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01. Apr. 2007

Revolution auf Raten

Frankreichs Wirtschaft: Von Staatsdirigismus zur modernen Standortpolitik

„Staatsdirigismus“ – ein gern benutzter Vorwurf an die französische Adresse, wenn es kriselt in den deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen. Ein genauerer Blick auf Frankreichs Wirtschaft zeigt, dass auch im Heimatland des Colbertismus die Globalisierung Einzug gehalten hat. Doch dieser Wandel steckt noch voller Widersprüche.

Die vergangenen Wochen und Monate waren durch heftige, auf höchster politischer Ebene ausgetragene deutsch-französische Auseinandersetzungen um die Sanierungspolitik und die künftigen Standorte des Airbus-Konzerns EADS gekennzeichnet. Dabei sind längst überwunden geglaubte Gräben wieder aufgerissen worden, was sich hierzulande in einer scharfen Kritik am französischen Staatsdirigismus und Colbertismus niederschlug. Erinnerungen an die einseitige Politik Frankreichs bei der Allianz zwischen Aventis und Sanofi, aber auch bei der Abwehr von Siemens als möglichem Kooperationspartner von Alstom wurden wach. Der Streit drohte zu eskalieren, und es war höchste Zeit, ihn auf Chefebene zu beenden.Allerdings: So wenig man die in den genannten Auseinandersetzungen zum Vorschein gekommenen Unterschiede der Staats- und Wirtschaftskulturen klein reden sollte, so wenig hilfreich ist es auch, diese zu übertreiben. Im Falle EADS hat gerade die deutsche Seite sämtliche politischen Register gezogen, um ihre Interessen zu wahren, bis hin zur (wenig glaubhaften) Drohung des Bundeswirtschaftsministers mit dem Entzug von Lieferaufträgen.

Man kann indessen aus den Vorgängen um Aventis, Siemens-Alstom und jetzt EADS noch eine weitere Schlussfolgerung ziehen: Der Versuch der Politik, Allianzen zwischen den Unternehmen zu schmieden und damit europäische „Champions“ zu züchten, ist eine Sackgasse, weil die Vermengung der Regierungs- und der Unternehmenslogik mehr Schaden als Nutzen stiftet.1 Insofern kann man nur hoffen, dass für EADS eine neue Aktionärsstruktur gefunden wird, die Auseinandersetzungen wie die der vergangenen Monate vermeidet. Es gibt lohnendere Felder der Zusammenarbeit, etwa die Weiterentwicklung der Währungsunion oder die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Hier sind die politischen Ansätze teilweise unterschiedlich. So meinen die Franzosen, dass die EU ein aktiver wirtschaftspolitischer Akteur sein sollte; die engere Abstimmung zwischen Geld- und Fiskalpolitik, also zwischen Europäischer Zentralbank (EZB) und den Finanzministern des Eurolands, sollte enger und wenn möglich institutionalisierter sein. Auch die im Präsidentschaftswahlkampf geäußerte Kritik an der Unabhängigkeit und der Politik der EZB verweist auf weiterhin bestehende Unterschiede in der Staats- und Wirtschaftskultur zwischen Deutschland und Frankreich.

Und doch sind die Positionen oft weniger kontrovers, als es auf den ersten Blick den Anschein hat. Während die französische Praxis deutlich marktwirtschaftlicher ist als ihre Diskurse, verhält es sich in Deutschland umgekehrt. In beiden Ländern geht es letztlich um ein Austarieren der Gewichte im Spannungsfeld zwischen Markt und politischer Gestaltung, zwischen liberalen und sozialen Elementen, kurz: um die Gestaltung einer sozialen Marktwirtschaft à l’européenne. Dies eröffnet Spielräume für gemeinsames Handeln – mehr als die in letzter Zeit aufgebrochenen Konflikte erahnen lassen.

Frankreich: Partner und Konkurrent

Frankreich und Deutschland sind durch eine außerordentlich enge Handels- und Investitionsverflechtung miteinander verbunden. Beide Länder sind füreinander der jeweils wichtigste Handelspartner: Frankreich nimmt zehn Prozent der deutschen Exporte auf und hat einen Anteil von 8,7 Prozent an den deutschen Einfuhren; noch größer ist Deutschlands Anteil an den französischen Exporten (14,3 Prozent) und Importen (15,9 Prozent; alle Zahlen für 2005). Deutsche Firmen repräsentieren 12,7 Prozent aller kumulierten Bestände ausländischer Direktinvestitionen in Frankreich und rangieren damit an vierter Stelle. Umgekehrt ist Frankreich mit 14,1 Prozent drittstärkster Investor in Deutschland. 2700 deutsche und 1400 französische Firmen bzw. Filialen sind im jeweiligen Nachbarland präsent.

