerischer Eigeninitiative gepaart mit digitaler Technologie nicht nur den Industrieländern den Weg aus dem Dilemma von Massenarbeitslosigkeit auf der einen, Massenunzufriedenheit auf der anderen Seite weist. Auch für die ärmsten Länder Afrikas, Südamerikas und Asiens bietet eine wachsende Zahl unabhängiger und vernetzter Produzenten Chancen, lokal prosperierende Einheiten zu schaffen, die an den Weltmarkt angekoppelt sind. Den Ausbeutungsverhältnissen einer globalisierten Industrieproduktion setzen wir die Vision einer nachhaltigen Produktion hochwertiger Produkte zu fairen Preisen entgegen, die den Wert menschlicher Arbeit und die Würde des Produzenten anerkennt; Produkte, die gekauft werden von Verbrauchern, die Konsum als strategische Entscheidung verstehen. Nicht zuletzt werden Parteien, öffentliche Einrichtungen und staatliche Institutionen die Kraft zu spüren bekommen, die von den neuen Möglichkeiten zur Partizipation und vom Open-Source-Gedanken ausgeht. Am Ende dieser Vision stehen nicht nur eine humanere Arbeitswelt, die dem Einzelnen mehr Raum zur persönlichen Entfaltung bietet, sondern auch ein intakteres, weil interaktiveres Gemeinwesen. Von daher ist die Revolution des Selbermachens am Ende vielleicht doch politischer als alle politischen Bewegungen der jüngsten Zeit.

Eine ernsthafte Marke

Um es gleich vorwegzunehmen: Wir sind keine Freunde des Konsumverzichts und keine Feinde des Logos oder gar der Idee der Marke. Wir glauben an die Kräfte der Marktwirtschaft, nicht zu verwechseln mit dem realexistierenden Konzernkapitalismus. Um es mit den Worten von Günter Faltin, dem Gründer der Teekampagne und Verfechter des Volks-Entrepreneurship, zu sagen: „Wirtschaft ist zu wichtig, um sie den Großen zu überlassen.“ Wir glauben, dass die Globalisierung zwar ihre unverkennbaren Schattenseiten hat, aber grundsätzlich noch zu retten ist. Wir sind davon überzeugt, dass der zweite alles überragende Großtrend unserer Zeit, die Digitalisierung, dabei helfen wird, Negativeffekte der Globalisierung zu korrigieren und auszubalancieren – und positive Effekte in einer globalen Ökonomie zu verstärken. Die Marke Eigenbau ist einer der stärksten Hebel, dieser Vision zur Durchsetzung zu verhelfen. Es ist an der Zeit, ein Wortpaar zu rehabilitieren, das aus dem Blickwinkel der Massenmärkte heraus abfällig immer nur eine improvisierte Second-Best-Lösung bezeichnete. Die längste Zeit war Marke Eigenbau ein unzulänglicher Notbehelf all derer, die keinen Zugriff auf die Segnungen der echten Marken und der Massenproduktion hatten.

Unter Bedingungen des materiellen Überflusses, wie sie heute bei uns herrschen, wachsen der Marke Eigenbau ganz andere Qualitäten zu. Sie kommt aus der Schmuddelecke heraus und wird zum echten Distinktionsmerkmal – eine Eigenschaft, die lange Zeit nur den industriell hergestellten und geschickt vermarkteten Lifestyle-Marken vorbehalten war. Deshalb muss man die Marke Eigenbau auch buchstäblich als Marke ernst nehmen und danach fragen, was ihr Aufstieg für die Märkte der Zukunft bedeutet. Sie ist ein ähnliches Zeitsymptom, wie es die Herausbildung des Markenartikels für die Ära der Massenproduktion war. Wenn die Marke Eigenbau hip wird, hat die mühsam mit den Mitteln der Markenkommunikation aufgebaute und teuer gepflegte Marke ein Problem. Ihre Künstlichkeit wird im Vergleich immer erkennbarer. In der Diskussion darüber, welches die wertvollste Marke der Welt ist oder welchen Marken das 21. Jahrhundert gehören wird, tauchte die Marke Eigenbau bislang nicht auf. Das dürfte sich in absehbarer Zeit ändern. Mehr noch: Sie wird die Spielregeln für Marketing und Markenführung insgesamt grundlegend verändern.

