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05. Dez. 2011

„Pakistans Politik ist geprägt von strategischen Fehlern“

Interview mit dem amerikanischen Mittelost- und Südasienexperten Bruce Riedel

Die Bonner Afghanistan-Konferenz findet am 5. Dezember 2011 ohne Pakistan statt – eine Absage, die für die Zukunft wenig Gutes erwarten lässt. Denn ohne die Atommacht, die manche schon für den „gefährlichsten Staat der Welt“ halten, ist Stabilität in Zentral- und Südasien nicht zu erreichen. Allerdings müsste auch der Westen in Afghanistan Standfestigkeit beweisen.

IP: Warum sollte Deutschland Pakistan stärker in den Blick nehmen, wenn wir über die aktuellen Gefahren der internationalen Politik nachdenken?

Bruce Riedel: Pakistan ist strategisch und demographisch von großer Bedeutung; es ist eines der wichtigsten Länder, wenn es um die Zukunft nuklearer Proliferation geht: Pakistan ist Atommacht, der pakistanische „Vater der Atombombe“  A.Q. Khan hat enorm zur Verbreitung nuklearer Technologie beigetragen, und wenn überhaupt, dann kann es meiner Meinung nach am ehesten zwischen Indien und Pakistan zum Atomkrieg kommen. Pakistan ist zentral, wenn es um internationalen Terrorismus geht, denn es ist das Epizentrum des globalen islamistischen Dschihad; und Pakistan ist entscheidend, wenn es um eine Ende oder eine Lösung des mittlerweile längsten Kriegs geht, nämlich des Kriegs in Afghanistan. Kurzum: Pakistan ist vielleicht nicht das gefährlichste Land der Welt ist, aber nicht sehr weit von diesem Status entfernt.

IP: Berichten zufolge reisen abgesehen von den britisch-stämmigen Dschihadisten vor allem Deutsche in die pakistanischen Stammesgebiete, um sich zu Terroristen ausbilden zu lassen.

Riedel: Al-Kaida und ihre Verbündeten haben im letzten Jahrzehnt erlebt, dass es immer schwieriger wird, 15 Leute mit saudischer Staatsbürgerschaft per „One-way“-Ticket in die USA oder nach Deutschland einfliegen zu lassen. Einen deutschen Staatsbürger hingegen, der von den Islamisten rekrutiert und ausgebildet wurde, kann niemand daran hindern, in sein Land zurückzukehren – es sei denn, der Polizei lägen spezielle Hinweise vor. Die dschihadistischen Gruppierungen haben erkannt: Der perfekte Rekrut verfügt über ein Schengen-Visa oder einen amerikanischen Pass, und diese Leute werden gezielt von den Islamisten gesucht, rekrutiert und nach Pakistan geschickt.

IP: Ist Deutschland also besonders gefährdet?

Riedel: Deutschland ist ein potenzielles Angriffsziel des globalen islamischen Dschihad, ebenso wie die USA, Großbritannien oder Dänemark. Damit wird den Deutschen eine Ehre zuteil, die sie vermutlich ungern wollen – aber das ist auch der Grund, warum die Deutschen und die Europäer darüber nachdenken sollten, wie sie Pakistan unterstützen können, eine „normalere“ Gesellschaft aufzubauen.

IP: Trotz Unmengen vor allem amerikanischer Hilfsgelder, die allerdings zum Großteil an die Armee flossen, ist es in der Vergangenheit nicht gelungen, Pakistan zu stabilisieren. Wie könnte ein besserer Ansatz aussehen, und inwiefern könnten die Europäer oder speziell die Deutschen dabei helfen?

Riedel: Das Verhältnis  zwischen den USA und Pakistan ist belastet, woran sicherlich beide Seiten Schuld tragen. Die Vereinigten Staaten sind in Pakistan kaum noch glaubwürdig. Das gilt nicht für Deutschland oder Europa, denn in diesen Beziehungen gibt es keine lange, trübe Geschichte gebrochener Versprechen. Das ist ein Vorteil, vor allem im Umgang mit der pakistanischen Zivilgesellschaft. 

