Buchkritik

01. Mai 2016

Reise ins Ungewisse

Der Buchmarkt entdeckt die Flüchtlingsdebatte

Noch vor nicht allzu langer Zeit waren Flucht und Migration eher Themen für Spezialisten. Als europäische Herausforderung wird die Flüchtlingsbewegung erst wahrgenommen, seit sie nicht nur Griechenland und Italien, sondern auch ihre nördlichen Partner in Europa erfasst hat. Fünf Neuerscheinungen zeigen die Dimensionen auf.

Wer einen kompakten Überblick über Ursachen, Konflikte und Folgen der Flüchtlingskrise sucht, der greife zu Stefan Luft. Der an der Universität Bremen lehrende Politikwissenschaftler war Sachverständiger verschiedener Enquetekommissionen der Bundesländer zu Migrations- und Integrationsfragen und von 1995 bis 1999 Sprecher des Bremer Innensenators. Damit vereint er Expertise aus Praxis und Theorie – was seinem Buch sehr zugute kommt.

Klar und präzise beschreibt Luft, wie es zur heutigen Situation gekommen ist: Neben den humanitären Katastrophen in den Herkunftsregionen der Flüchtlinge wie Syrien, Afghanistan, Somalia und Eritrea war es die Anziehungskraft von Haupt­zielländern wie Deutschland, die den Wunsch haben reifen lassen, nach Europa zu migrieren. Zugleich betont Luft zu Recht, dass zum Wanderungswillen stets auch „Realisierungsmöglichkeiten“ gehören: der Zerfall von bisherigen Pufferstaaten in Afrika, der Zusammenbruch des Dublin-Systems in Europa, die Öffnung Deutschlands im September 2015 für einen zunächst unkon­trollierten Zuzug, die politischen Ankündigungen, das zu akzeptieren. All das habe zu den intensiven Wanderungsbewegungen der vergangenen Monate beigetragen.

Rückkehr, Integration, Umsiedlung

Was ist jetzt zu tun? Luft dekliniert die wichtigsten Schritte durch: Zuallererst gelte es, den Schutz der Flüchtlinge sicherzustellen. Dafür seien die internationalen Organisationen, allen voran der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, und die Erstaufnahmeländer zu unterstützen. Luft zitiert den ­UNHCR, der drei Handlungsoptionen für Flüchtlinge vorsieht: die Rückkehr und damit Reintegration in das Herkunftsland, die Integration in die Erstaufnahmeländer oder die Umsiedlung in Länder, in denen die Flüchtlinge dauerhaft eine neue Heimat finden.

Eine Unterstützung durch wirtchaftlich starke Staaten hält Luft in jedem Fall für unumgänglich: Die Infrastruktur der Herkunftsländer sei vielfach im Zuge gewalttätiger Konflikte zerstört, so dass der Wiederaufbau finanziert, aber auch der Schutz der Rückkehrer in womöglich noch instabile Verhältnisse abgesichert werden müsse.

Integration in die Aufnahmeländer wiederum bedeute in vielen Fällen den Ausbau von Flüchtlingslagern zu urbanen Zentren, die Zugang zu Bildung und Arbeit ermöglichten. Die dauerhafte Umsiedlung in meist entfernte Aufnahmestaaten ist dagegen nach Lufts Analyse die Option, die quantitativ am geringsten ins Gewicht fällt. Das sei der Grund dafür, warum die Betroffenen selbst die Initiative ergriffen und sich einzeln oder in kleinen Gruppen auf den Weg machten.

Die große Ratlosigkeit

Was das im Einzelfall bedeutet, wollte Navid Kermani wissen. Der Kölner Schriftsteller ist zusammen mit dem Magnum-Photografen Moises Saman im Auftrag des Spiegels von Budapest nach Izmir gereist – entlang einer der großen Flüchtlingsrouten. Im Hamburger Nachrichtenmagazin erschien ihre Reportage im vergangenen Oktober. Nun liegt eine deutlich erweiterte Fassung vor. Auch sie behandelt sehr eindringlich die Lage an der türkischen Westküste, wo Tausende Flüchtlinge in erbärmlichen Verhältnissen auf eine unsichere Überfahrt warten. Weiter geht es nach Lesbos, wo Kermani die Ankunft derer beobachtet hat, die zunächst glauben, es geschafft zu haben, um dann festzustellen, dass sie sich geirrt haben, und einen Kulturschock erleben.

