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01. Mai 2012

Pfeiler der Freiheit

Wie Deutschlands weltpolitische Mission aussehen könnte

In den vergangenen Jahrzehnten hatte Deutschland enormes Glück: Die Voraussetzungen seines Erfolgs wurden im Wesentlichen von anderen garantiert. Darauf zu vertrauen, dass diese Glückssträhne ohne eigenes Zutun anhält, wäre riskant. Berlin muss seine starke Position nutzen, um sich für den Erhalt und den Ausbau der liberalen Weltordnung einzusetzen.

Löst sich Deutschland aus den traditionellen euro-atlantischen Bindungen? Ist es auf dem Weg, sich in eine stärker eigenständig agierende „Gestaltungsmacht“ zu verwandeln? Oder hat sich Berlin im Gegenteil vorgenommen, Deutschland in eine europäische Föderation zu führen? Die Ungewissheit über den außenpolitischen Kurs Deutschlands ist groß, international wie in Deutschland selbst.

In dieser Situation stünde der deutschen Außenpolitik eine Strategie gut an, die primär darauf abzielt, die gegenwärtige liberale Weltordnung zu stützen und zu festigen. Deutschland sollte seine Rolle als europäische Mit-Führungsmacht nutzen, die EU zu einem engen Schulterschluss mit den USA zu führen. Ein erneuerter, selbstbewusster Westen könnte die Fundamente der liberalen Weltordnung befestigen und ausbauen. Und er könnte noch mehr als bisher zum Gravitationszentrum für aufsteigende Staaten des Südens und des Ostens werden, die sich an der liberalen Kernzone, dem transatlantischen Bündnis, orientieren.

Bislang konnte sich Deutschland stets darauf verlassen, dass der internationale Rahmen, innerhalb dessen das Land seit Jahrzehnten Frieden und Freiheit genießt und ökonomisch prosperiert, von den USA gesichert wurde. Dass aber Amerika diese Rolle auch weiterhin einnimmt und voll ausfüllt, ist nicht unbedingt zu erwarten. Deutschland muss deshalb seine außenpolitische Rolle neu definieren: vom Nutznießer der liberalen Weltordnung1 zu einem ihrer tragenden Pfeiler. Denn das Schicksal dieser Ordnung hängt nicht nur von Entscheidungen ab, die in Washington, Moskau oder Peking getroffen werden, sondern auch nicht minder davon, wie sich London, Paris und Berlin strategisch ausrichten.

Der Garant schwächelt

Die Weltordnung befindet sich um Umbruch. Die Vereinigten Staaten sind immer weniger bereit, die Bürde des Managements globaler Aufgaben zu tragen; nach der durch zwei europäische Weltkriege erzwungenen Ausweitung amerikanischer Macht ins Globale möchte Washington sich endlich wieder auf sich selbst konzentrieren. Zugleich sinkt Amerikas relatives Gewicht. China, das neue Epizentrum der Weltökonomie, könnte in einigen Jahren oder Jahrzehnten die Regeln der liberalen Weltordnung und die Art und Weise ihrer Durchsetzung in Frage stellen, vielleicht gemeinsam mit Russland. Auch wenn beide nicht die Macht besitzen, eine neue Ordnung durchzusetzen, so könnten sie doch die bestehende Ordnung schwächen und entwerten. Und selbst wenn andere große Mächte Amerikas Primat nicht herausfordern, so kann doch ein schrittweises Zurückziehen oder Zurückweichen amerikanischer Macht zu Chaos und zu Machtkonkurrenzen führen. Es steht zu befürchten, dass darunter das Interesse der Weltgemeinschaft an Ordnung und freiem ökonomischen Austausch erheblich beeinträchtigt würde.

Die Schwächung der Garantiemacht der Weltordnung bedroht den Fortbestand der Ordnung selbst. Weltmächte und die von ihnen aufgebauten Ordnungen können niedergehen und scheitern, an historischen Beispielen dafür mangelt es nicht. Deshalb muss die künftige Kernfrage deutscher und europäischer Außenpolitik lauten: Was können, was wollen, was müssen wir tun, um selbst stärker zum Träger einer Ordnung zu werden, die uns  Jahrzehnte eines sicheren, freien Lebens in Wohlstand ermöglicht hat? Wie viel wollen wir in diese Ordnung investieren, und wie wollen wir es tun?