Die Amerikaner können ganz sicher nicht das Schicksal Pakistans bestimmen, und ebenso wenig könnte es Deutschland, denn das ist die Aufgabe der Pakistaner selbst. Aber die Europäer können dabei helfen, die pakistanische Zivilgesellschaft zu stärken, indem sie die Zusammenarbeit intensivieren und dichtere Netzwerke aufbauen – in den Bereichen Bildung, Handel oder über Think Tanks. Dieser Aufgabe sollten wir uns dringend widmen.

IP: Krankt das westliche Engagements in Pakistan nicht an einem paradoxen Problem? Gerade mit Blick auf eine Lösung in Afghanistan hat der Westen zwei Varianten versucht: mit Militärs und pakistanischem Geheimdienst ISI zu arbeiten, der ja die Taliban zumindest mit steuert – und ohne sie. Beides blieb erfolglos.  Gibt es einen Weg aus diesem Problem?

Riedel: Nein, es gibt kein Wundermittel für dieses Dilemma. Wir müssen uns für Pakistan einsetzen und zwar nicht nur rhetorisch. Gleichzeitig müssen wir den schlimmsten Auswüchsen der Politik des pakistanischen Militärs und des Geheimdiensts Einhalt gebieten. Es ist schwierig, dabei die richtige Balance zu finden. Natürlich gäbe es gerade im Fall Pakistan ausreichend Gründe für Pessimismus, aber das hilft nicht weiter. Wir müssen kreativ sein und die progressiven, konstruktiven Teile der pakistanischen Zivilgesellschaft unterstützen. Pakistan ist ein Land, das sich im Krieg mit sich selber um seine Zukunft befindet. Es gibt starke, dunkle Kräfte in Pakistan, die das  Land zu einem dschidadistischen Staat umformen möchten, der dann über das am schnellsten wachsende Arsenal nuklearer Waffen auf der ganzen Welt verfügt. Deshalb müssen wir jene Gruppen unterstützen, die das verhindern wollen.

IP: Kann eine nachwachsende Generation in Pakistan positive Veränderungen in ihrem eigenen Land anstoßen?

Riedel: Wenn man liest, was junge Pakistanis in Blogs und anderen Internetforen schreiben, wird deutlich, dass sie die Unzulänglichkeiten in ihrem Land besser als jeder andere verstehen. Sie erkennen, wie kontraproduktiv die Politik des Militärs ist. Sie wissen genau, dass ihnen nur ein schlechtes Ausbildungssystem zur Verfügung steht. Sie sind sich völlig darüber im Klaren, dass sie in eine marode Wirtschaft hinein wachsen. Es stimmt mich hoffnungsvoll zu lesen, was junge Pakistaner über ihr Land schreiben. Letztendlich entscheiden ja sie über die Zukunft ihres Landes

Pakistans politische Geschichte ist von einem beständigen Wechsel geprägt: Immer wieder hat man versucht, eine Demokratie zu errichten; immer wieder wurde sie von einer Militärdiktatur abgelöst. Wäre man pessimistisch, würde man der Demokratie dort kaum Zukunftschancen einräumen. Ich ziehe eine optimistischere Sichtweise vor: Die pakistanische Gesellschaft hat jede der Militärdiktaturen am Ende überwunden und sich für eine demokratische gewählte zivile Regierung ausgesprochen – das ist eine nicht unerhebliche Tatsache der pakistanischen Geschichte und gibt Anlass zur Hoffnung, dass die Pakistaner es im Laufe der Zeit schaffen werden, ihr Land in die richtige Richtung zu lenken.

IP: Solche Entwicklungen brauchen aber Zeit.