Die französische Wirtschaft selbst bietet im Wahljahr 2007 ein kontrastreiches Bild. Die wirtschaftliche Dynamik lag seit 1995 deutlich höher als in Deutschland und auch über dem Durchschnitt der EU, aber 2006 ist das Wachstum niedriger, was kritische Fragen über die Nachhaltigkeit des französischen Wachstumsmodells provoziert. Die Beschäftigung ist in den vergangenen zehn Jahren deutlich gestiegen, vor allem aufgrund einer aktiven – und teuren – Arbeitsmarktpolitik. Dennoch liegt die Arbeitslosigkeit immer noch über dem EU-Durchschnitt, ebenso wie die Beschäftigungsquote darunter liegt. Frankreich zählt als fünftstärkste Industrienation zur weltweiten Spitze, aber es hat weltweit Marktanteile verloren; die Handelsbilanz ist seit 2000 im Defizit. Französische Großkonzerne nehmen weltweit Spitzenstellungen ein, aber der Mittelstand des Landes ist immer noch schwach entwickelt. Schließlich: Frankreichs europäischer Spitzenplatz bei der Geburtenrate ist ein Zeichen für Zuversicht in der Gesellschaft, aber auch unser Nachbar muss sich auf die Folgen einer Alterung der Bevölkerung einstellen.

Kontrastreich ist das Bild auch, wenn man politische Diskurse und ökonomische Praxis nebeneinander legt. So werden wiederholt der Niedergang der Wirtschaft und die Entindustrialisierung des Landes beklagt, obwohl die ökonomischen Daten derartige Katastrophenszenarien widerlegen. Parteiübergreifend wird die Gefahr der Produktionsauslagerung (Delokalisierung) beschworen, obwohl dieses Phänomen gegenüber anderen Problemen nach wie vor marginal bleibt. Der im Europa-Referendum 2005 zu Tage getretene, aber auch von der politischen Klasse gepflegte Antiliberalismus steht in eklatantem Gegensatz zu der seit zwei Jahrzehnten verfolgten tatsächlichen Orientierung des Landes an stärker marktwirtschaftlichen Strukturen. Die Trompetentöne des „ökonomischen Patriotismus“, die kein anderer als der scheidende Premierminister Dominique de Villepin ausgestoßen hat, verdecken nur notdürftig, wie wenig direkten Einfluss der franzö-sische Staat auf grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen hat. Diese Ambivalenzen, die sich auch in den Wahlkampfaussagen der führenden Präsidentschaftskandidaten wiederfinden, machen es häufig schwer, die französische Wirtschaftspolitik und die Position Frankreichs in der Weltwirtschaft realistisch einzuschätzen.

Sprung in die Moderne

Frankreichs Wirtschaft hat seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwei Umwälzungen erfahren. In den „dreißig glorreichen Jahren“ (Jean Fourastié) nach 1944 erfolgte ein Sprung in die Moderne: die in einem atemberaubenden Tempo vollzogene Umwandlung einer rückständigen, überwiegend agrarisch-klein-industriellen Wirtschaft in eine moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Seit den achtziger Jahren befindet sich Frankreich in einem ungleich schwierigeren Prozess der Strukturanpassungen und einem Übergang von einer zentralistischen, dirigistischen, national ausgerichteten Ökonomie in eine offene Marktwirtschaft. Die Wirtschaft hat sich geöffnet: Im- und Exporte machen heute rund 26 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus (1970: knapp 13 Prozent). Vor allem die großen Unternehmen haben ihre Strategien globalisiert und betreiben eine aktive Investitionspolitik im Ausland. Sie sind dabei erfolgreich: Etwa die Hälfte der 40 größten börsennotierten Unternehmen des französischen Aktienindexes CAC-40 zählen zu den weltweit drei umsatzstärksten Firmen, jedes vierte ist sogar Weltmarktführer in seiner jeweiligen Branche.2 Weltweit beschäftigen 22 000 Filialen französischer Konzerne etwa fünf Millionen Arbeitnehmer. Im Gegenzug ist Frankreich auch ein attraktiver Standort für ausländische Investoren geworden. Die 40 größten börsennotierten Unternehmen sind in einem Ausmaß für ausländische Anleger geöffnet, das in Europa seinesgleichen sucht – zu 44 Prozent ihres Kapitals. Dies bildet allerdings auch den Hintergrund für gelegentliche Überfremdungsängste und den Diskurs über den „ökonomischen Patriotismus“, der sich den Schutz „französischer“ Unternehmen vor ausländischen Übernahmen zum Ziel gesetzt hat.3 Darüber hinaus ist die französische Wirtschaft von den weltweiten Strukturveränderungen erfasst worden, die vor allem in der Industrie ihre tiefen Spuren hinterlassen haben. 1,5 Millionen Arbeitsplätze sind seit 1978 verloren gegangen. Dies hat den ohnehin sehr kritischen Blick auf die Globalisierung noch verstärkt, ob es sich nun um die Delokalisierungen, um die Dominanz der Finanzmärkte und des Shareholder Value, um die Übernahme französischer Unternehmen durch ausländische Konzerne oder um die Entindustrialisierung handelt.

