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01. Jan. 2003

Privilegierte Partnerschaft

Der Elysée-Vertrag gestern – heute – morgen

Am 22. Januar 2003 jährt sich die Unterzeichnung des Elysée-Vertrags zwischen Deutschland und Frankreich zum 40. Mal. Nach Ansicht des Koordinators für die deutsch-französischen Beziehungen im Auswärtigen Amt wurde damit der Weg bereitet für die historische Versöhnung der beiden Völker und für den Aufbau einer privilegierten Partnerschaft.

Der Elysée-Vertrag vom 22. Januar 1963 hat – wie alle großen Verträge – eine mehrdimensionale Geschichte. Zunächst hat er eine Vorgeschichte, ohne die seine Entstehung nicht zu erklären ist. Sodann kommt ihm die Bedeutung von wirklicher Ereignisgeschichte zu, sowohl im Urteil der Zeitgenossen als auch im Rückblick der Nachlebenden. Und schließlich hat der Vertrag auch eine Wirkungsgeschichte, die sich gelegentlich zu verselbständigen anschickt.

Den Hintergrund bildete eine politische Großwetterlage, die ein neues Wirklichkeitsbewusstsein in Europa entstehen ließ. In Deutschland herrschte ein Bedrohungsgefühl, das sich seit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 verstärkt entwickelte. In Frankreich hatte der Algerien-Krieg tiefe Spuren hinterlassen und deutlich gemacht, dass die Zeit der europäischen Kolonialmächte endgültig abgelaufen war. Über weltpolitische Entscheidungsmacht verfügten nur noch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika.

In dieser Lage kam es zu einer Annäherung zwischen den beiden auf verschiedene Weise angeschlagenen Nachbarn am Rhein, die zwar schon durch die Montanunion und die Verträge von Rom eingeleitet war, die nun aber auch politische Gestalt annehmen sollte. Es waren die Weitsicht des französischen Staatspräsidenten, Charles de Gaulle, und der Realitätssinn des deutschen Bundeskanzlers, Konrad Adenauer, die den Weg nicht nur zu einem politischen Interessenausgleich, sondern auch zu einer historischen Versöhnung der Völker bahnten. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland sollten eine privilegierte Partnerschaft aufbauen, die den Kern einer neuen Mächtekonstellation in Kontinentaleuropa bilden könnte.

Auf einer Pressekonferenz im Vorfeld des Elysée-Vertrags brachte de Gaulle am 14. Januar 1963 diese Konzeption einer fundamentalen Neuordnung der politischen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn am Rhein auf den Begriff einer historischen Weichenstellung. „Es handelt sich nicht nur“, so sagte er wörtlich, „um eine umstandsbedingte Versöhnung. Was vor sich geht, ist in Wahrheit eine Art wechselseitiger Entdeckung der beiden Nachbarn, bei der jeder gewahr wird, wie sehr der andere brauchbar, verdienstvoll und anziehend ist.“

Mit dieser Betonung der epochalen Neuordnung des deutsch-französischen Verhältnisses war jedoch noch nichts über den Aufbau Europas gesagt. Im Gegenteil: In de Gaulles Memoiren, den nach seinem Tode veröffentlichten „Mémoires d’espoir“, finden sich Sätze, die eine klare Absage an Brüsseler Integrationspläne beinhalten. So spricht er abschätzig von den Protagonisten supranationaler Ideen und unterstreicht, dass er sich mit Adenauer in der Ablehnung eines „vaterlandslosen Gebildes“ („construction apatride“) einig gewesen sei, in dem „unsere Völker, ihre Staaten, ihre Gesetze“ verschwinden.

Besonders kritisch betrachtet de Gaulle die Bemühungen des damaligen deutschen Kommissionspräsidenten Walter Hallstein, aus der Europäischen Gemeinschaft einen „Superstaat“ zu machen. Dieser bilde den „Rahmen, in dem sein Land (Deutschland) das Ansehen und die Gleichberechtigung wiederfinden könne, die der Wahnsinn und die Niederlage Hitlers es haben verlieren lassen.“ Für einen deutschen Politiker sei dies ein respektables Ziel, aber nicht für einen französischen. Trotzdem verschließt sich der französische Präsident nicht jeder Idee einer europäischen Union; diese beruht für ihn aber nicht auf der „Verschmelzung der Völker“, sondern ergibt sich aus ihrer „systematischen Annäherung“. Am Ende könne eines Tages eine „Konföderation“ von Staaten stehen, die stabile Solidaritätsbande unter sich entwickelt haben – vor allem unter dem Druck einer Bedrohung.

