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05. Mai 2014

Problem Nummer eins: Sicherheit

Und die größte Herausforderung ist der Aufbau einer ukrainischen Demokratie

Das hat der Westen lange übersehen: Die Ukraine unterscheidet sich in ihrer politischen Kultur klar von Russland. „Autorität“ ist für sie nichts Unumstößliches. Mit dem Erfolg der Maidan-Proteste ist die Zivilbevölkerung noch selbstbewusster geworden. Baldige Neuwahlen auch des Parlaments würden den demokratischen Aufbruch voranbringen.

Die Ukraine gehörte bislang nicht zu den Lieblingen der internationalen Gemeinschaft. Sicherlich: War gerade etwas los, wie zu Zeiten der Orangenen Revolution oder während der Proteste auf dem Maidan, verfolgte man gern die Eilmeldungen aus Kiew. An friedlicheren Tagen sorgte die Ukraine aber schnell für Ermüdung. Dass das so war – und dass es zu den überraschenden Entwicklungen der vergangenen Monate kam – liegt an einigen Fehleinschätzungen. Es lohnt sich, sie zu erläutern.

Die Grenzen des Verständnisses

Es ist schwer, zweimal einen ersten Eindruck zu hinterlassen. Geht es das erste Mal schief, muss sich der Betroffene besonders anstrengen. Genau das passierte der Ukraine 1991. Als die Sowjetunion schnell in sich zusammenbrach, hatte die Außenwelt nur spärliche Informationen über Staat und Gesellschaft. Also zog man im Westen notgedrungen Schlüsse aus den wenigen verfügbaren Informationen. Russland war dabei das mit Abstand am besten erforschte Land. Für das Baltikum wurden in der Regel Ausnahmen gemacht, weil man sich noch an die Unabhängigkeit der Staaten vor dem Zweiten Weltkrieg und an offensichtliche kulturelle Unterschiede erinnerte. Schließlich benutzten die baltischen Staaten als einzige Sowjetrepubliken noch immer das lateinische Alphabet.

Aber die Ukraine? Weißrussland? Die drei Länder des Kaukasus und die restlichen Staaten? Die hier ganz offensichtlich vorhandenen Wissenslücken zu den postsowjetischen Staaten füllte man, indem man alles, was man von Russland wusste, auf diese Staaten übertrug. Als endlich bessere Informationen zur Verfügung standen, hatte sich das Bild schon verfestigt. Für die Ukraine interessierten sich nur noch die wenigsten Thinktank-Experten oder Entscheidungsträger westlicher Regierungen. Selbst in der Ukraine schien das alles nicht besonders dringlich.

Wichtige Erkenntnisse lieferte erst die Auswertung der Umfrage „World Values“ von Ronald Inglehart und Chris Welzel. Sie zeigte, dass Sicherheit für die Ukrainer oberste Priorität genoss – was an sich keine Überraschung war, schließlich liegt Russland der Ukraine auf der kulturellen Landkarte am nächsten. Verbunden mit anderen Einsichten in die Art und Weise, wie die ukrainische Gesellschaft funktioniert, unterstrich die Auswertung jedoch einen wichtigen Unterschied gegenüber Russland: nämlich bei der Wahrnehmung von Autorität in einem unsicheren Umfeld.

In Russland scheint Autorität unumstößlich; ein Bürger vermag nur wenig gegen die Regierung auszurichten, weshalb Unsicherheit wiederum in erster Linie von oben bekämpft werden muss, durch die Ausweitung der Macht der Zentralregierung. Im Gegensatz dazu lässt sich in der Ukraine Autorität in Frage stellen, denn Autorität wird als Bedrohung empfunden. Das Gefühl von Sicherheit ist umso größer, je schwächer die Regierung ist. Die Ukrainer haben gelernt, Korruption als ein Instrument einzusetzen, dass die Autorität schwächt und damit die Gefahren verringert, die durch eine verantwortungslos handelnde Regierung entstehen (wodurch man natürlich die nächste Büchse der Pandora öffnet). Das heißt auch, dass so ziemlich jede Regierung in der Ukraine als die einer ausländischen Besatzung wahrgenommen wird.

