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01. Sep 2021

„Organisierte Kriminalität ist sehr vielfältig“

Überall, wo es Geld zu verdienen gibt, mischt die Organisierte Kriminalität mit. OK-Aktivitäten haben viele Gesichter, illegaler Handel wird vor allem mit Drogen, Tabak und Zigaretten, geschützten Tieren und Pflanzen sowie Kulturgütern betrieben. Aber auch Produktpiraterie spielt eine bedeutende Rolle. Ein ­Interview über ein 870 Milliarden Dollar schweres Gewerbe.

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Bild: Porträt von Arndt Sinn
Prof. Dr. Arndt Sinn
 ist Lehrstuhlinhaber für Deutsches und Euro-
päisches Straf- und Strafprozessrecht, Inter-
nationales Strafrecht sowie Strafrechtsvergleichung am Institut für Wirtschaftsstrafrecht 
der Universität Osnabrück.
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Alle Rechte vorbehalten

IP: Herr Sinn, wenn wir von Schattenhandel und Organisierter Kriminalität in Europa sprechen, was meinen wir damit?

Arndt Sinn: In Europa ist Organisierte Kriminalität (OK) durch einen Rahmenbeschluss der EU aus dem Jahr 2008 sehr genau definiert. Das heißt, in allen 27 EU-Mitgliedstaaten gibt es eine rechtlich verbindliche Vorstellung über Organisierte Kriminalität. Diese hat vier Elemente: Es müssen mindestens drei Personen sein, die sich auf Dauer zusammengeschlossen haben, um Straftaten zu begehen, und die unmittelbar oder mittelbar profitorientiert handeln. Die Mitgliedstaaten haben einen gewissen Spielraum, diese Vorgaben in ihr nationales Recht umzusetzen, aber der ist nicht allzu groß.



Allerdings sind die Gesichter der Organisierten Kriminalität unglaublich vielfältig. Wir haben es zum Beispiel mit hierarchischen Gruppierungen wie der Mafia zu tun, die ganz straff durchorganisiert sind, von einem Paten oder einer Zentralgestalt geleitet werden, die die Fäden in der Hand hält und durch verschiedene Schaltstellen leitet. Wir haben aber auch Netzwerkstrukturen, die nicht hierarchisch gegliedert sind, sondern über verschiedene Netzwerkpunkte sehr effektiv und effizient agieren. Und wir haben Verbindungen, die man klassischerweise gar nicht als Organisierte Kriminalität bezeichnen würde, die aber mit OK zusammenhängen, vor allem „Crime as a service“-Aktivitäten.

 

Was heißt das genau?

„Crime as a service“ sind beispielsweise Angebote für Ransomware-Tools, Bitcoin-Mining oder Dokumentenfälschung als Dienstleistung für Kriminelle oder das Angebot von Logistik. Das finden Sie ganz viel im Darknet. Hierbei handelt es sich klassischerweise nicht um OK, weil die Anbieter nicht Teil der Gruppierung sind, sondern bei Bedarf angefragt werden. Dennoch ist dies schon auch ein Gesicht von Organisierter Kriminalität.



Dann haben wir die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder der OK. Definitorisch nach EU- und UN-Vorgaben ist Organisierte Kriminalität, wie erwähnt, profitorientiert. Geld soll mit Kriminalität verdient werden. Und weil sie in vielen Bereichen viel Geld verdienen kann, ist Organisierte Kriminalität auch in ganz vielen Bereichen tätig. Wenn wir über die EU sprechen, dann haben wir im sogenannten Hellfeld – also bei den amtlich registrierten Straftaten – vor allem den illegalen Handel mit Drogen, Tabak und Zigaretten, mit geschützten Tieren und Pflanzen, mit Kulturgütern sowie die Produktpiraterie. Das sind die Tätigkeitsbereiche, die von den EU-Zollbehörden und der EU-Kommission als besonders auffällig angesehen werden.



Produktpiraterie fällt da ein bisschen aus dem Rahmen, oder?

Ganz und gar nicht. Dass Drogen sowie Tabak und Zigaretten lukrativ sind, verwundert nicht, weil das Preisniveau zwischen der EU und Drittstaaten, die an die EU angrenzen, sehr unterschiedlich ist. Wenn Sie in der Ukraine eine Schachtel Zigaretten für 50 oder 60 Cent kaufen und diese auf dem europäischen Markt für drei bis vier Euro verkaufen können, dann ist das ein Treiber. Ebenso ist die Nachfrage beim illegalen Handel mit geschützten Tieren, Pflanzen und Kulturgütern sehr groß.