Wie die Marke als modernes Phänomen Ausdruck des Massenzeitalters war, so findet die kommende Ära der Individualität ihre Entsprechung in der Marke Eigenbau. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Individualisierung als überragender Großtrend des 20. Jahrhunderts bisher an entscheidender Stelle stehen geblieben ist. Sie beschränkt sich weitgehend auf die Bereiche Konsum und Freizeit. Individualität im 21. Jahrhundert wird hingegen stärker davon handeln, wie wir arbeiten, produzieren, Geld verdienen und uns unseren Tag einteilen. Erst „wenn die Prinzipien des Konsums – Selbstbestimmung und freie Auswahl – sich auch in der Arbeitswelt vollends durchgesetzt haben werden, wird man von einer Individualisierung sprechen können, die den Namen verdient hat.“2 Es liegt auf der Hand, dass es nicht ganz reibungslos vonstatten gehen kann, wenn Türsteher und Topentscheider entmachtet, Institutionen in ihrer Autorität in Frage gestellt werden. Die Selbstermächtigung des Einzelnen geht zulasten von institutionellen Profis und Experten, die ihre Felle davonschwimmen sehen. Auf dem Terrain der Marke wird dieser Konflikt als Stellvertreterkrieg ausgetragen.

Um ein Gefühl für die wahren Chancen der Marke Eigenbau zu entwickeln, müssen wir nicht nur die Stärken des Konzepts Marke in den Blick nehmen, sondern auch dessen Schwächen und Konstruktionsfehler erkennen – mithin die Gründe dafür, warum das Wort Marketing bei so vielen Menschen heute einen so schalen Beigeschmack auslöst. Wenn wir nach den Möglichkeiten der Marke Eigenbau suchen, müssen wir herausfinden, was eigentlich das Problem von Massenmarketing ist. Dabei wird sich zeigen, dass paradoxerweise über den Umweg der Massenpsychologie der Marke selbst eine insgeheime Verachtung für die Masse tief in die Fasern eingewoben ist, eine Verachtung für ihre Adressaten und Verwender also. Der verheerende und bis heute nachwirkende Kurzschluss bestand darin, nur weil man es mit Produkten aus der Massenproduktion zu tun hatte, die massenhaft vertrieben wurden, auch die Konsumenten nur noch als ominöse Masse zu begreifen. Die Psychotechniker der Werbung übertrugen die zweifelhaften Erkenntnisse der Massenpsychologie eins zu eins auf ihre Arbeit. Oberstes Ziel der Marke war es fortan, den kritischen Verstand des Verbrauchers zu unterlaufen und ihn bei seinem primitiven Reptiliengehirn zu packen.

Das Erbe der Massenpsychologie ist in der Branche ungebrochen wirksam und hat bis heute mehrere Stufen der Verfeinerung durchlaufen. Die Grundannahmen wurden dabei nie über Bord geworfen: Der Mensch als Konsument ist kein rational denkendes, sondern ein trieb- und instinktgesteuertes Wesen, dessen unbewusste Sehnsüchte adressiert werden müssen. So avancierte das Marketing zur Königsdisziplin der Betriebswirtschaftslehre. In den Unternehmen, die ihre Produktionsabläufe weitgehend outgesourced hatten, waren die Marken bald die wichtigsten Aktivposten der Bilanz und wurden mit entsprechendem pseudowissenschaftlichen Aufwand gehegt und gepflegt. Die fulminanteste Kritik am Geschäftsgebaren der Marken in jüngerer Zeit heißt „No Logo!“ und stammt von der Kanadierin Naomi Klein.3 Sie zielt nicht nur ins Herz des Ideenorganismus Marke, sondern darüber hinaus auf die globalen Produktionsbedingungen, die durch den Siegeszug der „Superbrands“ etabliert wurden. Weil sich die Marken als eigentliche Treiber des Mehrwerts vom Produkt lösten, so argumentiert Klein, konnte die Produktion in Billiglohnländer verlagert werden. Sweatshops in der Dritten Welt mit unmenschlichen Arbeitsbedingungen sind demnach die dunkle Kehrseite der schillernden Markenimages in den Industrieländern. „No Logo!“ wurde zur Bibel der Globalisierungskritiker und hat der Anti-Corporate-Bewegung weltweit wichtige Argumentationshilfen geliefert.