Allerdings ist der verbreitete Diskurs des Niedergangs nicht gerechtfertigt. So kann etwa von einer immer weiter fortschreitenden Entindustrialisierung keine Rede sein. Der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung ist seit 25Jahren annähernd stabil, und zahlreiche Unternehmens-Dienstleister leben von Aufträgen der Industrie. Ähnliches gilt für die Verlagerung französischer Produktionsstätten in Billiglohnländer. Denn tatsächlich machen diese Länder weniger als fünf Prozent der französischen Direktinvestitionen aus.4 Eingehende Analysen der Stärken und Schwächen der französischen Wirtschaft kommen zu differenzierten Urteilen. Der Standort Frankreich verfügt über eine Reihe von Stärken, zu denen die zentrale geographische Lage ebenso gehört wie die Dynamik des Binnenmarkts, die Qualifikation der Arbeitskräfte oder die Qualität der Infrastrukturen. Die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hat sich seit den achtziger Jahren nachhaltig verbessert. Insgesamt bescheinigen internationale Vergleiche den französischen Unternehmen eine gute Fähigkeit, ihre Produkte weltweit zu vermarkten und ihre Angebotspalette an die neuen Wachstumsmärkte anzupassen; auch genießen Waren made in France in Bezug auf Preise und Qualität ein gutes Image.5

Erkennbare Schattenseiten gibt es allerdings in der qualitativen Wettbewerbsfähigkeit (im französischen Jargon „compétitivité hors-coûts“).6 So weist Frankreich eine Reihe von Schwächen in der Innovationsfähigkeit und bei den neuen Technologien auf: niedriges Niveau der Ausgaben für Forschung und Entwicklung, vor allem in den Unternehmen; geringe Zahl der angemeldeten Patente; ein unzureichend entwickeltes unternehmerisches Klima, das Neugründungen fördern könnte; Rückstände in der Produktion und Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien sowie manches mehr. Ein vergleichendes, auf umfangreiche Indikatoren gestütztes Innovations--Ranking sieht Frankreich in einer mittleren Position (9. Platz unter 25 Ländern), während sich Deutschland (4.) in der Führungsgruppe befindet.7

Diese eher mittelmäßigen Leistungen hängen mit den Charakteristika des französischen Produktivsystems zusammen, allen voran seiner unzureichenden Spezialisierung auf höherwertige technologische Produkte. Mit einem Anteil von 59 Prozent an der industriellen Wertschöpfung sind Produktionszweige mit geringem und mittlerem Technologieanteil vorherrschend (in Deutschland: 47 Prozent), während die hochwertigen Technologiegüter nur 27 Prozent ausmachen (Deutschland: 42 Prozent). Die technologischen Spitzenindustrien haben mit 15 Prozent der industriellen Wertschöpfung ein geringeres Gewicht als in Japan (18 Prozent) oder den USA (23 Prozent), allerdings einen höheren als in Deutschland (11 Prozent).8 Hier wird die Kehrseite der ansonst erfolgreichen staatlichen Modernisierungspolitik nach 1944 deutlich. Denn die französischen Stärken entsprechen den Prioritäten der staatlichen Industrie- und Subventionspolitik seit den sechziger Jahren, die sich auf die Förderung von technologischen Spitzenindustrien konzentrierte („Hightech-Colbertismus“):9 Rüstungsgüter, Luft- und Raumfahrt, Nuklearenergie etc. Diese Politik hatte den Nachteil, dass die industrielle Modernisierung auf wenige große Unternehmen und Sektoren beschränkt blieb, die übrigen Industriezweige und das gesamte Unternehmensnetz aber nur unzureichend erfasste. Dadurch wurden wichtige zukunftsträchtige Branchen vernachlässigt.10

