Titelthema

26. Juni 2023

Pandemie und Partnerpflege

Das chaotische Ende der chinesischen Null-­Covid-Politik hat im Westen die Illusion des allmächtigen autoritären Staates zerstört. Aus Sicht des Globalen Südens dagegen hat Peking gesundheitspolitisch im Wettstreit der Systeme gepunktet.

Dass die Corona-Pandemie die Welt verändert hat, ist bekannt. Der Umgang der Staaten mit Covid-19 hat allerdings, ganz nebenbei, eine Systemfrage aufgeworfen: Können Demokratien oder Autokratien besser mit den komplexen Herausforderungen einer Pandemie umgehen?

Nun ist es auch im Rückblick sehr schwer, hier Erfolg oder Misserfolg zu messen. Mögliche Wege der Annäherung wären eine Analse des Tempos der politischen Entscheidungsfindung, ein Vergleich der Todeszahlen, der Blick auf Einbußen im Bruttoinlandsprodukt oder die Frage, als wie stabil sich das politische System in der Krise erwiesen hat. Schon beim Versuch, die Todeszahlen zu ermitteln, stößt man gerade in autoritären Staaten auf unvollständige Informationen. So lagen etwa die täglichen Fallzahlen in Belarus zwischen November 2020 und Dezember 2021 stets knapp unter (sehr niedrigen) 2000, und seit dem 1. Juli 2022 meldet Minsk gar keine offiziellen Corona-Daten mehr an die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

In Russland weichen die offiziellen Todeszahlen stark von der nachträglich ermittelten Übersterblichkeit ab. Stellt man auf die Corona-Toten ab, stimmt das von der russischen Führung propagierte Bild, man sei gut durch die Pandemie gekommen, nicht mit der Realität überein. Die staatliche Erzählung, man habe Covid im Griff, führte zur Verharmlosung des Virus. Die Folgen waren eine niedrige Impfbereitschaft trotz guten Impfstoffs und mehr Corona-Tote.

Auch in China war man in Sachen Pandemiebekämpfung ausgesprochen erfolgreich – zumindest, wenn man den Regierungsangaben glaubt. Mit einer transparenten und kritischen Aufarbeitung der chinesischen Corona-

Politik ist nicht zu rechnen, eine offene Debatte darüber findet in China auch gar nicht statt. Stattdessen verweist man von Regierungsseite auf die niedrigen – offiziellen – Todeszahlen, insbesondere im Vergleich zu den USA. Dort starben rund 0,34 Prozent der Bevölkerung an oder mit dem Virus. Ginge man von einer ähnlichen Todesrate in China aus, so käme man auf fünf Millionen Todesopfer. Darüber hinaus betont die Führung in Peking, dass das chinesische Gesundheitssystem nicht zusammengebrochen sei. Das gelte auch für den Winter 2022/23, als die Regierung – quasi über Nacht – ihre Bevölkerung der Omikron-Variante aussetzte.

Der Ehrgeiz der chinesischen Null-­Covid-Politik ging dahin, die Ausbreitung des Virus vollends zu kontrollieren. Dafür setzte man auf besonders strenge Maßnahmen und digitale Hilfsmittel. Bis zum Auftreten der Omikron-Variante verfolgte die chinesische Führung diesen Ansatz durchaus erfolgreich. Ausbrüche wurden im Keim erstickt; ein negativer Corona-Test war der Schlüssel, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Die Bewegungsfreiheit weiter Teile der Bevölkerung wurde massiv eingeschränkt. Allerdings: Als in China die Fallzahlen stiegen, hatte der Großteil der Welt den Pandemiemodus bereits lange hinter sich gelassen. Omikron zwang die Null-Covid-Politik in die Knie.

 

Vom Hilfsempfänger zum Hilfsgeber

Angefangen hatte die Pandemie bekanntlich mit Meldungen im Dezember 2019 aus Wuhan, die von offizieller Seite zunächst als Versuche der Unruhestiftung abgetan und verfolgt wurden. Am 31. Dezember bestätigte die städtische Gesundheitskommission von Wuhan das verbreitete Aufkommen von Lungenentzündungen. Rasch wurde als deren Ursache das SARS-CoV-2-Virus ermittelt und sequenziert. Anfang Januar 2020 erhielt China aus der ganzen Welt Hilfslieferungen. Am 23. Januar schottete Peking die Millionenstadt Wuhan ab. Mit dem Lockdown und strikten landesweiten Maßnahmen ließ sich der Ausbruch des Virus innerhalb des Landes wirksam bekämpfen.