Die Marke Eigenbau ist die praktisch umgesetzte Fortsetzung der „No Logo!“-Kritik an der vermeintlichen Übermacht der Superbrands und den dahinter verborgenen Produktions- und Ausbeutungsverhältnissen. Ihre wachsende Bedeutung ist ein positives Signal dafür, dass sich die Menschen nicht mehr für dumm verkaufen lassen und ihren Konsum und ihre Arbeit anders reflektieren. Es ist eine Kritik, die die Markenverantwortlichen der Konzerne erstmals ernsthaft fürchten müssen, weil sie nicht auf dem Papier oder Konferenzen stattfindet, sondern mit den Mitteln des Marktes angreift.

Die Bastion der Massenproduktion steht aus mehreren Himmelsrichtungen unter Beschuss: Heute schon zu beobachten sind die veränderten Präferenzen der Konsumenten und die neuen Spielregeln auf den Long-Tail-Märkten. Hinzu kommen werden demnächst digitale Herstellungsverfahren, die eine individuelle Fertigung in kleiner Stückzahl ermöglichen und die Größen- und Skalenvorteile der Großen in der Produktion unterminieren. Generell ist der Kapitalbedarf für die Gründung eines Unternehmens in vielen Bereichen auf die Anschaffungskosten eines Laptops gesunken. Das Internet hat nicht nur die Kommunikation revolutioniert. Es hat auch die Möglichkeiten zur Koordination und Kooperation enorm erweitert. Dadurch sinken die Kosten für Abstimmung und Koordination, deren Höhe hierarchische Organisation bislang überlegen machte. Das alles hat die Handlungsspielräume von Individuen sowie selbstorganisierten und flexiblen Gruppenkonstellationen enorm erweitert. Die Macht großer Institutionen erodiert; hierarchische Systeme verlieren ihre natürliche Überlegenheit. Das Prinzip der Selbstorganisation schlägt in immer mehr Feldern die klassische Organisationsform von Kommando und Kontrolle. Diese neue Organisationsform der Wirtschaft jenseits des Systems Massenproduktion ist noch nicht als Ganzes erkennbar, und sie hat auch noch keinen verbindlichen Namen. Einige nennen sie Peer Production, um auf ihre Nähe zu dezentralen Peer-to-Peer-Netzwerken hinzuweisen. Andere sagen Wikinomics dazu, weil sie sich an die Zusammenarbeit auf Wiki-Websites erinnert fühlen. Wir bleiben bei Marke Eigenbau, weil sie ebenso umfassend wie zeitlos ist. Die industrielle Massenproduktion aber wird, um es mit Michel Foucault zu sagen, eines Tages verschwinden wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.