Die Probleme lassen sich nicht, wie oft in der französischen Diskussion angenommen, auf ein Hightech-Problem reduzieren. Vielmehr deuten sie auf strukturelle Schwächen: Das Unternehmensnetz weist empfindliche Schwachstellen bei den selbständigen mittelständischen Firmen auf. Zahlreiche Sektoren sind zu wenig auf Produkte mit hoher Wertschöpfung ausgerichtet (was nicht identisch mit hohem Technologieanteil ist). Die Kooperations- und Netzwerkbeziehungen der Unternehmen sind nur schwach entwickelt. Das etatistische und zentralistische Erbe bewirkt, dass trotz der Dezentralisierungsreformen die politischen und ökonomischen Akteure „in hierarchischen, vertikal ausgerichteten nationalen Strukturen erstarrt sind, mit der Folge, dass das Zusammenspiel zwischen Forschung, Bildung und Unternehmen die Vitalität verliert, aus der Innovation und Wettbewerbsfähigkeit erst entstehen“.11

Adieu, Colbert

Damit wird deutlich, in welch engem Zusammenhang die Probleme Frankreichs mit den Charakteristika der Industriestruktur, aber auch mit der Funktionsweise seines Kapitalismusmodells stehen. Das heißt: Voraussetzung einer Modernisierung der Industriestruktur war und ist der Abschied vom staatsdirigistischen französischen Modell der Nachkriegszeit. Dieser Abschied ist seit zwei Jahrzehnten gewissermaßen auf Raten vollzogen worden. Seit der wirtschaftspoli-tischen Wende von 1982/83 hat sich ein grundlegender ordnungspolitischer Wandel vollzogen, mit dem Ergebnis, dass die französische Wirtschaft liberaler und offener geworden ist. Die frühere interventionistische, colbertistische Industriepolitik ist einer neuen, stärker horizontalen Querschnittspolitik gewichen, die am Konzept der systemischen Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtet ist. Dieses Konzept weist den Unternehmen die Schlüsselrolle für die industrielle Entwicklung und Wettbewerbsfähigkeit zu und konzentriert die staatliche Politik auf Querschnittsthemen wie Bildung und Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Innovation und Unternehmensgründungen. Kurz: Aus der Industriepolitik alten Stils ist eine moderne Standortpolitik geworden.

Aber dieser Wandel ist unvollkommen und steckt voller Widersprüche.12 Zum einen hat sich eine wachsende Kluft zwischen Praxis und Diskursen aufgetan: Während linke und rechte Regierungen seit 1983 die zentralstaatlichen Strukturen dezentralisiert, die Märkte liberalisiert und die zahlreichen staatlichen Unternehmen privatisiert haben, haben sie, wie eingangs erwähnt, weiterhin an den alten staatsdirigistischen Leitbildern festgehalten. Das Meinungsklima wird weiterhin von einem – zuweilen aggressiven – Antiliberalismus geprägt, der auch in der Kampagne zum Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag zum Ausdruck kam.13 Dies ist einer der Gründe dafür, dass die Reformpolitik der vergangenen Jahre in Frankreich zögerlicher erscheint als in Deutschland. Zum anderen ist der Wandel in sich widersprüchlich und kontrovers. Der Abschied vom Dirigismus früherer Zeiten schließt den Rückgriff auf tradierte staatliche Lenkungsmaßnahmen nicht aus. Am deutlichsten zeigte sich das in den Versuchen, französische Unternehmensgruppen zu schützen. Aus deutscher Sicht bleibt vor allem die Art und Weise im Gedächtnis, wie die französische Regierungsspitze 2004 den ehemals deutsch-französischen – und privaten! – Vorzeigekonzern Aventis in eine franko-französische Allianz mit Sanofi zwang, obwohl sich das Management zuvor für die Schweizer Firma Novartis entschieden hatte. Auch die Abwehr von Siemens, das Interesse beim Einstieg bei Alstom zeigte, oder die Fusion von Suez mit dem staatlichen Unternehmen GDF, mit der eine Übernahme von Suez durch die italienische Enel-Gruppe verhindert werden soll, verweisen auf den ungenierten Eingriff der Politik in Unternehmensstrukturen.