Zwei Regionen weichen von diesen Mustern besonders ab – die Krim und das Donezkbecken. Die Krim war der Ukraine kulturell fremd (genau wie sie nun dem modernen Russland recht fremd sein wird), da dort die alte politische Kultur der Sowjetunion weiter bestand. Die Kluft zwischen der Verbreitung europäischer Werte in der Ukraine und dem Ausbleiben eines ähnlichen Prozesses auf der Krim wurde zuletzt immer größer. Im Falle des Donezkbeckens schließt sich diese Lücke hingegen langsam; die Bindung an die Ukraine ist viel stärker. Mehrere Schlüsselmitglieder der ukrainischen Regierungen der vergangenen 20 Jahre entstammten der Elite des Donezkbeckens, deren Interessen eng mit der staatlichen Zukunft der Ukraine verknüpft sind.

Die Verfestigung unhaltbarer Zustände

Die Orangene Revolution hat gezeigt, dass Massenproteste das politische Spiel verändern können. Jedoch fehlten den Demonstranten geeignete Mittel, um die Regierung danach zu kontrollieren. Das führte dazu, dass die stärksten Minister ihre eigenen Instrumente schaffen konnten, um die ukrainische Demokratie zu missbrauchen. Diese Verfestigung unhaltbarer Zustände rückt die Ukraine näher an Südeuropa als an Osteuropa. Damit ist sie wohl ziemlich einzigartig.

Ihr institutionelles Gebilde stand nicht im Einklang mit ihrer Kultur: Das ist und bleibt der Hauptgrund für den Aufruhr. Die Ukraine erlangte die Unabhängigkeit relativ früh – vorangetrieben von den Kommunisten, die alles andere wollten, als unter der Herrschaft der Regierung Boris Jelzins zu bleiben. Anders als in Mitteleuropa hatten die Demokraten nie eine Chance, an die Macht zu kommen. Keine der tonangebenden Parteien fühlte sich in der Pflicht, den Bürgern Rechenschaft abzulegen. Populismus war die bestimmende Ideologie. So blieben der politischen Elite die Nöte und Bedürfnisse der Gesellschaft völlig fremd. Als die Zivilgesellschaft in der Ukraine stärker wurde, war ihr Gegner nicht allein die Regierung, sondern das fehlende Verantwortungsbewusstsein im gesamten politischen Spektrum. Im Westen hielt man die Aus­einandersetzung für die in Europa übliche Konstellation „Opposition gegen Regierung“. In Wahrheit handelte es sich um den Widerstand „der Menschen auf dem Maidan gegen Regierung und Opposition“.

Als die mit den Protestierenden am wenigsten verfeindete Gruppe hoffte die Opposition, die Früchte des Aufstands ernten zu können; bisher ist ihr dies auch gelungen. Die Regierung von Viktor Janukowitsch hingegen war von einer „halbsowjetischen“ politischen Kultur geprägt, wie wir sie aus dem Donezkbecken kennen. Aber dem Epizentrum der Proteste war er doch nahe genug, um zu erkennen, dass der russische Rat, einfach mehr Gewalt anzuwenden, nicht zum gewünschten Ergebnis führen konnte. Für den Kreml ging es um die Kontrolle ukrainischen Territoriums. Der Sturz einer russisch kontrollierten Regierung in Kiew bedeutete, dass aus der Ukraine ein unabhängiges Land werden könnte, das sich sowohl kulturell als auch institutionell von Russland losreißen würde.

Der Kreml besaß schon immer eine beeindruckende Fähigkeit, ukrainische Eliten zu korrumpieren –, und dass dies weiterhin geschieht, ist alles andere als unmöglich. Unter den neuen Bedingungen aber sichert Korruption nicht mehr zwangsläufig die Kontrolle über das Land. Denn mit den Ereignissen auf dem Maidan ist die ukrainische Zivilgesellschaft schnell zu einem ernstzunehmenden Mitspieler herangewachsen. Dies wird zwangsläufig die politische Arbeitsweise in Kiew beeinflussen. Hat sich die Regierung zwischen innerem Druck durch die Bevölkerung und externem Druck zu entscheiden, werden sich ukrainische Regierungen jedweder Couleur in erster Linie inneren Angelegenheiten zuwenden.

Der Aufbau einer ukrainischen Demokratie

Die Zivilgesellschaft wuchs während des wirtschaftlichen Aufschwungs zwischen 1998 und 2008 heran, reifte 2009, als das Wachstum um 14 Prozent einbrach, und wurde erwachsen, als Janukowitsch die wichtigste Regel der ukrainischen Politik – der Gewinner nimmt nicht alles – ignorierte. Mit der Inhaftierung Julia Timoschenkos wurde offensichtlich, dass die Ukraine auf dem Weg zu einer Ein-Mann-Herrschaft war. In Kombination mit dem herrschenden „Rechts-Nihilismus“ bedeutete dies vor allem eines: Für die Bürgerinnen und Bürger gab es keine Sicherheit mehr vor den Übergriffen des Staates. Der Möglichkeit beraubt, die Regierung zu beeinflussen, blieb der Zivil­gesellschaft nichts anderes übrig, als sie zu stürzen.