Bereits Ende Februar, noch bevor die WHO am 11. März den Pandemiefall ausrief, hatte Peking das Virus im Griff und wandelte sich vom Hilfsempfänger zum weltweit größten Hilfsgeber. Während die Regierung Donald Trumps bei der Pandemiebekämpfung auf „America First“ setzte und die Ausfuhr von Hilfsgütern stoppte, während in Europa Exportkontrollbeschränkungen für Atemschutzmasken in Kraft traten, spendete China medienwirksam Masken, Test- und Beatmungsgeräte in die ganze Welt.

Der chinesische Propagandaapparat produzierte ein globales Narrativ, in dem Peking zur verantwortungsbewussten internationalen Großmacht stilisiert wurde, während die USA als egoistisch und unfähig beschrieben wurden. Auch bei der Verteilung von Impfstoffen war China bis in den Sommer 2021 hinein der größte Geber vor den USA. Besonders im Globalen Süden erwarb Peking viel Anerkennung, auch wenn sich der niedrigere Wirkungsgrad der Impfstoffe von Sinovac und Sinopharm dort rasch herumsprach.

Mit dem Aufkommen der Omikron-­Variante wurde der chinesische Null-Covid-Ansatz immer realitätsferner. Omikron zeigte die Schwächen des chinesischen Systems auf. Die Null-Covid-Politik war so stark ideologisch aufgeladen, dass sie selbst dann noch verfolgt wurde, als man erkannt hatte, dass sie epidemiologisch sinnlos, wirtschaftlich sehr kostspielig und in der chinesischen Bevölkerung ausgesprochen unbeliebt war.

Teilweise lässt sich das Festhalten an Null-Covid mit dem Warten auf den 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) Mitte Oktober 2022 erklären. Hier wurden die machtpolitischen Weichen für die absehbare Zukunft zementiert. An eine Lockerung der Covid-Politik, mitsamt den daraus folgenden Unsicherheiten, war zuvor aus Sicht der chinesischen Führung nicht zu denken. Erst nachdem Xi Jinping ein loyales Politbüro hatte, wurden Lockerungsmaßnahmen angekündigt.

Da die Umsetzung vollkommen unkoordiniert erfolgte, kam es zu politischen Spannungen. Die Proteste richteten sich zu einem Großteil gegen die unzulängliche Umsetzung der Lockerungen. Der ursprünglich anvisierte graduelle Abbau der Null-Covid-Politik bis Ende März 2023 kam nicht mehr infrage. Stattdessen wurden bereits im Dezember und gleichsam von jetzt auf gleich sämtliche Maßnahmen aufgehoben. Das führte zu millionenfachen Erkrankungen in den großen Städten.

Wie viele Menschen in der Folge am Virus verstarben, ist noch nicht ermittelbar. Die chinesische Führung versucht, das Thema Corona zu tabuisieren. Fehler bei Null-Covid werden – wie so oft in China – auf die Umsetzungsebene geschoben.

 

Testballon zur Kontrollausweitung

Geschwächt worden ist das System Xi durch Corona aber nicht, im Gegenteil. Trotz gravierender Mängel des Krisenmanagements geht der Präsident innen- und außenpolitisch gestärkt aus der Pandemie hervor. Innenpolitisch gelang es Xi, ein ultraloyales Politbüro zu installieren; er ist heute umgeben von Weggefährten, mit denen er auf ein jahrzehntelanges Vertrauensverhältnis zurückblickt. In seiner dritten Amtszeit als Präsident orientiert sich Xi daran, die langfristigen Ziele der KPCh umzusetzen.

Die chinesische Führung konnte zudem den Werkzeugkasten der politischen Kon­trolle testen und ausweiten. Die Umsetzung der Null-Covid-Maßnahmen zeigte der Führung, dass es möglich ist, die bis zu einem gewissen Grad gefügige Bevöl­kerung für einen langen Zeitraum einer besonderen Kontrolle auszusetzen. Proteste gegen die Umsetzung erster Lockerungsmaßnahmen im November 2022 waren der breiten internationalen Medienaufmerksamkeit zum Trotz eine Rand­erscheinung.

