Titelthema

26. Juni 2023

Regentschaft der Opportunisten

Die neue weltpolitische Konstellation eröffnet Populisten und Autokraten an der Macht ganz neue Spielräume. In Zeiten neuer globaler Konflikte werden sie gebraucht und hofiert; die Demokratien erweisen sich damit allerdings einen Bärendienst.

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Bild: Personenkult um Narendra Modi
Enormer Personenkult: Die Populisten des 21. Jahrhunderts wie Indiens Narendra Modi üben weniger Gewalt aus als ihre Vorgänger im 20. Jahrhundert, sondern versuchen eher, die öffentliche Meinung zu manipulieren.
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Das Jahr 2022 war ein Jahr, in dem politische Illusionen endeten. Es war aber vielleicht auch, mag mancher annehmen, der Endpunkt einer Entwicklung, die häufig mit dem Bild einer populistischen „Welle“ beschrieben wird. Seit 2016, so heißt es häufig, hatte es einen weltweiten „Aufstand gegen die Eliten“ gegeben, oftmals mit berechtigten Vorwürfen gegen die Globalisierung, nichtselten jedoch auch mit einer antiliberalen Zerstörungswut oder gar einer gewissen grinsenden Frivolität à la Donald Trump oder Nigel Farage.

Der Krieg gegen die Ukraine hat die Lage grundlegend geändert: Angesichts einer neuen Ernsthaftigkeit und der Einsicht, dass bei allen Verfehlungen vielleicht doch etwas an der „liberalen Weltordnung“ erhaltenswert ist, sind Populisten vielleicht kleinlauter geworden oder einfach pragmatischer. Der Regierungskurs einer Giorgia Meloni – von Mario Draghis in vieler Hinsicht kaum zu unterscheiden – scheint ein Paradebeispiel zu sein für eine solche Abkehr von vermeintlicher Rabaukenpolitik und die Hinwendung zu einem neuen Realismus (der allerdings manchem Kritiker wie die alte Technokratie vorkommen mag, also der Diskurs von der Alternativlosigkeit).

So plausibel diese Beschreibung einer postpopulistischen Ernüchterung auch klingen mag: Sie ist viel zu simpel. Vor allem übersieht sie, dass die neue weltpolitische Konstellation auch ganz neue Spielräume für regierende Rechtspopulisten eröffnet hat. Die Allianz, die der Ukraine hilft, braucht dringend Staaten wie Polen und Indien auf ihrer Seite. Das ermöglicht beispielsweise den Hindu-Nationalisten in Neu-Delhi ein schamlos repressives Vorgehen gegen politische Gegner, das sie sich unter anderen Umständen vielleicht nicht getraut hätten. Weiterhin gilt zudem: Die Ansicht, Populisten könnten eigentlich gar nicht regieren, sondern würden immer automatisch an sich selber scheitern, ist schlichtweg falsch. Nicht nur das: Populisten an der Macht können voneinander lernen und das kopieren, was man wohl „worst practices“ für die Demokratie nennen muss. Dieser Prozess ist seit mehreren Jahren deutlich zu beobachten; es gibt keine Hinweise, dass sich durch den Krieg Russlands in der Ukraine hier etwas grundsätzlich ändert.

 

Eine bequeme Fehleinschätzung

Noch immer hält sich die Vorstellung, Populisten erkenne man vor allem daran, dass sie einfache Lösungen für komplexe Probleme marktschreierisch anböten. Im weitesten Sinne liberale Beobachter gehen davon aus, dass diese simplen Rezepte, sollten Populisten einmal an die Regierung kommen, in Kürze an der harten Realität scheitern würden. Das resultiere dann in einem rapiden Prestigeverlust der Populisten bei ihren Wählerinnen und Wählern. Allerdings könnten Populisten sich auch pragmatisch umorientieren; die Politikwissenschaft debattiert schon seit vielen Jahren die Moderation-through-­inclusion-Hypothese, wonach radikale Kräfte eben auch konkrete Erfolge in der Regierung erzielen müssen, so sie denn nicht von ihren Unterstützerinnen und Unterstützern abgestraft werden wollen. Klischeehaft hat sich hierfür das Bild etabliert, Radikale an der Macht würden sich eher darum kümmern, Schlaglöcher zu reparieren, als ihre ganze Zeit mit ideologischem Eifern zu verbringen. Die Schlussfolgerung ist klar: Das Problem löst sich letztlich von selbst, denn entweder werden „entzauberte“ Populisten gleich wieder abgewählt oder sie wandeln sich pragmatisch; ergo sind sie dann natürlich auch keine Populisten mehr.