Die Proteste auf dem Maidan zu organisieren, war eine leichtere Aufgabe, als die Politik nach Janukowitschs Abgang zu gestalten. Die Zivilgesellschaft war institutionell noch nicht weit genug, um ihre Erfolge abzusichern. Die Mannschaft um Julia Timoschenko war besser vorbereitet. Alexander Turtschinow sicherte sich den Posten des Parlamentspräsidenten und damit die Rolle des regierungsführenden Staatsoberhaupts. Timoschenkos Parteimitglieder übernahmen die wichtigsten Regierungsposten. Ihr gelang es, ihre Partei mit Überläufern aus der vormals herrschenden Partei der Regionen zu stärken. Wobei sie eine Bezeichnung für sie erfand, die eigentlich ein Oxymoron ist: „Abgeordnete der Partei der Regionen, die dem Maidan nahestanden“.

Unter der Führung von Turtschinow enthob das Parlament Janukowitsch seines Amtes, nahm eine vom Verfassungsgericht verfügte Verfassungsänderung zurück (nun spielt das Parlament bei der Regierungsbildung wieder die Hauptrolle), entließ einige Verfassungsrichter (was im Gesetz eigentlich nicht vorgesehen ist) und konfiszierte Janukowitschs Anwesen. Viele empfanden das als gerecht. Völlig legal war es jedoch nicht. Manchmal wurde gegen vorgeschriebene Verfahrensweisen verstoßen, manchmal war das Vorgehen explizit per Gesetz ausgeschlossen.

Das dringlichste Thema ist die Sicherheit. Erst wenn die Sicherheitsbedrohungen beseitigt sind, kann die ukrainische Gesellschaft den reinen Kampf ums Überleben hinter sich lassen und beginnen, die eigenen Forderungen klar zu formulieren und umzusetzen. In dieser Hinsicht sind allerdings vor allem bilaterale Beziehungen, das diplomatische und militärische Engagement der Vereinigten Staaten und das Verhältnis zur NATO entscheidend. Der EU kommt bei Sicherheitsthemen nur eine untergeordnete Rolle zu. Darüber hinaus besteht die größte Herausforderung nach dem Erfolg der Maidan-Proteste darin, ein Regierungssystem aufzubauen, das der ausgeprägten Vielfalt der ukrainischen Gesellschaft gerecht wird. An Kompetenz und Kenntnis der Gesellschaft mangelt es nicht; doch ist es schwer, inmitten einer Krise strategisch zu handeln, weshalb zunächst eine starke Regierung an die Macht kommen muss, die in der Lage ist, auf die sicherheits- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen zu reagieren.

Das Parlament, das nun von der Anti-Janukowitsch-Koalition kontrolliert wird, hat bislang nur einen Teil der notwendigen Arbeit bewältigt und dabei noch nicht einmal den wichtigsten. Es legte fest, dass am 25. Mai ein neuer Präsident gewählt wird. Gemäß der überarbeiteten Verfassung wird dieser Präsident aber über weniger Befugnisse verfügen als zuvor. Nun wählt das Parlament die Regierung. Dabei hat sich die politische Situation seit den letzten Parlamentswahlen im Herbst 2012 dramatisch verändert. Jede der fünf im Parlament vertretenen Parteien durchläuft gerade einen tiefgreifenden Wandel – dabei ist von Parlamentswahlen so gut wie nie die Rede, noch nicht einmal von einem Fahrplan bis dahin. Vielmehr versuchen die regierenden Eliten, sich an der Macht zu halten. Glaubwürdigen Berichten zufolge hat Timoschenko versucht, sich durch Versprechungen, es gebe keine baldigen Neuwahlen, die Unterstützung ihrer Abgeordneten zu sichern. Aber gleichzeitig hat sie das gegenwärtige Parlament jüngst als „Terrarium“ bezeichnet, womit sie wohl ausdrücken wollte, dass es von alten Reptilien bevölkert sei und neu gewählt werden müsse.

Parlamentswahlen noch in diesem Jahr?