Eine neue Balance

Der Geist der Marke Eigenbau auf politischer Ebene hat viele Überschneidungen mit der Idee der Zivilgesellschaft. Aber er lässt sich ungern von bräsigen Appellen an den Bürgersinn vereinnahmen, wie sie zuhauf in Sonntagsreden und Talkrunden geäußert werden. Eher entspricht er einer konkreten Praxis der Selbstermächtigung, die ihre Wurzeln in den themenbezogenen Bügerinitiativen, dem Engagement der NGOs und der breiten Bewegung der Globalisierungskritiker hat. Von daher lässt er sich auch schlecht zu einem politischen Plädoyer für mehr Eigenverantwortung ummünzen. Die Globalisierung als Resultat der Strategien globaler Konzerne kennt eindeutige Gewinner und Verlierer, und der Verweis auf Eigeninitiative und Selbstverantwortung ist nicht die Antwort auf neue soziale Fragen. In der Schere ungleich verteilter Lebenschancen spiegelt sich der Konflikt zwischen Globalisierungsverlierern und -gewinnern wider. Zum Teil vereinigen sich diese Konflikte aber auch in einzelnen Personen, in uns selbst.

Robert Reich weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Rolle des Konsumbürgers im heutigen Kapitalismus widersprüchlich ist. Als Börsenanleger und konsumierende Nachfragemacht führt er eine Dynamik auf Seiten der globalen Konzerne herbei, unter der er selbst als Arbeitnehmer und Bürger zu leiden hat. Als Nachfrager kauft er die billigsten Produkte im größten Supermarkt, deren massenhafter Import seinen eigenen Arbeitsplatz bedroht. Als Anleger forciert er genau jene kurzfristige Gewinnorientierung von Unternehmen, die er als Bürger missbilligt. „Der Superkapitalismus hat unsere Spielräume als Verbraucher und Anleger radikal vergrößert und ermöglicht uns, in aller Welt nach Schnäppchen zu suchen. Den Preis dafür bezahlen wir als Arbeitnehmer und Bürger. Unsere Arbeitsplätze und Löhne werden immer unsicherer, und wir sind immer weniger imstande, unsere Rolle als Bürger auszufüllen.“4 Dieser Zusammenhang ist vielen Menschen nicht bewusst, und selbst wenn er ihnen bewusst wird, sind sie ratlos, was man dagegen unternehmen könnte. Reich sieht als Ausweg den starken Staat vor, der den „Superkapitalismus“ im Zaum hält und eine neue Balance sichert.

Auch die Marke Eigenbau zielt auf eine neue Balance ab, aber sie kommt aus der anderen Richtung, von unten, von der breiten Basis. Indem sie die Brücke zwischen souveränen Produzenten und bewussten Konsumenten neu errichtet, hilft sie im Sinne Robert Reichs, die beschriebene Schizophrenie zu überwinden und die Einheit von Verbraucher und Bürger wieder herzustellen. Das kann nur eine flankierende Maßnahme sein. Die beiden Kanadier Joseph Heath und Andrew Potter warnen zu Recht vor der Haltung der Konsumrebellen, die dem „Mythos der Gegenkultur“ aufsitzen und hinter ihrem symbolisch angepassten Konsumverhalten schon eine revolutionäre politische Tat vermuten.5 Trotzdem ist und bleibt strategisches Konsumverhalten eine wirksame Waffe, um Veränderung zu bewirken. Uns ist durchaus bewusst, dass diese Programmatik die Züge eines Schönwetter-Ansatzes trägt, weil sie den strategischen Konsumenten mit frei disponiblem Einkommen voraussetzt. Die meisten Menschen kaufen ja nicht bei Lidl und Aldi, Kik und Zeeman, weil sie die Produkte so lieben oder sich mit der Marke identifizieren, sondern weil sie sich schlicht nichts anderes leisten können. Andererseits: Wenn man den vergleichsweise geringen Anteil der Ausgaben für Nahrungsmittel in Deutschland mit dem anderer Länder mit ähnlicher Einkommensstruktur, Frankreich etwa, vergleicht, muss man feststellen, dass es am Geld allein nicht liegen kann.