Auch in der Wiederbelebung der Industriepolitik kommen diese Ambivalenzen zum Ausdruck. Angesichts anhaltender struktureller Probleme wurde in den vergangenen Jahren der Ruf nach verstärktem Handeln des Staates laut. Staatspräsident Chirac griff dies 2004 auf und erklärte eine aktive Industriepolitik zur „nationalen Priorität“. Der von Chirac in Auftrag gegebene Bericht des Saint-Gobain-Chefs Jean-Louis Beffa brachte diese Priorität auf den Punkt: „Frankreich kann seinen Platz in der neuen internationalen Arbeitsteilung nur finden, wenn es die Initiative ergreift, um seine industriellen Fähigkeiten und Forschungspotenziale neu zu mobilisieren.“14 Auf dieser Grundlage wurde eine neue Industriepolitik definiert, die auf drei Säulen beruht: der Stärkung der öffentlichen Forschung (durch Mobilisierung neuer Finanzressourcen, neue Funktionsregeln für die Forschungsinstitute, Gründung der neuen Forschungsagentur „Agence nationale de la recherche“ usw.); der Lancierung von „Mobilisierungsprogrammen“ im Bereich der industriellen Innovation unter der Ägide der neu geschaffenen „Agence de l’innovation industrielle“; schließlich der Förderung regionaler Cluster über die Auswahl einer Reihe von Wettbewerbspolen („pôles de compétitivité“).15 Diese Politik will Frankreich in den neuen Hightech-Sektoren des 21. Jahrhunderts nach vorne bringen. Sie stellt die Innovationsfähigkeit in den Mittelpunkt und setzt auf Partnerschaft zwischen öffentlichen und privaten Akteuren sowie auf Konzertierung mit Bildungs- und Forschungssystem und den Unternehmen. Allerdings orientiert sich auch dieser Politikansatz sichtlich an den technologischen Großprojekten des „Hightech-Colbertismus“ der sechziger und siebziger Jahre, bleibt der tradierten Top-down-Methode verhaftet und erscheint einseitig auf Großunternehmen und Hochtechnologie fixiert.16

Um die strukturellen Defizite der französischen Wirtschaft zu überwinden, müsste der neue industrielle Voluntarismus mithin ergänzt werden durch eine Politik der Rahmenbedingungen, die ein günstiges Klima für Unternehmensgründer ebenso fördert wie unternehmerische Partnerschaften und Netzwerkstrukturen und dabei vor allem den Mittelstand im Auge hat. Ein anderes Feld wäre die Mobilisierung der in den einzelnen Wirtschaftsregionen vorhandenen Entwicklungspotenziale, was aber eine gründliche Neudefinition der Beziehungen zwischen dem Staat und den Gebietskörperschaften erfordern würde. Die Erneuerung der produktiven Strukturen und die Erneuerung des überkommenen Staats- und Wirtschaftsmodells sind zwei Seiten derselben Medaille. Nicht ohne Grund ist längst eine kontroverse Debatte über Reformbedarf und Zukunft des französischen Modells entbrannt.17 Wer immer Frankreich ab dem 6. Mai regieren wird: Die Revolution auf Raten ist noch längst nicht abgeschlossen.

Kein Abschied von der Atommonarchie

Paris huldigt weiter der Kernkraft – und bremst Europas Energiepolitik aus

Frankreich ist für Deutschland der wichtigste, aber auch der schwierigste Partner in Europa – und die französische Atompolitik macht den Nachbarn noch sperriger. Auf dem EU-Energiegipfel im März haben die Regierungschefs den Konflikt um die Rolle der Atomkraft in der europäischen Klimapolitik gerade noch entschärft. Doch wenn die auf dem Gipfel vereinbarte Senkung der Kohlendioxidemissionen von EU-weit 20 Prozent in den nächsten Monaten auf die Mitgliedsländer heruntergerechnet wird, dürfte der Streit wieder aufbrechen: Frankreich beharrt darauf, dass die CO2-arme Nuklearenergie bei der Lastenverteilung berücksichtigt wird. Kurz: Paris verlangt einen CO2-Bonus für die eigene Wirtschaft, weil Frankreich mit seinen 59 Atomkraftwerken schon so viel für die Umwelt tue.