Eine weitere Variante dieser optimistischen Lesart beruht auf der Grundannahme, Populisten seien vor allem Akteure, die „gegen Eliten“ oder die „Kritiker des Establishments“ seien. Einmal an der Macht, seien sie selbstverständlich selber Elite – logischerweise könnten sie dann keinem Anti-Elitendiskurs mehr frönen (außer, sie würden sich ständig selber kritisieren) und müssten sich umorientieren. Auch hier lautet die vermeintlich beruhigende Schlussfolgerung: Das Problem wird sich irgendwie von alleine lösen.

Doch gilt zum einen: Auch ein Populist an der Macht kann jederzeit eine Elite als neues Feindbild aufbauen – mit Vorliebe in Form einer internationalen Verschwörung, welche die populistische Regierung daran hindert, den vermeintlichen Volkswillen erfolgreich umzusetzen. Noch keinem Populisten sind die Sündenböcke ausgegangen, und eine Person wie George Soros wird ja bekanntlich bei jeder Gelegenheit von Populisten für Probleme und Niederlagen verantwortlich gemacht (so jüngst auch bei Donald Trump als Reak­tion auf seine Anklage in New York).

Noch wichtiger jedoch ist, dass „Kritik an Eliten“ einen nicht automatisch zum Populisten macht (im Gegenteil: den Mächtigen auf die Finger zu schauen ist eigentlich eine demokratische Tugend). Populisten kennzeichnet vielmehr, dass sie behaupten, sie und nur sie würden das vertreten, was bei Populisten gern als „das wahre Volk“ oder auch als die „schweigende Mehrheit“ bezeichnet wird.

Dieser Alleinvertretungsanspruch geht einher mit dem Versuch, Mitbewerber um die Macht als grundsätzlich illegitim zu diskreditieren: Man hat nicht einfach andere politische Ziele; vielmehr sind alle anderen Politikerinnen und Politiker von Grund auf korrupt. Zudem – das ist weniger offensichtlich – wird suggeriert, all diejenigen, die der letztlich symbolischen Konstruktion des „wahren Volkes“ nicht zustimmen (oder schlicht nicht in diese Konstruktion passen), gehörten eigentlich gar nicht zum Volk. Kurz gesagt, Populismus ist nicht einfach Elitenkritik. Er ist vielmehr eine ganz spezifische Politik, um andere auszuschließen. Offensichtlich ist dies auf der Ebene der Parteipolitik; weniger offensichtlich – aber weit gefährlicher – auf der Ebene der Bürgerinnen und Bürger, gilt doch laut der populistischen Logik: Nicht jeder, der oder die einen Pass hat, ist Teil des „wahren Volkes“. Denn da geht es im Zweifelsfall gegen unpopuläre oder auf irgendwie andere Weise verwundbare Minderheiten.

Die Gründe für den Erfolg dieser Politik variieren. So verlockend es auch ist, von einer „Welle“ zu sprechen, die in ganz ­verschiedenen Ländern von ein und demselben Faktor ausgelöst wurde, sei er ökonomisch oder „kulturell“, wie es manchmal etwas euphemistisch heißt: Man muss schon immer ganz genau hinschauen, welche Umstände den Populisten zuerst Erfolge an der Wahlurne ermöglichten. Viele ihrer inhaltlichen Ansprüche sind ja nicht einfach aus der Luft gegriffen, und nicht alle ihre politischen Ideen sind automatisch unterkomplex. Genauso wenig funktioniert es, sie in einer komplizierten Welt auf einen einzigen Faktor zu ­reduzieren.

 

Im Windschatten neuer Weltpolitik

Populisten können also durchaus regieren. Das heißt natürlich nicht, dass sie politisch unverwundbar wären. Aber – auch hier anders, als es die Vorstellung von den stets unterkomplex denkenden Akteuren will – sie sind durchaus bereit zu lernen, sowohl aus der Geschichte als auch voneinander.