Riedel: Ja, die meisten positiven Entwicklungen brauchen viel Zeit, um sich zu entfalten. Die haben wir aber nicht. Wir könnten jederzeit mit terroristischen Anschlägen konfrontiert werden oder weitere Rückschläge in den politischen Beziehungen zu Pakistan erleben. Das Land, das maßgeblich das Verhalten der Pakistanis beeinflusst, ist Indien. Pakistan errichtet das weltweit größte Arsenal nuklearer Waffen aus seiner Obsession mit Indien heraus, und genau aus diesem Grund werden auch terroristische Gruppen wie die Lashkar-e-Taiba von Pakistan gefördert. Schon aus diesem Grund liegt eine Annäherung zwischen Indien und Pakistan im Interesse der Weltgemeinschaft. Allerdings ist das schwer umsetzbar, solange Indien sich als Angriffsziel pakistanischer Terroristen sieht.

Dennoch haben Indien und Pakistan im letzten Jahr wichtige Schritte unternommen, um die Spannungen zu entschärfen. Pakistan hat kürzlich verkündet, dass es eine neue Freihandelspolitik mit Indien einleiten möchte. Sollte das umgesetzt werden, wäre das eine enorm positive Entwicklung und wir, Europäer und Amerikaner gemeinsam, sollten Indien und Pakistan auf diesem neuen Weg begleiten und ermutigen. Allerdings sollten wir behutsam dabei vorgehen. Eine Lösung „made in Washington" oder „made in Berlin" wird nicht funktionieren. Wir dürfen sie nur vorsichtig vom Spielfeldrand aus ermutigen.

IP: Es entsteht manchmal der Eindruck, dass ein Teil des pakistanischen Militärs versucht, die Spannungen zu Indien künstlich aufrecht zu erhalten beziehungsweise diese phasenweise an- und absteigen lassen, um ihre starke Stellung zu rechtfertigen.

Riedel: Das stimmt. Es gibt gesellschaftliche Gruppierungen, die versuchen, jeglichen Annäherungsversuch zwischen Indien und Pakistan zu sabotieren. Ein Paradebeispiel dafür ist das Attentat von Mumbai im November 2008, das die Entspannungsversuche erschwert hat. Präsident Ali Zardari hatte kurz zuvor sein Amt übernommen mit dem Versprechen, die Unterstützung terroristischer Gruppen zu beenden und gegenüber Indien einen Ersteinsatz von Nuklearwaffen auszuschließen. Diese und weitere politische Vorhaben des Präsidenten wurden von einem Teil der Armee sehr kritisch gesehen.

IP: Je stärker die Annäherungspolitik von pakistanischer Seite unterlaufen wird, desto stärker  sollten wir also Indien einbinden, um ein Ansteigen der politischen Spannungen zu verhindern?

Riedel: Das ist richtig. Die indische Regierung von Premierminister Manmohan Singh und dessen Koalitionspartnerin Sonja Gandhi hat in den vergangenen vier, fünf Jahren sehr behutsam und klug agiert– zum einen in ihrer Reaktion auf das Attentat von Mumbai, zum andern in ihrem Bemühen, die Handelsbeziehungen und die Kommunikationskanäle mit Pakistan wieder zu verstärken. Die Inder möchten verhindern, dass ihr westliches Nachbarland ein „gescheiterter Staat“ wird. Das wäre ein Albtraum für sie –  und für uns.

IP: Ohne Pakistan wird man auch in Afghanistan kaum auf Stabilität hoffen können. Sind die Hoffnungen, gerade in Deutschland, auf einer Stabilisierung der Lage gerechtfertigt, beispielsweise durch Verhandlungen mit den Taliban? 

Riedel: In den vergangenen vier Jahren habe ich stark daran gezweifelt, dass Afghanistan politische Fortschritte macht. Nach der Ermordung des Vorsitzenden des Hohen Friedensrates, Burhanuddin Rabani, im September dieses Jahres bin ich noch skeptischer geworden. Professor Rabani war nicht nur der wichtigste Verhandlungsführer, sondern auch der einzige politische Führer in Afghanistan, der der Nordallianz eine Vereinbarung mit den Taliban hätte nahe bringen können. In der Diplomatie gilt: Ein „Nein“ ist zu akzeptieren, ganz gleich, welche Hoffnungen wir uns gemacht haben sollten. Der Mord an Rabbani war ein sehr eindeutiges „Nein“. Es ist nachvollziehbar, dass die deutsche oder die amerikanische Regierung gern politische Fortschritte in Afghanistan sähen. Aber in der Politik erfüllen sich Hoffnungen nicht immer.