Wenn man bereit ist, die Strahlungsrisiken und die ungelöste Frage der Endlagerung von Atommüll auszublenden, hat man mit der Nuklearenergie eine ideale und umweltfreundliche Energiequelle. Genau dieses Ausblenden macht den Unterschied zwischen Frankreich und anderen EU-Ländern aus. Atomkraftwerke gibt es auch in Deutschland, in Spanien, in Belgien, in Großbritannien und vielen mehr. Aber in all diesen Ländern gibt es auch Bedenken, führte ständiges Abwägen dazu, künftig weniger gefährliche Energiequellen zu erschließen. In Frankreich hingegen wird Atomkraft von der Regierung wie vom Stromversorger EDF als sorgenfreie Energie gepriesen. Auf die weithin sichtbaren Kühltürme des AKW Cruas im Rhonetal sind – 25 Meter hoch – idyllisch spielende Kinder aufgemalt. Frankreich pflegt die Illusion von der idealen Energie und würde sich von der europäischen Energiepolitik gerne den Stempel darauf geben lassen.

Französische Regierungen kommen und gehen, die französische Atompolitik aber bleibt bestehen. Auf ewig. Kein anderes Land der Erde, vielleicht außer Nordkorea, hat sein nationales Selbstwertgefühl so stark um die Fähigkeit drapiert, Atomkerne zu spalten, wie unser Nachbar. Der französische Politikwissenschaftler Samy Cohen hat Frankreich als eine „monarchie nucléaire“ beschrieben, eine Atommonarchie. Keine politische Kraft in Frankreich würde es wagen, die Nutzung der Atomkraft, egal ob zivil oder militärisch, in Frage zu stellen. Selbst als Staatspräsident Jacques Chirac vor kurzem ankündigte, die „Force de Dissuasion“, die atomare Abschreckung, in den nächsten Jahren für 15 Milliarden Euro zu erneuern, gab es, anders als in Großbritannien, keinerlei Proteste. Aus französischer Sicht ist die Kernspaltung so etwas wie der Zaubertrank, der dem Land einen Vorsprung durch Schlauheit sichert. Die staatlich subventionierte Atomkraft liefert der Industrie die nötige billige Energie, um auch mit substanziell stärkeren Volkswirtschaften mithalten zu können. Und die Atombombe, so das Kalkül, hebt Frankreich auf die Ebene der Großmächte und sichert die französische Führungsrolle in der Europäischen Union. Als die Pariser Regierung beim EU-Gipfel in Nizza die überfällige Vereinfachung der Abstimmungsverfahren in der EU blockierte, rechtfertigte sie ihre sture Haltung mit den französischen Atomsprengköpfen: Ein einfacheres Stimmrecht, das die Einwohnerzahl des Landes berücksichtigt, hätte Deutschland mehr Stimmen in der EU verschafft. Unmöglich, wetterte damals Europaminister -Pierre Moscovici: Deutschland habe zwar ein Drittel mehr Einwohner als Frankreich, aber Frankreich sei eine Atommacht und deshalb mindestens gleichberechtigt mit Deutschland.

Ein Land, für das die Atomkraft eine Frage des nationalen Selbstverständnisses ist, hat naturgemäß besondere Schwierigkeiten mit der von Brüssel vorangetriebenen Liberalisierung der Energiemärkte. Dahinter steht nicht zuletzt die Angst jeder französischen Regierung, die Kontrolle über den Energiemix und damit über die Dominanz der Atomkraft zu verlieren. In Energiefragen agiert Paris deshalb stets wie vom Stromkonzern EDF gesteuert: Jeder Liberalisierungsschritt wird in Brüssel solange wie möglich blockiert, dann in Frankreich immer erst mit Verspätung und nach Mahnungen der EU-Kommission umgesetzt und selten so, dass Konkurrenten tatsächlich eine Chance hätten. Während die Mehrheit der EU-Staaten die Strommärkte zu 100 Prozent geöffnet haben, lässt Frankreich nur einige Großkunden zwischen verschiedenen Anbietern wählen. Zwar nutzt der inzwischen teilprivatisierte, aber immer noch von der französischen Regierung kontrollierte Stromkonzern EDF gerne die geöffneten Märkte der anderen EU-Länder für lukrative Investitionen. Doch vom heimischen Markt wird die Konkurrenz so weit wie möglich fern gehalten. „Zuhause Monopol, auswärts Monopoly“, so nennt der Luxemburger Europaabgeordnete und Energieexperte Claude Turmes diese Strategie.