Die Antwort, die Deutschland auf diese Frage gibt, ist selbst wiederum von globaler Bedeutung: Entwickelt sich Berlin stärker als bisher in eine die liberale Weltordnung stützende Rolle hinein, ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Ordnung fortbesteht, um einiges höher, als wenn sich Deutschland eher passiv und neutral verhält. Als ökonomischer Riese und als europäische Mit-Führungsmacht hat Berlin die Chance, dazu beizutragen, dass Europa sich zu einem der Hauptpfeiler dieser Ordnung entwickelt. Fehlt ein stabiler europäischer Stützpfeiler – neben dem amerikanischen –, dann wächst die Gefahr, dass die liberale, aus europäisch-amerikanischen politischen Traditionen entwickelte Weltordnung nicht von Dauer ist.

Die Abwägung, ob und wie sehr sich Deutschland für den Erhalt dieser Weltordnung engagieren sollte, hängt erstens von den Alternativen ab – von den Szenarien für eine „postamerikanische“ Welt. Ein denkbares Szenario sieht so aus, dass der Rückzug amerikanischer Ordnungsmacht zu Chaos und Anarchie führt, zur Abwesenheit von Ordnung. Ein Vakuum entsteht, das staatliche und private Akteure auszufüllen suchen. Doch keiner von ihnen ist stark genug, sich durchzusetzen und territoriale Herrschaft auf Dauer zu etablieren – Somalia wäre ein extremes Beispiel dafür. Überall dort, wo Amerikas übermächtige Präsenz derzeit jeden Gedanken an Machtkonkurrenz im Keim erstickt, könnte ein Rückzug Amerikas lokale und regionale Akteure auf den Plan rufen, die konkurrierende Interessen und Ordnungsvorstellungen durchsetzen wollen. Kurz: eine Welt, die von der Rückkehr einer historisch und zivilisatorisch für weitgehend überlebt gehaltenen Gewaltkultur geprägt wäre, von Terror, Bürgerkrieg, regionalen Konflikten, vom Rückgang von Staatlichkeit und dem sicheren Ende der globalen Wirtschaft.

Das andere Szenario wäre die multipolare Ordnung. Doch eine Balance of Power, bei der mehrere Machtpole Ordnung stiften und um die Vorherrschaft konkurrieren, sollte man sich keineswegs als dauerhaft friedlich oder stabil vorstellen – und schon gar nicht als fair. Wenn Russland, China, Indien, die USA und andere Mächte permanent um Interessensphären streiten, sich belauern und zu übertrumpfen suchen, sind wir wieder da angelangt, wo Europa vor dem Ersten Weltkrieg stand. Der Ausbruch eines großen Krieges wird wieder denkbar, zumindest Stellvertreterkriege sind zu erwarten. Weltpolitik wird zum Nullsummenspiel, zum Kampf um nationale Vorteile auf Kosten der Anderen. Internationale Institutionen und internationale Verträge verlieren an Geltung. Alle Fortschritte der vergangenen Jahrzehnte auf dem Weg zu einer sichereren, friedlicheren und freieren Weltgemeinschaft würden aufs Spiel gesetzt. Eine darwinistische Konkurrenz der Starken, bei der die Schwachen zu Spielbällen würden.

Das andere Kriterium bei einer Bestimmung des deutschen Interesses am Erhalt der gegenwärtigen Weltordnung ist die Erfahrung. Unter den Rahmenbedingungen einer von den USA garantierten liberalen Weltordnung hat Deutschland die besten Jahrzehnte seiner Geschichte erlebt: stabiler Friede, demokratische und rechtsstaatliche Freiheit, beispielloser Wohlstand. Die Deutschen haben mit ihrer Tüchtigkeit diese Chance genutzt, gegeben aber wurde sie von Amerika, das nicht nur die internationalen Rahmenbedingungen schuf, sondern auch immer wieder unbeirrt an die Fähigkeit der Deutschen glaubte, sich politisch und moralisch zu erneuern und zu einem Träger einer neuen friedlichen und freiheitlichen Ordnung zu werden. Deutschlands „zweite Chance“ ermöglichte es dem Land, sich völlig neu zu definieren: nicht mehr als martialischer Akteur im Kampf um internationalen Status und Hegemonie, sondern als sozial-liberale „Friedensmacht“ – mit einem unablässig wachsenden Bruttosozialprodukt.

Achillesferse Militär

Ob beim Blick zurück oder bei der Skizzierung möglicher Zukunftsszenarien: Deutlich wird, dass es im existenziellen deutschen Interesse liegt, sich für den Erhalt und Ausbau der liberalen Weltordnung einzusetzen. Berlin sollte dies auf zweierlei Weise tun: erstens, indem Deutschland selbst stärker Ordnungsaufgaben übernimmt, eigenständig wie als Mit-Führungsmacht in der EU, und zweitens, indem es sich für den Ausbau der transatlantischen Partnerschaft einsetzt.