Eines Tages – ist dieser Zeitpunkt heute gekommen? In den 40 Jahren seit Abschluss des Elysée-Vertrags hat sich viel verändert. Eine der beiden Weltmächte von damals, die Sowjetunion, ist zerbrochen, die beiden deutschen Staaten haben sich vereinigt und die Europäische Union ist weit über ihre Anfänge hinausgewachsen. Nicht nur – für de Gaulle unvorstellbar – sind Großbritannien und mehrere skandinavische Länder hinzugetreten, auch Spanien, Portugal, Griechenland und Österreich sind Mitglieder der Union geworden; und kurz vor ihrer Aufnahme stehen acht Länder des ehemaligen Ostblocks –  welch ungeheure Wandlung.

Machtzentrum Europa

Auch Frankreich ist nicht mehr das Land, das de Gaulle regierte. Seine Wirtschaft ist fest mit den Ökonomien der anderen europäischen Länder verwachsen, seit dem 1. Januar 2002 lebt es in einer Währungsunion mit fast allen Staaten der Europäischen Union. Kein französisches Unternehmen wünscht sich ein Ausscheiden aus dem Euro-Raum.

Ebenso wichtig wie die wirtschaftliche ist die wachsende verteidigungspolitische Verflechtung. Zwar ist die Bedrohung aus dem Osten fortgefallen, aber dafür ist mit dem Aufkommen des Terrorismus eine neue entstanden. Und die Konflikt- und Krisenherde im Nahen Osten stellen völlig neue Anforderungen. Alle relevanten politischen Kräfte sind sich darin einig, dass kein einziges europäisches Land allein den großen neuen Aufgaben gewachsen ist; auch nicht Frankreich und Deutschland zusammen. Nur Europa insgesamt könnte eines Tages das Gewicht haben, das neben Amerika und den anderen Machtzentren der Welt zählt. Und die Welt wartet nicht.

Das Europa der Vaterländer, das de Gaulle vorschwebte, entspricht also nicht mehr den Realitäten. Zwar sind die gewachsenen Traditionen und kulturellen Prägungen auf unserem Kontinent nach wie vor so stark, dass es zu keinen den USA vergleichbaren Vereinigten Staaten von Europa kommen wird. Aber eine bloße Addition von Nationalstaaten mit ihren hergebrachten Rechten wird es auch nicht geben; die Wirklichkeit von heute verlangt Beschränkungen der nationalen Souveränität.

Was aber bleibt dann von der privilegierten Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland übrig? Ist sie zur Kümmerexistenz eines Traditionsvereins für Sonntagsredner verurteilt? Oder hat sie noch einen konkreten politischen Sinn?

In den vergangenen Jahren hat man auf diese Fragen mit einer Formel zu antworten versucht, die nur die eine Hälfte der Wirklichkeit wiedergibt. Man hat, je allgemeiner desto lieber, von dem „Motor“ gesprochen, den die deutsch-französische Partnerschaft im Einigungsprozess Europas bilde. Damit reduzierte man jedoch das große historische Werk de Gaulles und Adenauers auf eine Funktion im geschichtlichen Prozess der Befriedung unseres Kontinents und nahm ihm seinen tieferen humanen Sinn.

De Gaulle hatte bewusst einen Begriff in das Zentrum seiner Neuordnungsvision gestellt, der über ein bloßes Zweckmäßigkeitsdenken politischer Art hinausreichte: den Begriff der dauerhaften „Versöhnung“. Damit sollte eine Perspektive der Verständigung eröffnet werden, die geistige und zwischenmenschliche Beziehungen einschließt, eine Zukunftsperspektive, die anstelle hergebrachter Rivalität bewusste Solidarität setzte und setzt; und dies vor dem Hintergrund einer jahrhundertelangen leidvollen Geschichte, die zwei führende Nationen der europäischen Völkerfamilie miteinander hatten. Eine solche Begründung neuer Solidarität weist über die instrumentelle Motorfunktion der deutsch-französischen Partnerschaft hinaus. Sie zielt auf eine innere Befriedung, die schöpferische Kräfte des menschlichen Zusammenwirkens im Interesse eines allgemeinen Fortschritts  freisetzt und das weite Feld des sozialen und kulturellen Lebens einschließt. De Gaulles Solidaritätsverständnis impliziert geistige und kulturelle Ergänzung („complémentarité“).