Konkret heißt das: Sie versuchen, ihre Macht sowohl mit dem symbolischen Alleinvertretungsanspruch gegenüber dem „wahren Volk“ als auch mit konkreten Maßnahmen auf Dauer zu sichern. Dabei achten sie jedoch darauf, offensichtliche Repression so weit wie möglich zu verhindern, denn Brutalität gegenüber politischen Gegnern, der Justiz oder auch Journalisten gemahnt sowohl nationales als auch internationales Publikum zu sehr an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts.

Die bevorzugte Strategie besteht in dem, was Rechtswissenschaftler „autokratischen Legalismus“ nennen: Nach außen hin werden Prozeduren und der Buchstabe des Gesetzes befolgt, deren Geist wird aber verletzt, um immer mehr Macht bei der Regierungspartei zu konzentrieren. Darüber hinaus bedient man sich Mitteln, die gegenüber Kritikern immer als „freies Spiel der Marktkräfte“ gerechtfertigt werden können: Der Regierung gewogene Oli­garchen übernehmen Fernsehsender und Zeitungen, woraufhin unliebsame Berichterstattung wundersamerweise eingestellt wird; wer nicht spurt, bei dem wird auch noch die Steuerbehörde vorstellig (und findet ganz sicher immer eine Unregel­mäßigkeit). Wahlen allerdings werden weiterhin abgehalten; sie sind zwar in der Regel nicht fair, aber immerhin noch frei in dem Sinne, dass am Wahltag nicht manipuliert wird oder gar Bürger zur Unterstützung regierender Populisten gezwungen werden.

Die Sozialwissenschaftler Sergei Guriev und Daniel Treisman haben empirisch nachgewiesen, dass Populisten im 21. Jahrhundert anders agieren als ihre autoritären Vorgänger im 20. Jahrhundert: Es wird weniger Gewalt ausgeübt; stattdessen buhlt man mit verfeinerten Methoden um die öffentliche Meinung. Figuren wie der indische Premier Narendra Modi, um den sich inzwischen ein enormer Personenkult rankt, sind in der Tat sehr populär (vertraut man den Morning Consult Global Leader Approval Ratings, ist Modi mit über 70 Prozent Zustimmungswert der bei Weitem populärste Regierungschef der Welt); jegliche Verfehlungen werden dann auch gar nicht mehr ihnen zugeschrieben, sondern anderen Akteuren im Land oder – auch hier wieder sehr nützlich als Sündenböcke – allen möglichen internationalen Verschwörungen.

Diese populistischen Regierungspraktiken lassen sich über Grenzen hinweg kopieren: Es braucht keine besondere Kunst, um die Steuerbehörden gegen unabhängige Institutionen in Stellung zu bringen – seien es Thinktanks wie das Centre for Policy Research in Delhi oder gegen objektiv berichtende Medien. Auch Gesetze, die relativ neutral aussehen, aber de facto Nichtregierungsorganisationen als ausländische Geheimdienstmitarbeiter unter Verdacht stellen und auf vielfältige Weise diffamieren, kann man sich bei anderen populistischen Regierungen leicht abschauen.

Neu ist nun, dass einige Regierungen so gut wie gar nicht mehr kritisiert werden, weil sie als Verbündete auf der internationalen Bühne schlicht unverzichtbar geworden sind. Indien unter Modi ist das offensichtlichste Beispiel; das Land wird sowohl gegen Moskau als auch gegen Peking gebraucht. Die Regierung in Delhi spielt zudem geschickt mit (durchaus berechtigten) postkolonialen Empfindlichkeiten, wenn sie darauf besteht, sich von Westlern nichts vorschreiben zu lassen – beispielsweise, wenn darum geht, wer einem Öl und Waffen liefert. Gleichzeitig treibt sie damit ihren Preis für eine Kooperation vor allem mit den Vereinigten Staaten weiter nach oben. Modi profitiert zudem von der Soft Power von Yoga, das seine Regierung seit Jahren global anpreist; auf Betreiben Modis etablierten die Vereinten Nationen den 21. Juni als Internationalen Yoga-Tag.