Kermani hat nicht nur mit Helfern und Politikern gesprochen, sondern auch und vor allem mit den Flüchtlingen selbst. Was treibt sie an? Warum wollen so viele von ihnen nach Deutschland? Die Antworten: Arbeit, Schule, Sicherheit. In ihrer Heimat sehen sie keine Zukunft für sich. Doch welche erwartet sie in Deutschland? Und was ist von ihnen zu erwarten? Kermani lässt seinen Gedanken zu dem, was er auf seiner Reise erlebt, freien Lauf: Fast alle Afghanen, die ihm entgegenkamen, als er über den Balkan nach Lesbos reiste, stammten aus ländlichen Gebieten und sprachen keine andere Sprache als Dari. Sie seien erkennbar nicht die Facharbeiter und Ingenieure, auf die Deutschlands Wirtschaft hoffe.

Man merkt Kermani die Ratlosigkeit an, die sich auch bei ihm einstellt, wenn er mit Flüchtlingen spricht. Ihr Zielland Deutschland scheint er nicht für das am besten geeignete zu halten. An einer Stelle platzt es aus ihm heraus: „O Scheiße, dachte ich, so war das mit der Willkommenskultur nicht gemeint.“ An anderer Stelle bekennt er, seinen Gesprächspartnern geraten zu haben: „Sagt euren Verwandten bloß nicht, dass sie sich ebenfalls auf den Weg machen sollen.“ Und er habe sich bei Syrern erkundigt, ob es denn kein arabisches Land gebe, in das sie könnten. Die Antwort: Sie kämen aus Jordanien. Dort erhielten Flüchtlinge keine Arbeitsgenehmigung. Es seien einfach zu viele geworden. Sollten sie als Bettler leben? Sollten ihre Kinder in einem Zelt aufwachsen?

Stadt der Verlorenen

Wie ein solches Leben aussieht, zeigt Ben Rawlence. Der britische Autor der BBC, des Guardian und der London Review of Books, der auch schon als Menschenrechtsbeobachter arbeitete, hat sich in das derzeit größte Flüchtlingslager der Welt begeben: Dadaab, zwischen Kenia und Somalia, mitten in der afrikanischen Wüste gelegen, Hunderte Kilometer von der nächsten Siedlung entfernt.

Wie so viele Lager entstand auch Dadaab als Provisorium und wuchs über die Jahre zu einem großen Komplex, einer Art Stadt, bestehend aus Tausenden von Hütten aus Dornenbüschen und Zelten des UN-Flüchtlingshilfswerks. In ihnen leben inzwischen rund eine halbe Million Menschen – viele seit Jahrzehnten, viele wurden dort geboren. Ihre Familien oder sie selbst sind geflohen vor den grausamen Schabab-Milizen, vor Hunger und Bürgerkrieg, ob aus dem Tschad, dem Sudan oder Somalia.

Die kenianische Regierung würde das Lager gerne auflösen. Aber auch sie weiß nicht, wohin mit deren Bewohnern, die dort feststecken und sich inzwischen ein eigenes Leben aufgebaut haben, mit eigenen Regeln, Geschäften, Schmuggelrouten und Transportwegen. Denn sie dürfen weder arbeiten noch das Lager verlassen. Obwohl Besucher aus der westlichen Welt immer wieder entführt werden, was wie in vielen anderen Regionen entstaatlichter Gewalt zu einem einträglichen Geschäft geworden ist, hat Rawlence die Menschen dieser „Stadt der Verlorenen“ in ihrem Alltag begleitet und erzählt von ihrer Herkunft, ihren Träumen, ihren Überlebensstrategien.

Nicht ganz so neue Odyssee

Den einzelnen Menschen rückt auch Patrick Kingsley in den Vordergrund. Der Reporter des Guardian hat im vergangenen Jahr 17 Länder auf drei Kontinenten bereist, um sich ein Bild von der größten Migrationsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg zu machen. Hunderte von Migranten hat Kingsley auf ihren Fluchtrouten durch Wüsten, über Berge und Meere getroffen. Allein 2014 und 2015 haben mehr als eine Million Menschen das Mittelmeer in kleinen Booten überquert.

Und wer glaubt, das sei bereits der Höhepunkt der Flüchtlingskrise gewesen, den erinnert Kingsley daran, dass nach EU-Schätzungen zwischen 2016 und 2018 mehr als drei Millionen Menschen folgen könnten. Die Bürgerkriege in Syrien, im Irak und in Afghanistan dürften eine bislang ungekannte Zahl in Richtung Europa treiben.

Vergessen wird allzu oft auch, was Kingsley auf der Basis von UN-Angaben in Erinnerung ruft: Die Last der globalen Flüchtlingskrise wurde jahrelang vor allem von den Entwicklungsländern getragen, wo bislang 86 Prozent aller Flüchtlinge Unterschlupf ­gefunden haben. Diesen Vergessenen ist sich Europa nun erst bewusst geworden, da sich ein größerer Teil als zuvor auf den Weg gemacht hat.