Warum dazu aber die Bemühung um tausend Jahre deutsch-französischer Geschichte? Wer Frankreich kennt, weiß, dass dieses Land ein Langzeitgedächtnis hat, von dem Deutsche nur träumen können. Es ist kein Zufall, dass es ein Franzose war, der den entsprechenden Begriff geprägt hat: Fernand Braudel spricht in seinem Alterswerk über „Die Identität Frankreichs“ von der „langen Dauer“, die für die historischen Formationen Bedeutung habe. Frankreich ist das „lebendige Resultat all dessen, was die unendliche Vergangenheit in übereinander liegenden Schichten geduldig deponiert hat – ganz so, wie die unscheinbaren Ablagerungen des Meeres mit der Zeit die mächtigen Erhebungen der Erdkruste gebildet haben.“

Ein solches Geschichtsverständnis ist nicht weit entfernt von demjenigen, das sich im Eingangssatz von de Gaulles Memoiren niedergeschlagen hat: „La France vient du fond des âges“ – „Frankreich kommt aus der Tiefe der Zeitalter“. Danach sind Gegenwartswirklichkeiten nie ohne Wurzeln in der Vergangenheit; sie lassen sich mit historischen Bildern sogar besser wahrnehmen als ohne diese. So greift de Gaulle im Zusammenhang seiner Entfaltung des Versöhnungsgedankens auf die antiken Begriffe der „Germanen und Gallier“ zurück, um deutlich zu machen, dass es mehr als Tagespolitik ist, wenn die beiden großen Nachbarvölker der Deutschen und Franzosen heute wieder zusammenfinden und lernen, solidarisch zu sein. Und dies ist möglich, weil die Völker von Alters her darauf angelegt sind, sich zu ergänzen.

Als Deutscher steht man ungläubig staunend vor einer solchen Verknüpfung von Gegenwart und Geschichte. Nicht die jüngsten Erfahrungen mit den Auswüchsen des Nationalismus und Imperialismus, nicht die Erinnerungen an die blutigen Weltkriege geben den Ausschlag, sondern die Einsicht in die von Alters her angelegten Dispositionen einer deutsch-französischen Brudersolidarität begründet das Vertrauen in eine dauerhafte Versöhnung der beiden Nachbarvölker am Rhein.

Und diese Einsicht begründet auch die Privilegierung der deutsch-französischen Partnerschaft, die vielen Angehörigen vor allem der jungen Generation häufig unverständlich ist. Deutsche und Franzosen haben kein exklusives Sonderverhältnis, sie wollen keinen guten Beziehungen zu anderen europäischen Völkern im Wege stehen, und schon gar nicht wollen sie die europäische Einigung hinausschieben. Aber sie wissen, dass Europa ein festes Fundament braucht, das bloße Gegenwartsopportunitäten überdauert. Gerade angesichts der bevorstehenden EU-Osterweiterung ist es notwendig, krisenfeste Grundlagen auszubauen, die tiefer als in wirtschaftlichen und politischen Interessen verankert sind. Das leidgeprüfte deutsch-französische Paar, „le couple franco-allemand“, bietet dafür gute Voraussetzungen.

Allerdings dürfen sich unter diesen Umständen die Feiern zum 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags nicht in bloßen Zeremonien erschöpfen. Auch an Geburtstagen im reiferen Alter hoffen die Menschen auf Geschenke. Und dies umso mehr, als die Geschenkliste seit langem bekannt ist: Wir erwarten ein enges Zusammenwirken von Deutschland und Frankreich im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, gemeinsame Initiativen der beiden Länder im Verfassungskonvent in Brüssel, eine Harmonisierung der Rechtssysteme auf beiden Seiten der Grenze, die Ausgestaltung eines gemeinsamen sozialen Arbeitsraums, die Angleichung der allzu unterschiedlichen Bildungssysteme, verstärkte Anstrengungen zur Erlernung der Sprache des Partners und nicht zuletzt auch Bemühungen um gemeinsame Bausteine im Geschichtsunterricht in der Schule. Denn ein Europa ohne Bildung, dies scheint bewiesen, wäre

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2003, S. 46 - 48

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