Die Konsequenz der Solidarität
Auch nach 2014 braucht Afghanistan unser langfristiges Engagement
Die internationale Verpflichtung zu einem langfristigen Engagement nach dem Abzug der ISAF ist die politische Konsequenz unseres bisherigen Einsatzes. Die Internationale Afghanistan-Konferenz in Bonn muss deshalb Afghanistan und damit auch der Region die Gewissheit geben: Wir lassen euch nicht allein.
Als wir am 11. September 2001 im Kanzleramt gebannt die Fernsehbilder aus New York verfolgten, war uns allen klar: Für Deutschland konnte es nur eine Antwort auf diesen schrecklichen Terroranschlag geben – volle Solidarität mit den Vereinigten Staaten; zwar nicht als Blankoscheck, aber konsequent. Alles andere wäre nach Jahrzehnten der wesentlich von den USA getragenen NATO-Partnerschaft, nach der Berliner Luftbrücke und der amerikanischen Unterstützung der deutschen Einheit ebenso falsch wie kurzsichtig gewesen. Erstmals trat der Bündnisfall ein. Wie hätte Deutschland unter diesen Umständen abseits stehen können? Im wohlverstandenen Eigeninteresse war diese Solidarität daher der erste Grund für den deutschen Einsatz in Afghanistan.
Der zweite Grund war die mögliche Bedrohung Deutschlands durch den internationalen Terrorismus. Al-Kaida operierte von afghanischem Boden, beherbergt und geschützt von den herrschenden Taliban. Niemand wusste: Könnte auch Europa, auch Deutschland zum Ziel werden? Als eine der größten Handelsnationen ist Deutschland so eng mit der Welt verflochten wie kaum ein anderes Land. Es wäre gefährlich naiv, globalen Sicherheitsrisiken mit dem territorial begrenzten Sicherheitsverständnis des 19. Jahrhunderts begegnen zu wollen. Deshalb war und bleibt es richtig, dass wir uns mit unseren Partnern unter dem Mandat der Vereinten Nationen am Anti-Terror-Einsatz „Enduring Freedom“ sowie an der ISAF beteiligt haben.
Der dritte Grund folgte aus dem zweiten: Es war die Einsicht, dass ein funktionierendes Gemeinwesen in Afghanistan die beste Chance bot, islamistischen Terroristen den Boden zu entziehen. Die Förderung von Demokratie und Menschenrechten konnte dabei nicht falsch sein, auch wenn wir Größenordnung und Komplexität dieser Herausforderung unterschätzt hatten.
Heute, zehn Jahre später, wissen wir vieles besser als damals. Die Jahrestage dieses Herbstes geben Anlass zur Rückschau, zur Bilanz und auch zur Selbstkritik. War die Entscheidung für ein deutsches Engagement in Afghanistan richtig? Die Antwort ist auch im Rückblick ein klares Ja, auch die drei Gründe bleiben richtig. Die Mühen, Kosten und Opfer unseres Engagements haben nichts an unseren grundlegenden Interessen geändert.
Aus Fehlern lernen
Das gilt nicht in gleichem Maße für die Ausgestaltung unseres Engagements in der Praxis. Hier mussten wir aus Fehlern lernen. Wir haben es lange versäumt, aus unseren Beweggründen realistische Ziele zu entwickeln, zu verfolgen und zu kommunizieren. Die Vorstellung war naiv, aus einem der ärmsten und rückständigsten Länder der Welt, in einer Nachbarschaft, die mit der der Schweiz wenig gemein hat, nach 30 Jahren Konflikt und Chaos innerhalb weniger Jahre ein Musterland machen zu können. In den ersten Jahren haben wir damit unerfüllbare Erwartungen geweckt, in Deutschland, international und in Afghanistan selbst.
In vielen Bereichen haben wir versäumt, von Anfang an auf Nachhaltigkeit zu achten. Zum Teil wurde zu wenig geleistet oder das Richtige zu spät begonnen. Anderswo haben die internationalen Geber (und auch die für zivile Aufgaben wenig geeignete Schutztruppe ISAF) versucht, ohne Rücksicht auf die Absorptionsfähigkeit der afghanischen Strukturen zu schnell zu viel zu erreichen. Damit wurden Korruption und Misswirtschaft zumindest indirekt begünstigt. Aber wir haben daraus gelernt, für Afghanistan wie – hoffentlich – für künftige Fälle.
Die Verantwortung bleibt
Über die zehn Jahre unseres Engagements in Afghanistan hat sich die Situation gleichwohl grundlegend verändert. Trotz unerwartet starker Gegenkräfte haben wir viel erreicht. Al-Kaida ist entscheidend geschwächt. Osama Bin Laden ist tot. Afghanistan ist auf dem Weg zur vollen Souveränität. Die internationalen Kampftruppen werden bis Ende 2014 schrittweise reduziert.