Die Globalisierung wird niemand rückgängig machen. Mit Peter Sloterdijk distanzieren wir uns von jenen rückwärtsgewandten Gegnern der Globalisierung, die keinen Hehl machen „aus ihrer Überzeugung, es wäre besser gewesen, die Menschen hätten das globale Stadium nicht erreicht – oder wären nach gewonnener Einsicht, unter Vermeidung der hohen See, in ihren Dörfern und Kleinstädten geblieben.“6 Der Weg zurück ist verbaut, und die einzige Richtung, in die wir gehen können, ist nach vorn. Damit ist nicht gesagt, dass wir uns nicht aus der Geschichte bedienen, historische Vorbilder handwerklicher Sorgfalt, gemeinschaftlicher Produktion und einer Wirtschaft mit menschlichem Maßstab heranzitieren und in neuem Licht interpretieren können. Die digitalen Technologien werden uns dabei unterstützen, neue Formen der Vergesellschaftung auszutesten, bessere Produkte zu lancieren und der Marke Eigenbau im Bewusstsein der breiten Masse – so es die denn überhaupt noch gibt – zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Massenproduktion wird nicht über Nacht aus dieser Welt verschwinden. Vermutlich wäre das auch gar nicht wünschenswert, wenn man in Betracht zieht, dass Apple mittels drastischer Preissenkungen im kommenden Jahr weltweit 45 Millionen iPhones absetzen will. Aber die zukünftigen Wachstumsfelder in den ehemaligen industriellen Zentren liegen jenseits der Massenproduktion. Im industriellen Sektor ist es die flexible Spezialisierung. Darüber hinaus sind es die personennahen Dienstleistungen, die von der Globalisierung nicht betroffen sind, weil sie sich nicht ohne weiteres outsourcen lassen, hier insbesondere die Bereiche Gesundheit und Bildung. Und es sind Produkte, für die Menschen bewusst bereit sind, einen etwas höheren Preis zu zahlen, weil sie wollen, dass es sie gibt. Es sind die Dinge, die nicht jeder hat, aber die immer mehr Menschen haben wollen.

Eine Welt Marke Eigenbau ist möglich. Der Wind dreht in diese Richtung. Das sollte bedenken, wer vor der Entscheidung steht, bei McDonald’s Fensterscheiben einzuschmeißen oder lieber selbst eine eigene Imbissbude mit vegetarischen Burgern (oder zumindest Ökofleisch) zu eröffnen. Wie Günter Faltin sagt: „Bevor wir aber von einem ‚entfesselten Kapitalismus‘ sprechen, uns in die Protestecke drängen lassen oder gegen Globalisierung zu Felde ziehen, sollten wir fragen, ob es denn unumgänglich ist, dass wir die Gestaltung des wirtschaftlichen Feldes ‚der Klasse der Kapitalbesitzer und Unternehmer‘, also anderen, überlassen müssen.“7 Die Zeiten ändern sich. Wir haben die Mittel, erfolgreich mitzuspielen.

HOLM FRIEBE ist Diplom-Volkswirt und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur in Berlin.

THOMAS RAMGE ist Journalist und Moderator. Er arbeitet als fester Autor für brand eins und schreibt für die ZEIT und GEO. Der Beitrag ist ein Auszug aus ihrem Buch „Marke Eigenbau“, das am 17.9 bei Campus erscheint.
 

  • 1Sarah Anderson, John Cavanaugh und Thea Lee: Field Guide to the Global Economy, New York, London 2005.
  • 2Holm Friebe und Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung, München 2006, S. 276.
  • 3Naomi Klein: No Logo! Der Kampf der Global Player um Marktmacht, München 2001.
  • 4Robert Reich: Superkapitalismus, Frankfurt/New York 2008, S. 10.
  • 5Joseph Heath und Andrew Potter: Konsumrebellen. Der Mythos der Gegenkultur, Berlin 2005.
  • 6Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals, Frankfurt a. M. 2005, S. 255 f.
  • 7Günter Faltin: Erfolgreich gründen. Der Unternehmer als Künstler und Komponist, Berlin 2007.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2008, S. 38 - 47

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