Die Haltung der Zivilgesellschaft ist in diesem Punkt so eindeutig wie sonst selten: Parlamentswahlen müssen noch in diesem Jahr stattfinden, und zwar gemäß Verhältniswahlrecht und mit offenen Parteilisten, um sicherzustellen, dass es nicht möglich ist, wie in früheren und auch im gegenwärtigen Parlament, sich einen Platz auf den geschlossenen Parteilisten zu kaufen. Dies bedeutet, dass das Parlament für ein neues Wahlgesetz stimmen müsste, das mit aller Wahrscheinlichkeit dafür sorgen würde, dass die meisten gegenwärtigen Abgeordneten ihren Sitz verlören.

Unter anderen Voraussetzungen würde ein Aufschieben dieses wichtigen Themas zu schweren Spannungen zwischen Zivilgesellschaft und politischem Establishment führen; letzteres wäre dann gezwungen, zumindest ein wenig Engagement bei der Frage an den Tag zu legen. Aber mit der Annexion der Krim haben sich die Bedingungen wiederum ein Stück verändert. Obwohl sie sie vor wenigen Wochen noch bekämpften, stehen die Demonstranten nun auf derselben Seite der Barrikaden wie die Oligarchen, die diesen Angriff auf die territoriale Integrität der Ukraine ebenfalls ablehnen. Und die jetzige Regierung wird die angespannte Sicherheitslage sehr wahrscheinlich nutzen, um Parlamentswahlen so lange wie möglich aufzuschieben. Die Unzufriedenheit mit dem amtierenden Parlament dürfte deshalb wachsen – zumal es auch wichtigen lokalen Wahl- und Anti-Korruptions-Gesetzen die Zustimmung verweigert.

Dem fehlenden politischen Willen in Kiew könnte die EU nachhelfen. Gegenwärtig ist die Regierung sehr darum bemüht, die finanzielle, wirtschaftliche und sicherheitspolitische Lage zu stabilisieren und reagiert daher offener auf Vorschläge von Partnern wie der EU. Die ukrainische Regierung ihrerseits könnte deren Umsetzung mit der Forderung nach einem größeren Sicherheitsengagement verbinden. Zu diesem Thema muss die EU noch deutlicher Position beziehen.

Eher symbolische Angelegenheiten wie Visafreiheit und Mitgliedschaftsperspektive stehen weiterhin auf der Agenda, sind jedoch nicht mehr so essenziell wie zuvor. Es gibt einen vorgezeichneten Weg zu visafreiem Reisen, und Fortschritte der Regierung in Kiew werden sich letztlich auszahlen. Eine Perspektive für eine ukrainische EU-Mitgliedschaft ist ein schwierigeres Thema, das die EU überraschenderweise bislang in Kategorien eines Entweder-oder zu betrachten scheint. Dabei ist es gut möglich, dass die EU davon profitieren könnte, wenn sie die Ukraine aufnähme. Ebenso gut aber ist es möglich, dass die Ukraine am Ende gar nicht beitreten will. Allerdings hat die Beitrittsperspektive großen Motivationscharakter, was gut für die Modernisierung und Demokratisierung der Ukraine sein kann.

All das ist nur die Spitze des Eisbergs: Die Lösung vieler weiterer grundlegender Probleme steht an. Wie anderen südeuropäischen Nationen fallen der Ukraine institutionelle Entwicklungen schwer. Unkonventionelle Ansätze werden wohl nötig sein, um effizientere staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen aufzubauen und den wechselseitigen Austausch unter ihnen, aber auch den mit Wissenschaft und Wirtschaft auszubauen. Dazu könnte ein partielles oder in manchen Fällen auch vollständiges Outsourcing bisheriger Regierungsaufgaben gehören, ebenso Politikberatung von außen (zum Beispiel bei der Wiederherstellung eines funktionierenden Medienmarkts, der gegenwärtig durch Korruptionsgewinne finanziert wird). In vielen Fällen liegen Lösungsmöglichkeiten bereits vor, doch reicht das Vertrauen zwischen den beteiligten Institutionen noch nicht aus, was eine Moderation oder Mediation notwendig macht. Langfristiges Engagement ist gefragt – auch das der EU–, das aber auch strategische Vorteile bietet.

Dafür muss die EU jedoch zuerst die Ukraine verstehen lernen. Ein tieferes Verständnis des Ostens Europas muss zu einer neuen Priorität Brüssels werden. Politischer Wandel war stets eine Stärke des Kontinents. Diese Fähigkeit ist nun gefragt, um sicherzustellen, dass Osteuropa eines Tages auch wieder langweilig werden kann.

Yevhen Hlibovytsky 
ist Gründer des unabhängigen Thinktanks pro.mova in Kiew.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 22-27

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