Produktpiraterie dagegen wirkt auf den ersten Blick harmlos. Tatsächlich handelt es sich aber um einen riesigen Markt, der sehr vielfältig ist. Wir reden über gefälschte Sonnenbrillen und Kleidung genauso wie über gefälschte Maschinenteile, Arzneimittel und Pestizide. Die Europäische Kommission geht davon aus, dass 10 Prozent der auf dem EU-Markt gehandelten Pestizide Fälschungen sind. „Gefälscht“ heißt auch, dass sie nicht den Sicherheitsstandards entsprechen, die man eigentlich für Pestizide einhalten müsste. Sie können sich sicherlich vorstellen, wie gefährlich es ist, wenn die Sicherheitsstandards nicht eingehalten werden. Laut EU-Kommission nehmen unter den gefälschten Produkten die Pestizide eine ganz bedeutende Rolle ein, obwohl dieser Markt der am stärksten regulierte Markt in der EU ist. Dennoch handelt es sich hierbei um einen hochgradig von Fälschungen durchdrungenen Markt. Wir sehen, dass hier viel Geld verdient werden kann.



Wo sitzen jene, die daran verdienen?

Produktfälschungen werden weiterhin vor allem in China produziert. Es gibt aber einen anderen Trend, der Sorgen bereiten muss. Wir sehen vor allem im Maschinen- und Anlagenbau, wo es um sicherheitsrelevantes Material wie Wälzlager oder Pumpen geht, dass die Binnenproduk­tion zunimmt, also die Herstellung im EU-Markt. Das liegt an den Kontrollen an den EU-Außengrenzen. Die Container, die reinkommen, werden kontrolliert. Zwar nur ca. 5 Prozent von ihnen, aber immerhin gibt es einen gewissen Kontrolldruck, der sich allerdings auch umgehen lässt. Während nämlich beispielsweise Zigarettenschachteln und -stangen mit Röntgengeräten entdeckt werden können, ist Rohtabak nicht von anderen landwirtschaftlichen Produkten zu unterscheiden. Das hat sich bei der OK herumgesprochen. Jetzt wird vermehrt Rohtabak in die EU eingeführt und hier illegal weiterverarbeitet.



Die größte Menge an gefälschten Produkten im Maschinen- und Anlagenbau kommt aus China. Das verwundert zunächst nicht, aber an zweiter Stelle steht Deutschland – laut einer internen Daten­erhebung des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer. Hier muss natürlich betont werden, dass der Abstand zu China beträchtlich ist; aber dennoch sollte das nachdenklich stimmen.



Lässt sich Schattenhandel quantifizieren?

Laut OECD ist davon auszugehen, dass die Organisierte Kriminalität weltweit jedes Jahr rund 870 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Jüngste Daten von der OECD und EUIPO beziffern den Anteil von Produktfälschungen auf 509 Milliarden Dollar. Allein durch Diebstahl geistigen Eigentums gehen der EU jährlich 15 Milliarden Euro an Steuereinnahmen verloren.

 

Wie hat sich die Coronavirus-Pandemie bislang ausgewirkt?

Eine Krise solchen Ausmaßes ist nicht nur die Stunde der Exekutive, sondern auch die Stunde der Organisierten Kriminalität. Es entstehen bestimmte Rahmenbedingungen, die für illegale Geschäfte gut ausgenutzt werden können.



Erstens, und das ist auch von Europol nachgewiesen worden, hat sich die Organisierte Kriminalität im Bereich der illegalen Herstellung und des Vertriebs von Masken, Schutzausrüstung, Desinfektionsmitteln bis hin zu gefälschten Medikamenten wie Remdesivir bereichert. In einschlägigen Foren im Darknet ist alles bis hin zu gefälschten Vakzinen oder abgezweigten Impfstoffdosen zu finden. Das war und ist ein Tätigkeitsbereich, den sich die OK zu Nutze gemacht hat. Betrügereien haben ebenfalls zugenommen – so wurden der „Enkeltrick“ oder Callcenter-Täuschungen, die es auch schon vor der Pandemie gab, im Setting auf „Gesundheit/Coronavirus“ umgestellt. Da ist die Organisierte Kriminalität schnell.



Ein Trend, den es schon vorher gab, den die Pandemie aber verstärkt hat, ist zweitens Polykriminalität. Etwa 40 Prozent aller OK-Gruppierungen sind in mindestens zwei Kriminalitätsbereichen aktiv, was sich leicht erklären lässt: Der Anstieg des Kontrolldrucks in einem Kriminalitätsbereich führt dazu, dass sie auf ihr zweites Standbein ausweichen, um den Kontrolldruck zu vermeiden und trotzdem noch Geld zu verdienen. Zudem gibt es womöglich Synergieeffekte zum Beispiel bei Logistik und Transport, wenn Kosten eingespart werden können.



