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16. März 2022

Putins Krieg und die Sünden des Westens

Warum Russlands Aggression in Schwellen- und Entwicklungsländern nicht einhellig verurteilt wird – und was das mit dem Irak-Krieg 2003 oder der Unterstützung afrikanischer Freiheitsbewegungen durch die Sowjetunion zu tun hat.

Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, dem 24. Februar, hatte die südafrikanische Regierung eine klare Botschaft: Russland solle seine Streitkräfte entsprechend der UN-Charta sofort aus der Ukraine abziehen. Sechs Tage später jedoch, bei der Abstimmung in der UN-Generalversammlung am 2. März, konnte Südafrika sich nicht dazu durchringen, einer Resolution zuzustimmen, die Moskaus Aggression verurteilte. Noch auffälliger war die Erklärung, die Pretoria zur Erläuterung veröffentlichte: „Alle Seiten“ wurden da aufgefordert, sich an internationales Recht und die Prinzipien der UN-Charta zu halten.

Mit Recht wurde Südafrika für sein Stimmverhalten und die mitgelieferte Begründung im eigenen Land und auf internationaler Bühne teils heftig kritisiert. Das macht es allerdings nicht überflüssig, sich mit den Beweggründen zu beschäftigen. Denn es sagt einiges darüber aus, was in Schwellen- und Entwicklungsländern teilweise gedacht und gelegentlich auch gesagt wird – unabhängig davon, ob die jeweilige Regierung die Resolution zur Verurteilung des Angriffskriegs unterstützte, sich enthielt oder der Abstimmung fernblieb; die wenigen Ablehnungen à la Nordkorea lassen wir mal außen vor.

 

Westliche Doppelstandards

Die russische Aggression gegenüber der Ukraine ist ein Thema, das auch in Lateinamerika, Asien und im Nahen und Mittleren Osten nicht einheitlich bewertet wird. Allerdings lassen sich unterschiedliche Sichtweisen besonders stark für den afrikanischen Kontinent nachweisen. Eine durchgängig klare panafrikanische Stimme, die sich unmissverständlich gegen Aggression, Besatzung und Vertreibung ausspräche, wird man vergebens suchen.

Insgesamt unterstützte eine klare Mehrheit von 141 der 193 Mitgliedstaaten die Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung der russischen Aggression. Unter den afrikanischen Ländern aber wurden bei 28 unterstützenden Stimmen 16 Enthaltungen gezählt – neun Staaten erschienen gar nicht erst zur Abstimmung. Eritrea zählte zu den wenigen Ländern, die mit Nein votierten.

Zum Teil lässt sich dieser Befund mit den historischen Beziehungen erklären; etwa der Unterstützung afrikanischer Befreiungsbewegungen wie des ANC in Südafrika oder der SWAPO in Namibia durch die Sowjetunion. Hinzu kommt die Kritik an westlichen „Doppelstandards“, etwa an Militärinterventionen des „Westens“, vornehmlich der USA, die ohne UN-Mandatierung stattfanden. In schlechter Erinnerung ist in Afrika und anderswo vor allem die „Koalition der Willigen“, die sich 2003 dem mit manipulierten „Belegen“ begründeten US-Angriff auf den Irak anschloss. Außerdem verweist man auf eklatante Menschenrechtsverletzungen, bei denen die internationale Gemeinschaft wegschaute oder andere unrühmliche Rollen spielte. Der Genozid in Ruanda 1994 ist hierfür ein besonders trauriges Beispiel.

Generell lässt sich ein antiwestlicher Reflex bei einer ganzen Reihe von Regierungen in Afrika, Asien und Lateinamerika beobachten. Teilweise wurden Enthaltungen in der Generalversammlung  am 2. März mit dem Hinweis auf Blockfreiheit begründet. Der Gedanke geht zurück auf die erste asiatisch-afrikanische Konferenz, die 1955 in der indonesischen Stadt Bandung stattfand. Zahlreiche Schwellen- und Entwicklungsländer hatten seinerzeit den Wunsch formuliert, sich als unabhängige Kraft zwischen Ost und West zu etablieren.

Dabei ist allerdings an die beiden ersten Punkte der sogenannten „Bandung-Prinzipien“ zu erinnern, die in Indonesien verabschiedet wurden: die Einhaltung der UN-Charta sowie die Souveränität und territoriale Integrität aller Nationen. Und so machte der kenianische UN-Botschafter Martin Kimani in seiner Rede am 24. Februar im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen deutlich, dass gerade die koloniale Vergangenheit ein zentrales Argument gegen eine neue koloniale Dominanz und Unterdrückung sei.

Bei der UN-Generalversammlung am 1. März räumte Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock ein, dass ihr bei den Abstimmungstelefonaten einige Male der Vorwurf der Doppelmoral begegnet sei: „Als ich in den vergangenen Tagen um die Welt telefoniert habe, habe ich manche meiner Kolleginnen und Kollegen sagen hören: ‚Ihr wollt jetzt von uns Solidarität für Europa. Aber seid ihr denn in der Vergangenheit für uns dagewesen?‘ Ich möchte Ihnen ganz klar und ehrlich sagen: Ich kann Sie verstehen. Wir können Sie verstehen. Und ich glaube wirklich, dass wir immer gewillt sein sollten, unser eigenes Handeln, unser früheres Engagement in der Welt kritisch zu hinterfragen. Ich bin dazu bereit.“

Dieses Eingeständnis kann ein erster wichtiger Schritt sein, internationale Beziehungen ehrlicher und selbstkritischer zu gestalten. Das kann ein wichtiger Startpunkt für ein neues internationales Kooperationsverhalten sein, das wegkommt von Lager-Reflexen und hinführt zu einem neuen regelbasierten Vorgehen. Hieran sollten Deutschland und Europa ein erhebliches Interesse haben.

 

Dr. Stephan Klingebiel leitet am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn das Forschungsprogramm „Inter- und transnationale Kooperation“.

Bibliografische Angaben

IP Online exklusive, 16. März 2022

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