Einige EU-Staaten haben deshalb überlegt, auf ihren Märkten französische Stromanbieter nur so weit zuzulassen, wie Frankreich seinen eigenen Markt für ausländische Anbieter öffnet. Dieses so genannte Reziprozitätsprinzip wurde aber wieder fallen gelassen. Der Grund: Eine intelligent umgesetzte Stromliberalisierung nützt der gesamten Wirtschaft. Zudem gehen von den auf den Markt drängenden Anbietern erneuerbarer Energien nützliche Innovationsimpulse aus. So gesehen schadet sich Frankreich mit seiner überholten, am Bestandsschutz der Kernkraftwerke ausgerichteten Energiepolitik vor allem selbst.

Prof. Dr. HENRIK UTERWEDDE, geb. 1948, ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg.
 

  • 1Vgl. dazu Henrik Uterwedde: Deutsch-französische Industriepolitik. Mehr als Illusionen? Dokumente 5/2004, S. 21–27.
  • 2Nach Natixis Flash Economie, 12.1.2007: Quels atouts pour la France dans la mondialisation?, S. 14.
  • 3Vgl. dazu Henrik Uterwedde: Ökonomischer Patriotismus. Eine (nicht nur) französische Debatte, Dokumente 6/2006, S.16–21.
  • 4Vgl. DATAR: La France, puissance industrielle, Paris 2004; Lionel Fontagné und Jean-Hervé Lorenzi: Désindustrialisation, délocalisations, Rapport au Conseil d’Analyse Economique, Paris 2005.
  • 5Vgl. Michèle Debonneuil und Lionel Fontagné: Compétitivité. Rapport au Conseil d’analyse économique, Paris 2003, S. 49 ff. Zusammenfassend Gabriel Colletis und Henrik Uterwedde: Zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität. Frankreichs Wirtschaft in der Globalisierung, in: Adolf Kimmel und Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn 2005, S. 209–228.
  • 6Ebd. Vgl. auch Gabriel Colletis: Enjeux des mutations industrielles en France, in: ders. und Yannick Lung (Hrsg.): La France industrielle en questions. Analyses sectorielles, Paris 2006, S. 11–36
  • 7Vgl. die Ergebnisse des Trend Chart Innovation Policy in Europe: www.trendchart.org.
  • 8Jean-Louis Beffa: Pour une nouvelle politique industrielle, Paris 2005, S. 11 (Zahlen der industriellen Wertschöpfung sind Schätzwerte nach Graphik 2), S. 13 (Exportstruktur; Graphik 4).
  • 9Elie Cohen: Le Colbertisme „high tech“, Paris 1992.
  • 10Jean-Louis Beffa (Anm. 8), S. 15–20. Vgl. dazu auch Henrik Uterwedde: Abschied vom französischen Modell? Staat und Wirtschaft im Wandel, in: Marieluise Christadler und Henrik Uterwedde (Hrsg.): Länderbericht Frankreich, Bonn 1999, S. 214–217.
  • 11Christian Blanc: Pour un écosystème de la croissance. Rapport au Premier Ministre, Paris 2004, S. 1. Christian Blanc ist Abgeordneter der UDF.
  • 12Vgl. Pepper D. Culpepper, Peter Hall und Bruno Palier: La France en mutation 1980–2005, Paris 2006.
  • 13Vgl. Lucien Faure: Libéralisme: un répertoire de fausses évidences, Paris: CEVIPOF, Baromètre politique français, www.cevipof.msh-paris.fr/bpf/analyses/JaumeL_FaussesEvidencesLiberalism…).
  • 14Jean-Louis Beffa (Anm. 8), S. 7.
  • 15Vgl. dazu Jean-Marc Trouille und Henrik Uterwedde: Renewing French Industrial Policy: Old Recipes or Forward-looking Strategies?, in: Mairi Maclean und Joe Szarka (Hrsg.): France on the World Stage, London (in Vorbereitung).
  • 16Vgl. dazu Gabriel Colletis (Anm. 6), S. 31–33.
  • 17Vgl. Henrik Uterwedde: Frankreich 2005: Brüche im Gesellschaftsmodell, in: Deutsch-Französisches Institut u.a. (Hrsg.): Frankreich-Jahrbuch 2005, Wiesbaden 2006, S. 9–22.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2007, S. 47 - 57.

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