IP: Unter welchen Umständen könnte sich die festgefahrene Situation ändern?

Riedel: Jene Afghanen, die an einen politischen Fortschritt glauben, stützen sich auf die Annahme, dass die Taliban ihre Haltung änderten, sobald sich ihre militärische Situation verschlechtern würde. Die Führung der NATO-ISAF meint, die militärische Situation zu ihren Gunsten gedreht zu haben. Spürbare Veränderungen im Verhalten der Taliban sind allerdings bisher ausgeblieben.

IP: Sendet der Westen nicht das Signal, zumindest teilweise aufzugeben, indem die nach Afghanistan entstandten Truppen schon jetzt verkleinert werden und ein festes Datum für den Abzug beziehungsweise die „Übergabe der Verantwortung“ gesetzt wurde?

Riedel: Ja. Der teilweise Abzug der Truppen bestärkt die Taliban in ihrer Überzeugung, dass der Westen aufgibt. Man darf nicht vergessen, dass auch nach 2014 weiterhin NATO-ISAF-Soldaten in Afghanistan präsent sein werden. Es wird aber eine Transformation stattfinden, und die Sicherheitsverantwortung der NATO-Truppen wird der afghanischen Armee übertragen.  Sollte die afghanische Armee im Jahr 2015 ohne größere Hilfe der NATO-Truppen in der Lage sein, die Taliban militärisch in Schach zu halten, würde das die Taliban durchaus überraschen und vermutlich dazu bewegen, auf den Verhandlungsweg zu setzen. Aber ich glaube, dass die Taliban erst umdenken werden, wenn der Westen sie hinreichend davon überzeugt hat, dass die internationale Staatengemeinschaft  bis zum bitteren Ende in Afghanistan durchhalten wird.

IP: Wird China in Zukunft dort und in Zentralasien insgesamt eine größere Rolle spielen?

Riedel: Die Chinesen werden sich erst in Afghanistan engagieren, wenn die Sicherheitslage stabil ist – aber sie werden selbst nichts dazu beitragen. Verbal hat China immer Unterstützung für Pakistan gezeigt, Taten hingegen folgten meist nicht. Das Sicherheitsvakuum füllen, das durch die Verringerung der NATO-Truppen entsteht, könnte allerdings Indien füllen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass es dazu kommen wird – unabhängig davon, ob wir das wünschen oder nicht. Die Inder werden es nicht zulassen, dass Afghanistan von Pakistan eingenommen wird. Wird das Pakistans „indische Paranoia“ noch verstärken? Ganz sicher. Gibt es eine bessere Alternative, wenn die NATO-Truppen erst einmal abgezogen sind? Vermutlich nicht.

IP: Wäre das nicht der Beginn eines weiteren, unendlichen Stellvertreterkrieges?

Riedel: Wir können nur hoffen, dass die pakistanischen Führungskräfte erkennen, dass die Politik, die sie derzeit verfolgen, ihren Alptraum wahr werden lässt: ein Verbündeter Indiens auch an ihrer Westgrenze. Leider aber ist Pakistans Politik geprägt von strategischen Fehlern und Fehleinschätzungen. 

Nach einer Karriere bei der CIA ist BRUCE RIEDEL derzeit Senior Fellow am Saban Center for Middle East Policy der Brookings Institution in Washington (DC). Zuletzt erschien von ihm: "Deadly Embrace: Pakistan, America and the Future of the Global Jihad" (2011).

Die Fragen stellten Henning Hoff, Oliver Schmidt, Joachim Staron und Sylke Tempel.

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