Wohl nicht weniger hilfreich ist das Image Indiens als größte Demokratie der Welt. Da kann es nicht weiter verwundern, dass Joe Bidens Handelsministerin Gina Raimondo nach einem Besuch in Delhi Modi jüngst als außergewöhnlichen „Visionär“ pries, dem es um nichts anderes gehe als das Wohlergehen seines Volkes (und darum, Indien zu einer Weltmacht aufzubauen, was ihm, laut der sich vor Begeisterung überschlagenden Raimondo, auch sicher gelingen werde).

Wie andere regierende Rechtspopulisten hütet Modi sich davor, direkt mit Gewalt assoziiert zu werden. Die wird dann von den Bürgerwehren besorgt, welche gegenüber Muslimen Selbstjustiz verüben, um angeblich Kühe zu schützen oder dem „love jihad“ vorzubeugen, Liebschaften zwischen Muslimen und Hindus. Angesichts der weltpolitischen Bedeutung des Landes traut sich kein hochrangiger westlicher Politiker, auch nur ansatzweise Kritik zu üben. Biden lud Modi (ebenso wie Israels Premier Benjamin Netanjahu) auch ungeniert zu seinem zweiten Demokratiegipfel im März 2023 ein, Recep Tayyip Erdoğan und Viktor Orbán mussten hingegen draußen bleiben. Die Folge ist, dass Populisten an der Macht im Zweifelsfall schamloser agieren. Kurz vor dem Gipfel der Demokratien wurde Oppositionsführer Rahul Gandhi wegen Verleumdung Modis zu einer zweijährigen Strafe verurteilt – zufälligerweise ist es exakt das Strafmaß, das es rechtfertigt, einen Politiker aus dem Parlament auszuschließen. Diese „Enthauptung“ der Opposition hätte man sich unter anderen Umständen wohl nicht getraut.



Ungeniert die Weltlage ausnutzen

Die rechtspopulistische Regierung in Warschau profitiert in ähnlichem Maße von ihrer Sonderrolle bei der Unterstützung der Ukraine (auch wenn Brüssel, das gereicht der Kommission zur Ehre, weiter auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit pocht und, genau wie im Falle Ungarns, versucht, EU-Gelder als legitime Druckmittel einzusetzen). Aber wie ungeniert Populisten die Weltlage ausnutzen können, zeigt das Beispiel Orbán: De facto ist sein Land ein Verbündeter Putins innerhalb der EU. Immer wieder versucht der ungarische Premier, Sanktionen zu untergraben oder gar ganz zu beenden. Freunde macht er sich damit in anderen Hauptstädten nicht – aber wirklich gegen ihn vorgehen mag man auch nicht, immer mit dem Argument, dass eine fragile Einheit im Westen gewahrt bleiben müsse.

Es ist also verfehlt, mit der „Zeitenwende“ auch das Ende des Populismus kommen zu sehen. Zwar hat noch keine populistische Partei nennenswerte Erfolge mit dem Argument erzielt, mit den Opfern für die Ukraine müsse jetzt aber Schluss sein; zudem sind Pro-Putin-Reden bei europäischen Rechtspopulisten (die in manchen Fällen direkt mit Putins Partei Einiges Russland kooperieren) rarer geworden.

Für regierende Populisten aber, die ihre Staaten autokratisch umbauen und das Wohl ihres Landes mit dem ihrer Partei gleichsetzen, ergibt sich mehr Spielraum. Das Beispiel Meloni ist schlicht nicht repräsentativ – ihr relativ moderates Vorgehen erklärt sich vor allem damit, dass es für ihre Regierung fatal wäre, angesichts ausbleibender Reformen nicht an die enormen EU-Mittel zu kommen. Zumindest in dieser Hinsicht ähnelt die Situation dem Kalten Krieg, in dem man bei den Verbündeten des Westens bekanntlich auch oft nicht so genau hinschauen wollte.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 30-35

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Mehr von den Autoren

Prof. Dr. Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton. Seine jüngsten Bücher sind „Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit: Wie schafft man Demokratie?“ (2021) sowie „Furcht und Freiheit: Für einen anderen Liberalismus“ (2019).

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