Ein weiterer anhaltender, aber von der Pandemie unabhängiger Trend ist, dass in der EU 80 Prozent aller OK-Gruppierungen geschäftsähnliche Strukturen aufweisen. Das ist an sich nicht überraschend, aber die Höhe der Zahl muss beunruhigen. Organisierte Kriminalität zeichnet sich auch dadurch aus, dass jede technische Innovation sofort adaptiert wird, solange sie ins Kostenkonzept passt und auch für kriminelle Machenschaften genutzt werden kann. EncroChat, die Kryptierung von Kommunikation, ist dafür ein Beispiel. Die Möglichkeiten zur Verschlüsselung können gut und sinnvoll sein; man denke nur an Menschen, die in ihren Ländern politisch verfolgt werden und auf abhörsichere Kommunikation angewiesen sind. Aber man kann diese auch zu kriminellen Zwecken missbrauchen, und da ist OK ganz schnell, um solche technischen Innovationen zu nutzen.

 

Wie beurteilen Sie das Instrumentarium, das der EU zur Verfügung steht, um Schattenhandel und OK zu bekämpfen? Die EU-Kommission hat ja im April 2021 dazu eine mehrjährige Strategie auf den Weg gebracht ...

Wir müssen zwei Ebenen unterscheiden. Die erste Ebene betrifft die rechtlichen Instrumentarien und Institutionen, um illegalen Handel, illegale Warenströme und Organisierte Kriminalität zu verfolgen. Diese sind im Vertrag über die Arbeitsweise der EU geregelt und rechtlich gesehen gar nicht so schlecht. Es gibt Kompetenzen zum Erlass von Maßnahmen zur Rechtsangleichung und Rechtssetzung, die für die Mitgliedstaaten verbindlich sind und bei regulatorischen Akten sogar unmittelbar in den Mitgliedstaaten gelten. Diese Maßnahmen können auch das nationale Straf- und Strafprozessrecht oder den Zoll betreffen. Erfolgversprechend können die Kompetenzen zur Regulierung bestimmter Güter außerhalb des Strafrechts genutzt werden, wie beispielsweise hinsichtlich Kontrolle, Qualitätssicherung, Standardisierung oder der Etablierung von Produktsicherheitsmerkmalen.



Wir haben in der EU zwei verpflichtende Produktsicherheitsmerkmale. Zum einen für Arzneimittel, was Sie vielleicht schon einmal in der Apotheke beobachtet haben. Dort wird das Arzneimittel gescannt, und erst wenn der individuelle Produktcode mit einer Datenbank automatisiert abgeglichen wurde, wird das Arzneimittel freigegeben. Das dient dem Zweck, herauszufinden, ob das Präparat gefälscht ist. Im Online-Vertrieb von Arzneimitteln muss der Anbieter ein grün-weißes Kreuz mit der Landesflagge – das EU-Sicherheits­logo – auf seine Homepage stellen. Wenn dies angeklickt wird, sehen Sie, ob Ihr Internetshop einer der gelisteten legalen Shops ist. So wie es für Arzneimittel ein verpflichtendes Sicherheitssystem gibt, ist das auch für Tabak der Fall. Die Instrumentarien zur Regulierung, zur Produktsicherheit und Nachverfolgbarkeit sind also im Grunde vorhanden, sie müssen aber weiter ausgebaut werden.



Zusätzlich gibt es in der EU verschiedene Institutionen: Eurojust zur justiziellen Kooperation, Europol zur polizeilichen Kooperation, OLAF, das Betrugsbekämpfungsamt, und seit diesem Juni die Europäische Staatsanwaltschaft. Außerdem gibt es verschiedene technische Hilfsmittel wie Datenbanken, Zollsysteme, Fingerabdrucksysteme usw. All das haben wir schon. Es kommt aber darauf an, dass die Institutionen auch zusammenwirken, die Datenbanken genutzt und „gefüttert“ und dass Informationen ausgetauscht werden und dass anlassspezifisch in gemeinsamen Ermittlungsteams zusammenge­arbeitet wird.

 

Und die zweite Ebene?

Die zweite Ebene ist die Priorisierung. Der EMPACT-Policy Cycle spielt bei illegalem Handel und Organisierter Kriminalität eine ganz wichtige Rolle, weil die EU in diesem Rahmen bestimmte Kriminalitätsbereiche priorisiert und dann mit einer Handlungsaufforderung an die Mitgliedstaaten herantritt. Ausgangspunkt für diesen Policy Cycle ist der SOCTA-Bericht (Serious and Organised Crime Threat Assessment) von Europol, der alle vier Jahre veröffentlicht wird. Die aktuelle Version erschien Mitte April 2021 – und ich war überrascht.