Denn – auch daran erinnert Kingsley zu Recht: Migration nach Europa ist keinesfalls ein neues Phänomen. Seit vielen Jahren versuchen Afrikaner, über Marokko nach Spanien oder vom Senegal aus auf die Kanarischen Inseln zu gelangen. Und ebenfalls seit Jahren bilden Libyen, die Türkei und Ägypten Sprungbretter nach Italien, Griechenland oder Bulgarien.

Kingsley sieht seine Erzählung der „neuen Odyssee“, wie er seine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise etwas konstruiert nennt, auch als eine Kritik am Umgang Europas mit der Migrationskrise und als Plädoyer verstehen, wie man aus Fehlern lernen und es besser machen könnte. Dabei nennt er Maßnahmen, die sicherlich sinnvoll gewesen wären und es auch immer noch sind – etwa die Einrichtung eines Systems zur organisierten Massenumsiedlung, das vielen Migranten Anreize bietet, kurzfristig im Nahen Osten zu bleiben und ihre Hoffnungen auf einen formellen Umsiedlungsprozess zu setzen.

Doch wenn Kingsley kritisiert, dass ein solches System nicht direkt mit Beginn der europäischen Flüchtlingskrise im Spätsommer 2015 geschaffen wurde, verkennt er die Mechanismen von Politik innerhalb der EU: Europa hat sich noch nie nach einem Masterplan am Reißbrett weiterentwickelt, sondern stets als Antwort auf eine Krise, die zunächst einmal auch eine gewisse Zeit andauern musste, bis der mediale wie politische Druck derart stark war, dass Europa sich einen Schritt weiter auf seinem Weg der Kooperation und Integra­tion bewegte.

Einwanderungsland Deutschland

Wie lang sich derlei Prozesse hinziehen können und wie lang es dauern kann, bis sie überhaupt wahrgenommen werden, zeigt auch so manche nationale Geschichte des Umgangs mit Flüchtlingen. Die deutsche beleuchtet Christian Jakob. Der taz-Redakteur, seit 1999 in flüchtlingspolitischen ­Initiativen aktiv und vor fünf Jahren Mitautor des Bandes „Europa macht dicht. Wer zahlt den Preis für unseren Wohlstand?“, verdeutlicht, wie tiefgreifend sich Zivilgesellschaft und Institutionen in Deutschland seit dem so genannten Asylkompromiss von 1993 verändert haben.

Das ist in Jakobs Augen auch das Werk der Flüchtlinge selbst: Über Jahre hinweg hätten sie mit konsequenten Protesten ihre Isolation in den Asylbewerberheimen durchbrochen und die notwendige Modernisierung Deutschlands zum Einwanderungsland vorangetrieben.

Vor allem in den Jahren 2012 bis 2015 macht der Autor eine bis dahin nicht dagewesene Dynamik aus: Jahrelange Asylverfahren, Arbeits- und Studierverbot, hohes Abschiebe­risiko, Isolation und Unterdrückung sozialer Beziehungen benennt Jakob als ­Faktoren, die zu immer mehr ­Protest geführt hätten – ob in Form von Demonstrationen, Hungerstreiks, Selbstverletzungen oder grenzüberschreitenden Märschen.

Ganz gleich wie groß der Anteil welcher Gruppe in Gesellschaft und Politik auch immer an diesem Wandel gewesen sein mag: Jakob ist zuzustimmen, wenn er feststellt, dass die Ankunft von mehr als einer Million Flüchtlingen in Deutschland erhebliche Spannungen und Polarisierung erzeugt habe. Dennoch fänden die neuen Flüchtlinge eine andere Gesellschaft vor als die Einwanderer der ersten oder zweiten Genera­tion. Vielleicht ist auch dies ein Grund dafür, warum sich für die heutigen Flüchtlinge noch vor einem Jahr kaum jemand in Deutschland interessiert hat.

Dr. Thomas Speckmann ist Leiter des Referats Reden und Texte, Stab Strategie und Kommunikation, Bundesministerium der Finanzen. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

Navid Kermani: Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa. Mit dem Magnum-Photographen Moises Saman. München: C. H. Beck Verlag 2016, 96 Seiten, 10,00 €

Ben Rawlence: Stadt der Verlorenen. Leben im größten Flüchtlingslager der Welt. München: Nagel & Kimche Verlag 2016, 412 Seiten, 24,90 €

Patrick Kingsley: Die neue Odyssee. Eine Geschichte der europäischen Flüchtlingskrise. München: C. H. Beck Verlag 2016, 230 Seiten, 14,95 €

Christian Jakob: Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern. Berlin: Ch. Links Verlag 2016, 255 Seiten, 18,00 €

Stefan Luft: Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen. München: C. H. Beck Verlag 2016, 128 Seiten, 8,95 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2016, S. 136-139

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