Was die stärkere eigene Übernahme von Ordnungsaufgaben angeht, kommen drei Felder in Frage: die europäische Nachbarschaft im Osten und im Süden, die Beziehung zu anderen Mächten und die Bearbeitung internationaler Krisen. Deutschland ist bisher in allen drei Bereichen präsent, aber kaum führend (mit Ausnahme des Balkans), und es setzt auch noch zu wenige Ressourcen ein. Als verantwortlicher ordnungspolitischer Akteur aber müsste Deutschland stärker bereit sein, sich aktiv einzumischen und auch Risiken einzugehen. Und es muss seine Aktivitäten immer auch daraufhin überprüfen, ob sie sich im Einklang befinden mit der übergeordneten strategischen Leitlinie, den Fortbestand und den Ausbau der liberalen Weltordnung zu befördern. Dabei sollte Deutschland immer beides tun – eigenständig bilateral agieren und den Rahmen der EU zur „Hebelung“ (Ruprecht Polenz) deutscher außenpolitischer Strategien nutzen. Der neue diplomatische Dienst der EU ist das geeignete Vehikel dafür. Entwickelt und mit Ressourcen ausgestattet werden muss die Strategie aber in den Hauptstädten der führenden Mitgliedstaaten.

Deutschland ist umso mehr auf den EU-Rahmen für die Entfaltung einer strategischen Außenpolitik angewiesen, als es selbst nicht glaubhaft über das Machtmittel des Militärischen verfügt, anders als Paris und London. Machttechnisch gesehen ist dies die Achillesferse Deutschlands – Bevölkerung und Eliten lehnen den Einsatz militärischer Mittel unter fast allen Bedingungen ab. Der Einsatz in Afghanistan, anfangs als Beitrag zum auch militärpolitischen „Erwachsenwerden“ der Berliner Republik gefeiert, als Ankunft in einer neuen nationalstaatlichen „Normalität“, hat diese Grundhaltung eher noch bestärkt.

Angesichts dieses innenpolitischen Vetos in Bezug auf militärische Macht verfügt die deutsche Außenpolitik nicht über die gesamte Skala von Machtmitteln. Berlin kann darauf in zweierlei Weise reagieren: entweder gegen den derzeit in vielen Staaten Europas vorherrschenden Trend Investitionen in die Bundeswehr durchsetzen und für das Militärische als Bestandteil moderner Staatlichkeit werben, oder aber dieses Handicap hinnehmen und sich um einen Ersatz zumindest für gemeinsame multilaterale Einsätze zu bemühen (zum Beispiel eine professionelle Kapazität im „soften“ Bereich der Hard Power, etwa Ausbildung von Militär und Polizei). Was jedoch nur wenig daran ändert, dass ein Deutschland, das nicht mit Frankreich und Großbritannien militärisch auf Augenhöhe steht, als sicherheitspolitischer Player von alten und neuen Mächten nicht wirklich ernst genommen wird. Machtstrategisch gesehen wird Deutschland auch weiterhin darauf angewiesen sein, militärische Schwäche durch ökonomische Stärke auszugleichen.

Transatlantischer Marktplatz

Das zweite Element einer strategischen Ausrichtung deutscher Außenpolitik auf die Stabilisierung der liberalen Weltordnung hin wäre der Ausbau der transatlantischen Partnerschaft. In enger Absprache mit den Mit-Führungsmächten der Europäischen Union, Frankreich und Großbritannien, könnte Deutschland hier die Initiative ergreifen und beide Seiten des Atlantiks enger zusammenführen. Die neu gestaltete Partnerschaft könnte auf zwei Pfeilern aufgebaut sein: einem transatlantischen „Marktplatz“ und einer engen Abstimmung in der Außenpolitik.

Für den transatlantischen Marktplatz, für die Fortentwicklung des ökonomischen Austauschs zwischen den USA und der EU gibt es eine Reihe von Initiativen und Plänen. Von einem weiteren Abbau von Handelshemmnissen mit dem Nahziel einer Freihandelszone und dem Fernziel eines gemeinsamen Marktes würden beide Seiten wirtschaftlich profitieren und ihre Stellung als führende Ökonomien in der Welt festigen. Angela Merkel hat sich mehrfach für solche Initiativen eingesetzt, doch bisher fehlt noch die volle politische Schubkraft.

Der zweite Pfeiler wäre eine engere Kooperation in der Außenpolitik. In vielen Bereichen der Außenpolitik funktioniert transatlantische Zusammenarbeit, weil sich die Akteure eng abstimmen (etwa die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton und die US-Außenministerin Hillary Clinton). Dennoch gibt es jenseits der NATO kein institutionelles Forum zum Austausch von Positionen und Durchspielen und Festlegen gemeinsamer Strategien.