Staatliche Institutionen wurden neu geschaffen, Straßen, Brücken und öffentliche Gebäude neu- oder wiedererrichtet. Die riesige Nachfrage nach Bildung sorgt trotz tausender neuer Schulen und zusätzlicher Lehrer für Unterricht in Schichten und überfüllte Klassenräume. Diese Investition wird sich langfristig auszahlen. Durch die beispiellose Ausweitung der Gesundheitsversorgung ist die Säuglingssterblichkeit um ein Viertel gesunken. Auch im Bereich Menschenrechte gibt es greifbare Fortschritte, die eine ehrliche Bestandsaufnahme ebenso wenig übersehen darf wie die noch bestehenden Probleme.
Auch wenn unsere Motive 2001 richtig waren: Nach zehn Jahren der Fortschritte und auch der Schwierigkeiten können wir uns heute nicht mehr ohne weiteres nur auf die Gründe abstützen, die Bundesregierung und Bundestag damals zur Beteiligung am internationalen Eingreifen bewogen haben. Die Lage hat sich weiterentwickelt. Weder um Al-Kaida zu bekämpfen noch um die Rückkehr des Terrornetzwerks nach Afghanistan zu verhindern, brauchen wir auf Dauer eine flächendeckende internationale Militärpräsenz. Die inzwischen über 300 000 afghanischen Soldaten und Polizisten werden Tag für Tag besser und professioneller. Schritt für Schritt übernehmen die Afghanen in den nächsten drei Jahren die volle Sicherheitsverantwortung für ihr Land. Die Aufgabe der internationalen ISAF-Kampftruppen wird 2014 weitgehend erfüllt sein.
Unsere heutige Verantwortung ist Konsequenz unseres zehnjährigen Einsatzes für Afghanistan: Nachdem wir uns einmal engagiert haben, können wir jetzt nicht einfach so tun, als ginge uns das Land nichts mehr an. Das war der große Fehler, den der Westen nach dem Sieg der Mudschaheddin über die sowjetische Besatzung 1989 gemacht hat. Ein verändertes, mehr ziviles und politisches, weniger militärisches Engagement in Afghanistan wird auch nach 2014 für die Sicherheitsvorsorge Deutschlands und seiner Partner gegen Gefahren notwendig sein, die nicht erst an unseren Grenzen entstehen. Unsere Aufgaben, etwa beim nachhaltigen Aufbau der Sicherheitskräfte, werden auch Ende 2014 noch nicht abgeschlossen sein. Als Teil der internationalen Gemeinschaft haben wir eine Mitverantwortung für Afghanistan übernommen. Die internationale Präsenz hat dort – auch das müssen wir sehen – lokale Mechanismen der Konfliktregulierung außer Kraft gesetzt, bestehende Machtverhältnisse und wirtschaftliche Anreizstrukturen verzerrt. Dadurch wurde viel Gutes erreicht, aber Afghanistan hat sich an diese Verzerrungen gewöhnt, militärisch, wirtschaftlich und politisch. Ein abruptes Ende des internationalen Engagements wäre ein extremer Schock für das Land, womöglich mit blutigen Folgen. Afghanistan nach dem Abzug der internationalen Kampftruppen im Stich zu lassen wäre also nicht nur unverantwortlich, sondern widerspräche auch unserem Eigeninteresse an Sicherheit in einer globalen Welt.
Realistische Ziele, realistische Mittel und ein realistischer Zeitplan
In den vergangenen zwei Jahren ist Bewegung in die internationale Afghanistan-Politik gekommen. Die Übergabe der Sicherheitsverantwortung und der schrittweise Abzug der internationalen Truppen haben begonnen. Erste Kontakte mit den Taliban wurden geknüpft, auch die regionale Zusammenarbeit hat neue Impulse erfahren. Allerdings bleibt die Lage fragil, wie uns schmerzhafte Rückschläge gezeigt haben.
Gleichwohl: Wir haben nun einen internationalen Konsens über realistische Ziele, realistische Mittel und einen realistischen Zeitplan. Unsere gemeinsamen Ziele für Afghanistan sind hinreichende Stabilität und die Wahrung grundlegender Menschenrechte, auch als Voraussetzung für Stabilität.
Für den Weg dorthin setzt die internationale Gemeinschaft auf das Zusammenwirken von Militär, zivilem Wiederaufbau und – nicht zuletzt auf deutsche Initiative – politischem Engagement. Es gibt keine militärische Lösung in Afghanistan, auch nicht für die Aufständischen. Ein politischer Versöhnungsprozess wird aber nicht über Nacht Erfolg haben, es wird auch in Zukunft Rückschläge geben. Hier brauchen wir Geduld. Und wir dürfen nicht vergessen: Frieden schließt man mit seinen Gegnern, nicht mit seinen Freunden.
