IP

01. Juni 2006

Parteien auf Sinnsuche

Den großen Volksparteien geht die Zukunftsorientierung zunehmend verloren

Allmählich verfliegt der Charme der Patchwork-Politik. Die Schritt-für-Schritt-Reden der Großen Koalition verkommen zur Reha-Rhetorik. Die Sehnsucht nach lauttönenden Radikalversprechen ist innerhalb der Bevölkerung keineswegs erkennbar, doch die Wahlbürger erwarten zumindest in Ansätzen eine schlüssige Reformkommunikation. Worin besteht der aktuelle Kompass der Großen Koalition, der eine Richtung vorgibt und gegen den Vorwurf tagespolitischer Beliebigkeit schützt? Was ist der übergeordnete Begründungszusammenhang der Tagespolitik? Spürbar ist derzeit nur die konsequente Wende zum Weniger, was mit mehr Belastungen und höheren direkten und indirekten Steuern für jeden Einzelnen einhergeht. Hintergrund dieses Trends ist keineswegs Ratlosigkeit der Regierungskoalition oder die Logik einer Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Vielmehr ist es zunächst eine Reaktion auf das Wahlergebnis, von dem kein grundsätzlicher Politikwechsel ausgehen sollte. Sozialstaatlichkeit gehört zur Staatsräson in Deutschland. Systemverändernde Einschnitte in den Sozialversicherungssystemen werden an Wahltagen nicht belohnt. Der Großen Koalition als Reformbedarfsgemeinschaft fehlt die politische Legitimation für grundlegende Modernisierungsmaßnahmen. Ein weiterer Grund für gefühlte Stagnation liegt in der Mutlosigkeit der beiden Volksparteien, die nach wie vor als Wahlverlierer kraftlos auftreten.

Die Schwäche der Volksparteien hängt nicht primär mit abnehmender Mitgliederzahl und nachlassender Kampagnenfähigkeit angesichts zunehmender Vergreisung zusammen. Vielmehr sind die Volksparteien weitgehend basislos geworden und damit immer weniger gesellschaftlich verankert. Ihnen fehlt die notwendige Repräsentativität, um konfliktsensibel agieren zu können. Sie sind immer weniger Bindeglied in der Funktionslogik des repräsentativen parlamentarischen Systems, kein Resonanzraum für Stimmungen. Solche Organisationen sind ohne eigenen Standort Spielball für alles, witterungsabhängig. Auch das verstärkt den entideologisierten Wettbewerbsdruck, unter dem die Parteien leiden.

Der Wettbewerbsdruck führt zu einer dramatischen Gegenwartsfixierung. So bleibt immer weniger Zeit, um Entscheidungen mit immer längeren Wirkungen zu treffen. Solche Parteien mit ideenfreien Zonen sind extrem risikoanfällig. Sie sind als Machtressource für die politische Führung nur schwer kalkulierbar, wie die letzten eruptiven Prozesse innerhalb der SPD-Führungsspitze erneut beispielhaft gezeigt haben. Beide Volksparteien leiden an strategischer Unsicherheit über ihr jeweiliges Zukunftsprofil und ihre Identität.

Insofern ist es folgerichtig, mit neuen Grundsatzprogrammen nach Identitäts- und Markenkernen zu suchen. Sinnlöcher gilt es aufzufüllen. Die Erneuerungskur ist notwendig, um auch der ewigen Verführung der Politik durch das Naheliegende zu entkommen. Die Programmdiskussion ist innerparteilich entscheidend. Sie ist nur begrenzt außenwirksam. Alterskohorten bündeln sich bei den Parteiaktivisten in der Regel um solche grundsätzlichen Prozesse des Miteinanderringens. Das kann auf Jahrzehnte zusammenschweißen. Nicht immer werden innovative Politikkonzepte einfließen. Vielmehr gilt es mit nachholendem Charakter, den Vorrat an gemeinsamen Selbstverständlichkeiten wieder aufzufüllen. Die CDU ist dabei im Vorteil. Denn als pragmatische Gefühlspartei ist ihre machtpolitische Verortung nicht vom Gelingen der Programmdiskussion abhängig. Anders bei der SPD. Als Programmpartei bindet sie ihre Mitglieder mehr durch die Kraft von Inhalten als durch das Versprechen auf Macht.