Die Zusammenarbeit funktioniert derzeit zwar, doch bleibt die Koordina­tion europäischer und amerikanischer Außenpolitik von vielen Zufällen abhängig. Und der Austausch ist oft einseitig: Geplant und beschlossen wird fast immer in Washington, anschließend bleibt es der europäischen Seite überlassen, sich anzuschließen – oder auch nicht. Liegt Washington viel daran, die Europäer mit ins Boot zu holen, wendet es sich an die Hauptstädte.

Das liegt vor allem daran, dass die EU es versäumt hat, sich machttechnisch adäquat zu formieren. Die Hoffnung, dass es mit dem Lissabonner Vertrag auch nur noch einen Ansprechpartner für die transatlantische Kooperation geben würde – dass also Brüssel stellvertretend für die europäischen Mächte sprechen würde –, hat sich nicht erfüllt. Denn trotz aller Lippenbekenntnisse behalten in der Außenpolitik die Nationalstaaten das Heft in der Hand. Das führt dazu, dass die jährlichen EU-US-Gipfeltreffen, bei denen der Präsident des Europäischen Rates, der Präsident der EU-Kommission und die Hohe Vertreterin für Außenpolitik mit dem amerikanischen Präsidenten und seiner Außenministerin zusammentreffen, von amerikanischer Seite nicht als zentrales Forum der weltpolitischen Koordination mit den Europäern angesehen wird, sondern als lästige Pflichtübung. Der Grund dafür ist, dass die wichtigsten Entscheidungsträger auf europäischer Seite – Merkel, Sarkozy, Cameron – gar nicht mit am Tisch sitzen.

Ein neu konzipiertes Format für den EU-US-Gipfel könnte das ändern und sich zum zentralen Forum für die Koordination der Grundlinien westlicher Außenpolitik entwickeln. Wenn sich zwei Mal im Jahr der US-Präsident und seine Außenministerin mit den Spitzen der EU und den sechs führenden Regierungschefs der EU (Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Polen) sowie ihren Außenministern träfen (plus rotierend zwei Vertreter der kleineren EU-Mitgliedsländer), dann säßen alle wichtigen Akteure am Tisch. Ergänzt und erweitert werden könnte dieses Format dadurch, dass sich die jeweiligen Außenminister darüber hinaus noch zwei Mal jährlich treffen. Ein Generalsekretariat für die transatlantische Koordination in der Außenpolitik könnte aufgebaut werden, das zum Gravitationszentrum für die transatlantische Zusammenarbeit werden könnte. Eine profilierte Figur an der Spitze dieses Generalsekretariats könnte die Agenda setzen und sich zum Sprecher einer gemeinsamen Politik entwickeln.

Eine erneuerte transatlantische Partnerschaft könnte zu einer Renaissance des Westens führen. Aus einem Bündnis der Not und der Ungleichheit, geschmiedet im Kalten Krieg, würde ein gleichberechtigtes Bündnis, das auf dem erklärten Willen beider Seiten gründet, ihre liberalen Werte zu sichern und gemeinsam weiter zu entfalten. Ein Bündnis, das offen wäre für Kooperation mit anderen liberalen Demokratien und entschlossen, den Geltungsbereich der freiheitlichen Ordnung auszuweiten.

In den vergangenen Jahrzehnten hatte Deutschland enormes Glück: Die strukturellen Voraussetzungen seines Erfolgs wurden wesentlich von anderen garantiert. Darauf zu setzen, dass diese Glückssträhne auch ohne eigenes Zutun anhält, wäre äußerst riskant. Deutschland ist gegenwärtig in einer Position, in der es über die Mittel verfügt, um zum Mit-Garanten dieser strukturellen Voraussetzungen zu werden: durch die strategische Ausrichtung seiner Außenpolitik auf den Erhalt und Ausbau der liberalen Weltordnung, im Rahmen der EU und in Partnerschaft mit den USA. Es sollte diese Gelegenheit nutzen.

ULRICH SPECK arbeitet als außenpolitischer Analyst in Heidelberg. Er ist u.a. Herausgeber des Global Europe Morning Brief.

  • 1Bei der Verwendung des Begriffs „liberale Weltordnung“ beziehe ich mich auf G. John Ikenber- ry: Liberal Leviathan, Princeton University Press 2011.
Bibliografische Angaben

Internationle Politik 3, Mai/Juni 2012, S. 26-32

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