Auch unser Verständnis der Region hat sich weiterentwickelt. Afghanistan und Pakistan in der internationalen Politik gemeinsam zu betrachten beruhte auf der Erkenntnis, dass die Stabilisierung Afghanistans ohne Pakistan zum Scheitern verurteilt wäre. Es bleibt das Verdienst meines verstorbenen Kollegen Richard Holbrooke, dieser Einsicht zum Durchbruch verholfen zu haben. Inzwischen ist aber darüber hinaus klar: Ein Scheitern in Afghanistan hätte unabsehbare Folgen umgekehrt auch für Pakistan und damit für die Stabilität der gesamten Region.
Um die Mittel der Politik, des Militärs und des zivilen Aufbaus effektiv einzusetzen, haben wir einen gemeinsam vereinbarten Zeitplan. Er beruht auf den Erwartungen der Menschen sowohl in Afghanistan als auch in den Truppensteller- und Geberländern. Der Prozess der Transition, also der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Behörden, hat im Juli 2011 begonnen und wird bis Ende 2014 abgeschlossen. Dann hat Afghanistan seine volle Souveränität wiedererlangt.
Für die Zeit danach braucht Afghanistan eine belastbare Selbstverpflichtung der internationalen Gemeinschaft, das Land nicht im Stich zu lassen. Denn genau dies fürchten die Menschen in Afghanistan. Nur wenn wir diese Befürchtung glaubwürdig widerlegen, kann die Übergabe Erfolg haben. Das zeigt uns die Geschichte, unbeschadet der fundamentalen Unterschiede: Nicht nach dem sowjetischen Abzug 1989, sondern nach dem Ende der Unterstützung und Finanzierung der rund 400 000 afghanischen Soldaten und Polizisten 1992 versank Afghanistan in einem blutigen Bürgerkrieg, der 1996 mit der Machtergreifung der Taliban endete. Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen.
„From Transition to Transformation“
Eine glaubwürdige Selbstverpflichtung zu einem langfristigen Engagement ist das Hauptziel der internationalen Außenministerkonferenz zu Afghanistan am 5. Dezember in Bonn. Der afghanische Staatspräsident Hamid Karsai wird genau zehn Jahre nach der Konferenz auf dem Petersberg zum ersten Mal allein einer Afghanistan-Konferenz vorsitzen; auch das ist ein Beweis für die wachsende afghanische Eigenverantwortung. Die deutsche Rolle als Gastgeber geht auf eine Bitte Karsais gegenüber der Bundeskanzlerin am Rande des NATO-Gipfels in Lissabon zurück. Diese Bitte zeugt von dem großen Vertrauen der Afghanen in Deutschland, von einer besonderen Beziehung, die in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückreicht und die über die vergangenen zehn Jahre weiter gewachsen ist.
Unter dem Motto „From Transition to Transformation“ wird Bonn das weitere internationale Engagement für Afghanistan in zwei klar definierte Abschnitte gliedern. Der Prozess der Transition wird bis Ende 2014 abgeschlossen. In diesen verbleibenden drei Jahren kommt es darauf an, die erreichten Fortschritte zu konsolidieren.
Nach 2014 trägt die afghanische Regierung die volle Verantwortung für die Sicherheit ihres Landes. Zugleich beginnt ein Prozess der Transformation, in dem die Regierung eigenverantwortlich daran arbeiten muss, ein funktionsfähiges und tragfähiges Staatswesen im Dienst des afghanischen Volkes zu bilden. Für diese Zeit der Transformation nach 2014 brauchen wir eine verbindliche Selbstverpflichtung der internationalen Gemeinschaft, Afghanistan nicht im Stich zu lassen und sich langfristig für das Land in seiner Region zu engagieren – auch nach dem Abzug von ISAF.
Der weitere zivile Aufbau des Landes sowie die fortgesetzte Ausbildung und Unterstützung der Sicherheitskräfte werden Teile eines solchen Engagements sein. Allerdings kann die Konsolidierung eines stabilen und souveränen Afghanistans ohne selbsttragendes Wirtschaftswachstum nicht gelingen. Deshalb kommt es darauf an, die Bedingungen für Privatinvestitionen zu verbessern, besonders beim Abbau der riesigen Rohstoffvorkommen, sowie die Chancen für Handels- und Infrastrukturverbindungen in und um Afghanistan zu nutzen. Diesem wirtschaftsregionalen Ansatz dient die Initiative für eine „Neue Seidenstraße“, die Außenminister Guido Westerwelle mit seinen Amtskollegen Hillary Clinton und Zalmay Rassoul am Rande der UN-Generalversammlung im September angestoßen hat.