Der Ansatzpunkt für das Fitnessprogramm ist ausschließlich inhaltlich ausgerichtet. Denn nur die Partei ist erfolgreich, die als Formation die Kraft besitzt, einem gesellschaftlich bedeutenden Konflikt politischen Ausdruck zu verleihen: idealtypisch mit Personen und Programmen, die in sich stimmig sind. Antworten auf solche grundlegenden Disparitäten sind auf drei Ebenen zu suchen: der verteilungspolitischen Konfliktlinie (Umverteilung versus Marktliberalität), der Divergenzen zwischen Zentrum und Peripherie (zwischen Mehrheiten und neuen Minderheiten) und der wertbezogenen, kulturellen Dimension von Konflikten (zwischen gemeinwohlorientierter Bürgerlichkeit und nichtbürgerlichem Populismus). Um einer Beliebigkeit und der Pragmatik des Augenblicks bei den Antworten auf diese elementaren Konfliktlinien zu entkommen, muss der Markenkern einer Partei erkennbar sein.

Das ist viel mehr als Marketing. Der Markenkern resultiert aus den jeweiligen Wertefundamenten. Führung durch Werte bedeutet nicht Zeitgeist-Anbiederung, sondern selbst für andere attraktiv zu werden. Führung in diesem Sinne kommt strikt ohne Echo-Demoskopie aus. Denn neue Mehrheiten muss man sich durch Überzeugungsarbeit erst mühsam erarbeiten. Tagesumfragen mit Messergebnissen zur aktuellen Themensympathie sind dabei völlig irrelevant. Regieren und Opponieren besteht gerade in Zeiten ökonomischer Knappheit aus dem Festsetzen von Prioritäten, nicht aus deren scheinbarer Aufhebung.

Da die Sehnsucht nach moralischer Orientierung ebenso zunimmt wie das Wissen um die Kraft einer Wertorientierung, kann das auch zu Führungszwecken genutzt werden. Wahlkämpfer zielen auf die Mobilisierung von Identitäten. Werte sind folglich Mobilisierungsinstrumente. Wertorientiertes Leadership bedarf allerdings der Selbstvergewisserung von Prioritätensetzungen. Was ist, aus der kulturellen Tradition der Partei heraus, die Antwort auf die drei großen gesellschaftlich bedeutenden Konfliktlinien? Das Ideenmanagement für eine nicht nur nachholende Modernisierung, sondern für einen vorausschauenden Reformprozess müsste mehr bieten als nur altsoziale oder marktliberale Akzente.

Was soll ein Gemeinwesen, außer Marktplatz zu sein? Wenn es mithin darum geht, Identitäten zu mobilisieren, dann sind Verortungen im Mittelfeld der zentralen Konfliktlinien gefordert. Mittezentrierte moderne Bürgerlichkeit findet sich an der Schnittmenge der Konfliktlinien: mitfühlend, sozial, verantwortlich. Eine politische Mitte, die sozial sensibel daherkommt, ohne aber gleichmacherisch zu sein. Das wäre eine Kombination aus bürgerlicher Solidität, gemeinwohlorientiertem Kaufmannsgeist und bildungsbürgerlichem Traditionsbewusstsein. Mehrheiten für Unpopuläres sind in so einer Tonalität organisierbar, weil sie mit ganzheitlichen Lebenswelten rechnen und nicht alles auf funktionalistische Leistungsparameter der Wettbewerbsgesellschaft reduzieren.

Prof. Dr. KARL-RUDOLF KORTE, geb. 1958, lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und leitet die Forschungsgruppe Regieren. In Kürze erscheint „Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Prozesse, Entscheidungen seit 1990“, Wiesbaden 2006 (zus. mit M. Florack und T. Grunden).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 82‑83

Teilen

Mehr von den Autoren