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01. Jan. 2004

Orientierungswissen

Effektivere Instrumente zur Analyse der internationalen Beziehungen

Die politikwissenschaftliche Theoriebildung hinkt der politischen Realität allzu oft hinterher. Nicht so hierzulande – die deutsche Politikwissenschaft beweist gewissermaßen prophetische Qualitäten. Nicht dass sie den großen Epochenbruch des Jahres 1989 vorhergesehen oder gar die Terroranschläge auf New York und Washington vom September 2001 geahnt hätte. Aber sie bewies schon seit Ende der achtziger Jahre eine enorme Sensibilität dafür, dass man auf die weltpolitischen Veränderungen mit einem neuen theoretischen Handwerkszeug, ausgefeilteren Analysemethoden und innovativeren Konzepten reagieren müsse.

So herrschte bereits in den Monaten vor dem Fall der Berliner Mauer eine Art Aufbruchstimmung in der Gemeinde derjenigen deutschen Politikwissenschaftler, die sich mit den internationalen Beziehungen, kurz IB, befassen. Im Herbst 2000 machten sie sich daran, einen Band zu entwerfen, in dem die konzeptionellen und theoretischen Innovationen der IB-Forschung seit dem Ende der achtziger Jahre nun aktuell zusammengefasst werden sollten. Im Frühjahr 2001 erging ein „Call for Papers“, und rund zwei Jahre später erschien im Herbst 2003 der von Gunther Hellmann, Klaus Dieter Wolf und Michael Zürn herausgegebene Band „Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland“.

Die Produktion des Buches wurde von einem Ereignis mit großer weltpolitischer Bedeutung begleitet. Der 11. September und der anschließend von den Vereinigten Staaten geführte „Kampf gegen den Terror“ sowie das bedrohliche Gebaren so genannter Schurkenstaaten wie Afghanistan, Nordkorea, Iran und Irak sind Ereignisse, die es mit dem hier entwickelten theoretischen Instrumentarium zu analysieren gilt. Immer wieder wurde dabei schon vor dem 11. September von wissenschaftlicher Seite darauf hingewiesen, dass Terroranschläge von gewaltigen Ausmaßen zu den „neuen“ Bedrohungen gehören, denen sich die Menschheit gegenüber sieht. Dabei sind es nicht so sehr die Bedrohungen selbst, die uns überraschen; diese hat es schon lange vor dem 11. September gegeben. Es sind die ungeheuren Mittel, die dem modernen Terrorismus des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen. Mithin ist es weniger der 11. September, der die Welt veränderte, sondern das Ausmaß und die Geschwindigkeit, in der Gewalt und Gegengewalt derzeit in die unvermeidliche Eskalationsspirale geraten. Waffen, um diesen Kampf zu führen, gibt es zumal in den USA genügend; doch es überrascht, mit welchen Mitteln ihre Gegner zurückschlagen, wie der Krieg durch den Handel von Waffen zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren neue Qualitäten annimmt.

Das Buch von Hellmann, Wolf und Zürnhat ohne Zweifel die Qualität, seinem Anspruch gerecht zu werden und das nötige Orientierungswissen auf der immer komplexer werdenden weltpolitischen Landkarte zu vermitteln. War die theoretische Aufbruchstimmung des Jahres 1989 noch mit dem so genannten Neoinstitutionalismus verbunden, der die unabhängige Rolle internationaler Institutionen betont, liegt der Schwerpunkt hier mehr auf der metatheoretischen Debatte zwischen rationa-  listischen und konstruktivistischen Vertretern des Faches.

Der erste Teil des Bandes, in dem die erkenntnistheoretischen und konzeptionellen Grundlagen der Disziplin auf dem Prüfstand stehen, bietet mit einem an Dichte kaum zu überbietenden Artikel zur Epistemologie in den Internationalen Beziehungen von Peter Mayer sowie zwei Beiträgen zum Konstruktivismus und Rationalismus von Thomas Risse und Antje Wiener einen geradezu furiosen Auftakt. Der Leser gewinnt den Eindruck, hier aktueller informiert zu werden als im amerikanischen „Handbook of International Relations“ (vgl. die Kritik in: Internationale Politik, 8/2002, S. 50 ff.). Während es das Ziel des „Handbook“ ist, einen umfassenden Überblick über den Stand der IB-Forschung insgesamt zu geben, zielt der deutsche Band überdies darauf ab, die neuere Forschung der letzten Jahre zusammenzufassen.

Sowohl für die klassischen Gegenstandsbereiche der Internationalen Beziehungen – Krieg, Frieden, internationale Regimeforschung, Entwicklungstheorie und Außenpolitikforschung – als auch für die eher neuen Gegenstandsbereiche internationales Recht, internationale Sozialisation, internationale politische Ökonomie und Globalisierung, transnationale Beziehungen und Entgrenzung konnten ausgewiesene Theoretiker der deutschen IB gewonnen werden. Das Buch lässt kaum Wünsche offen. Auch wenn theoretisch informierte deutsche Beiträge in der Diskussion um die Folgen des 11. September noch spärlich sind, so stimmt das Erscheinen des Bandes zum richtigen Zeitpunkt doch optimistisch. Die deutsche IB-Forschung bietet mit diesem Buch dringend nötiges Orientierungswissen für die empirische Arbeit der nächsten Jahre an.

Hingewiesen sei am Schluss auch auf weitere gelungene empirische Studien. Zunächst ein lesenswerter Reader, der sich mit den vielfältigen Facetten der Transformationsprozesse vom Krieg zum Frieden widmet. Anhand von 15 vergleichenden Fallstudien aus Afrika, Asien, Europa, Lateinamerika, dem Südpazifik und dem Nahen Osten untersuchen die Autoren zentrale Problemdimensionen des Friedenskonsolidierungsprozesses und die Rolle wichtiger Akteure vor Ort. Erwähnenswert ist schließlich die umfangreiche Studie von Katrin Krömer über die Bedrohung durch die Proliferation von Massenvernichtungswaffen als Kooperationsproblem der transatlantischen Allianz.

Gunther Hellmann/Klaus Dieter Wolf/Michael Zürn (Hrsg.), Die neuen Internationalen Beziehungen. Forschungsstand und Perspektiven in Deutschland, Baden-Baden: Nomos 2003, 614 S., 29,00 EUR.

Mir A. Ferdowsi/Volker Matthies (Hrsg.), Den Frieden gewinnen. Zur Konsolidierung von Friedensprozessen in Nachkriegsgesellschaften, Bonn: Dietz 2003, 363 S., 12,70 EUR.

Katrin Krömer, Massenvernichtungswaffen und die NATO. Die Bedrohung durch die Proliferation von Massenvernichtungswaffen als Kooperationsproblem der transatlantischen Allianz, Baden-Baden: Nomos 2003, 420 S., 76,00 EUR.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2004, S. 75-77

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