Schließlich hat sich die Notwendigkeit eines politischen Prozesses international durchgesetzt, nicht zuletzt auf deutsches Betreiben. Neben dem internationalen Engagement für die Transition bis 2014 und die Transformation nach 2014 werden der Versöhnungsprozess in Afghanistan und seine regionale Dimension das dritte Thema der Bonner Konferenz sein. Der Prozess der Versöhnung in Afghanistan kann nur zum Erfolg führen, wenn er unter afghanischer Führung steht, sich darin alle Afghanen vertreten fühlen und die bekannten Mindestbedingungen erfüllt sind. Das muss Ausgangspunkt sein für alle Überlegungen zu dessen Unterstützung von internationaler Seite. Und wir wissen: Stabilität in Afghanistan kann es nur mit der Region und nicht gegen sie geben.
Im Rahmen der internationalen Kontaktgruppe zu Afghanistan und Pakistan haben wir gemeinsam mit der afghanischen Regierung und über 50 Staaten und Organisationen das Fundament für den Konsens für Bonn gelegt. Aber auch Afghanistan selbst muss bis zum 5. Dezember noch einige Hindernisse überwinden. Die Parlamentskrise und der Streit um die Aufarbeitung des Kabulbank-Skandals haben das internationale Vertrauen erschüttert. Beides ist lösbar und muss gelöst werden.
Auf der internationalen Ebene muss das afghanisch-amerikanische Abkommen über eine strategische Partnerschaft Klarheit über die langfristige Rolle der USA schaffen. Das ist vor allem für die regionalen Nachbarn entscheidend. Auch die EU hat mit den Vorbereitungen für ein Partnerschaftsabkommen mit Afghanistan begonnen. Die Zukunft der EU-Polizeiausbildungsmission ist ein wichtiger Baustein dafür. Die Zusage einer langfristigen internationalen Unterstützung für Afghanistan nimmt allmählich Gestalt an.
Die Konsequenz der Solidarität
Zum zehnten Jahrestag des 11. September 2001 wurde manche Kritik geübt an der Afghanistan-Politik der damaligen Bundesregierung. Vor dem Hintergrund der Grundkonstanten unserer Außen- und Sicherheitspolitik konnte jedoch keine andere Entscheidung richtig sein als die, in der Stunde der Not gegenüber den Vereinigten Staaten Solidarität zu zeigen.
Natürlich haben wir in der Umsetzung auch Fehler gemacht. Daraus haben wir gelernt. Doch wenn wir heute nach vorne blicken und unsere politischen Alternativen nüchtern analysieren, kann es nur eine richtige Entscheidung geben: Wir dürfen Afghanistan auch nach dem Abzug der Kampftruppen nicht im Stich lassen.
In Afghanistan mussten wir lernen, eine Realität anzuerkennen, die für uns fremder war, als wir uns das zunächst eingestehen wollten. Wir sind bescheidener geworden, realistischer im Hinblick auf das, was wir von außen verändern können. Aber wir bleiben zuversichtlich. Die Lage ist weder mit Vietnam noch mit der sowjetischen Besatzung Afghanistans pauschal zu vergleichen. In Afghanistan steht heute, weit über das atlantische Bündnis hinaus, die gesamte verfasste Staatengemeinschaft auf dem Prüfstand. 15 islamische Staaten sind in der internationalen Kontaktgruppe vertreten, fast 50 Staaten stellen ISAF-Soldaten. Jedes Jahr im Herbst bekundet die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Konsens ihre Unterstützung für den internationalen Einsatz in Afghanistan. Welch ein Kontrast zu den achtziger Jahren, als die Weltgemeinschaft Jahr für Jahr die sowjetische Besatzung des Landes mit Zweidrittelmehrheiten verurteilte!
Trotz dieses globalen Mandats für unser Engagement in Afghanistan gibt es keine Erfolgsgarantie. Doch auf der Grundlage gemeinsamer Ziele, Mittel und Zeitvorstellungen hat Afghanistan unbeschadet aller Schwierigkeiten heute die Chance auf eine bessere Zukunft. Dazu brauchen wir nicht alle zwei Jahre eine neue Strategie, sondern den politischen Willen, die umzusetzen, auf die wir uns verständigt haben. Bonn muss den Afghanen – und damit auch der Region – ein Signal der Zuversicht geben: Wir lassen euch nicht allein, auch wenn unser Engagement ziviler, politischer wird. Diese Solidarität mit Afghanistan ist die politische Konsequenz unserer Solidarität mit den Vereinigten Staaten vor zehn Jahren.
MICHAEL STEINER ist Sonderbeauftragter der Bundesregierung und Vorsitzender der internationalen Kontaktgruppe für Afghanistan und Pakistan.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2011, S. 94-99