Systemkritik und gewaltsame Proteste, wie sie in einigen westlichen Demokratien während der Pandemie immer wieder zu beobachten waren, fanden in China in weit geringerem Maße statt. Das hat viel damit zu tun, dass derartige Bewegungen in China keine Möglichkeiten haben, sich zu organisieren, die Steuerungsfähigkeiten des Staates sind um ein Vielfaches größer.

 

Nach vorne schauen

In demokratischen Staaten wählte man besonders zu Beginn der Pandemie sehr unterschiedliche Wege, um mit dem Virus umzugehen. Man vergleiche etwa ein Land wie Australien, das seine eigenen Staatsbürger nicht einreisen ließ, mit amerikanischen Bundesstaaten wie Florida. Dort setzte der zuständige Gouverneur Ron DeSantis sämtliche Maßnahmen aus, während in den USA fast eine Million Menschen pro Tag an Covid erkrankte. Aber auch Autokratien bewerteten die Gefahr unterschiedlich: Russland spielte das Risiko herunter, wohingegen in China eine Art Corona-Panik herrschte.

Eine Gemeinsamkeit zwischen Demokratien und autoritären Staaten scheint darin zu bestehen, dass die Belastungen durch die Corona-Maßnahmen schnell vergessen werden. Nach Jahren der Pandemie wollen die Menschen nach vorne schauen, auch in China. Von der Bevölkerung ist trotz allen Unbehagens an der staatlichen Pandemiepolitik nicht mit einer organisierten Systemkritik zu rechnen. Die Chancen hierfür scheinen heute sogar noch geringer zu sein als vor Corona.

Wie man Chinas gesundheitspolitische Maßnahmen weltweit bewertet, kommt sehr darauf an, in welcher Informationsblase man sich bewegt. So zerstörte das chaotische Ende der chinesischen Null-­Covid-Politik in der westlichen Berichterstattung die Illusion des allmächtigen autoritären Staates.

Ausschlaggebend für das Urteil der Empfänger chinesischer Hilfslieferungen, gerade im Globalen Süden, scheint dagegen eher die konkrete Hilfeleistung gewesen zu sein, die sie von China bekommen haben. Vor diesem Hintergrund war Chinas Gesundheitsdiplomatie relativ erfolgreich, wie Umfragen im Nahen Osten, in Afrika und Lateinamerika zeigen. Die chinesische Propagandamaschine unterstreicht gern, dass Chinas Hilfe bereits nach wenigen Stunden zur Stelle war, um diese Länder mit Masken, Test- und Beatmungsgeräten zu beliefern. Heute knüpft Peking an das Covid-Narrativ an: Die Gesundheitskooperation wird in den chinesischen Beziehungen zu Entwicklungsländern immer wichtiger.

In der Corona-Pandemie agierte die Volksrepublik in einem bis dato unbekannten Ausmaß global und koordiniert. Ferner leitete Covid eine neue Ära des strategischen US-Bashings und eine Charmeoffensive in Richtung des Globalen Südens ein. Hieran knüpft Xi in seiner dritten Amtszeit an, während man in den USA in wachsendem Maße mit dem Präsidentschaftswahlkampf beschäftigt ist.

Chinas Umgang mit der Pandemie hat auch gezeigt, wie anpassungsfähig und flexibel der Parteistaat nach wie vor ist. Gezielt und strategisch hat Peking die Krise genutzt, um im Globalen Süden Partner zu gewinnen, mit deren Hilfe sich die internationale Ordnung nach den eigenen Vorstellungen reformieren lässt. Corona war hier eine Art Katalysator für Chinas Ambitionen. Politische Entscheidungsträger in Europa und Deutschland sollten das zur Kenntnis nehmen und gegensteuern, etwa durch konkrete gesundheitsdiplomatische Angebote an die Länder des ­Globalen Südens. 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 46-47

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Dr. Moritz Rudolf forscht an der Yale Law School zur internationalen Dimension der chinesischen Rechtspolitik.

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