 

Warum?

Dieser SOCTA-Bericht enthält keine Zahl über die in der Europäischen Union aktiven OK-Gruppierungen. Im SOCTA 2013 ­waren es 3500 Gruppierungen, im SOCTA 2017 waren es 5000, aber im SOCTA 2021 finden Sie keine Zahl dazu. Was soll mir das sagen? Ist die Zahl so beunruhigend, dass man sie nicht veröffentlicht?



Zweitens werden in diesem SOCTA-­Bericht Kriminalitätsbereiche priorisiert: Drogen-, Waffen-, Menschenhandel und übrigens auch Betrug, wobei laut EU-­Definition darunter auch Steuerhinterziehung und Schmuggel fallen sollen. Der Begriff des Betrugs ist in der EU weiter als in Deutschland und umfasst in der EU-Terminologie neben Umsatz- und Verbrauchssteuerhinterziehung auch weitere Betrugsformen.

Zu Produktfälschungen im Allgemeinen werden hingegen keine Angaben gemacht. Man könnte nun argumentieren, dass es bei Waffen, Menschen, Drogen und Umwelt eine wesentlich stärkere und unmittelbarere Opferbezogenheit gäbe. Aber es ist ja nicht so, dass die bei Produktfälschungen fehlen würde. Durch gefälschte Arzneimittel und Pestizide können Menschen zu Tode kommen, kann die Umwelt geschädigt werden, und bei der illegalen Produktion können Menschen ausgebeutet und verletzt werden. Nicht zu übersehen ist, dass Geldwäsche auch mit Produktfälschungen in Zusammenhang steht. Wenn wir uns aber nur auf die Geldwäsche konzentrieren und nicht auf die Tätigkeitsfelder, wo das Geld herkommt, sehen wir auch nur die halbe Realität. ­Täglich eine Stunde Radio hören genügt, um zu wissen, dass Geldwäsche überall eine Rolle spielt. Aber dabei wird vergessen, dass das Geld ja irgendwo verdient werden muss und dass es sich eben nicht allein um Drogen, Waffen oder Menschen handelt, sondern zum großen Teil auch um andere Märkte. Wenn wir da nichts tun, wird dieses Geld in andere Felder reinvestiert, sodass sich Kriminalität ausweiten kann, die Gesellschaft unterminiert wird und deren Grundfeste angegriffen werden.

 

... also eine sehr grundlegende Gefährdung. Die US-Regierung will ja zum Beispiel Anti-Korruptionsmaßnahmen ins Zentrum ihrer Außenpolitik rücken.

Die EU-Kommission hat das auch erkannt. In einem Bericht von 2020 hat sie bestätigt, dass illegaler Handel und Produkt­piraterie äußerst besorgniserregende Felder sind. Trotzdem findet man keine Priorisierung oder auch nur eine Erwähnung als Durchschnittskategorie. Der ­SOCTA-Bericht 2017 hatte den Online-Handel mit illegalen Gütern und Dienstleistungen noch als „cross-cutting priority ­crime ­threat“ aufgeführt, dann aber wurde diese Priorisierung im Laufe des Policy Cycle gestrichen.



Das hat Europol sogar selbst bemängelt. Europol ist eine Agentur der EU zur Koordination von internationalen Ermittlungen sowie zur Datensammlung und -analyse. Für die Erfüllung seiner Aufgaben braucht Europol den Rückhalt der Mitgliedstaaten. In diesen sind die Gesichter der OK aber durchaus verschieden, und jeder Mitgliedstaat verfolgt deshalb auch die auf seinem Territorium agierenden OK-Gruppierungen nach eigener Priorisierung. Auf Sizilien ist die Mafia dominant. Sie ist auch in Deutschland aktiv, eher weniger in Dänemark oder Schweden. Anders gesagt: Wo Rockervereinigungen oder russisch-eurasische OK aktiv sind, werden die Staaten diese OK-Gruppierungen mit deren Tätigkeitsprofil priorisieren und nicht Organisationen, die auf dem eigenen Territorium eine eher untergeordnete Rolle spielen. Nationale Interessen spielen also auch bei der EU-weiten Priorisierung eine Rolle, und einige Länder sagen: „Tut uns leid, es ist schade, dass ihr dieses Riesenproblem habt. Wir haben es nicht oder wir haben es im Griff. Für uns hat das deshalb keine Priorität.“ Aber von Produktpiraterie sind alle Länder betroffen.



Mit dem Brexit ist Großbritannien aus dem Schengener Informationssystem (SIS) II ausgeschieden. Wie sollte die EU darauf am besten reagieren?

Organisierte Kriminalität lässt sich nur verfolgen und ihre Strukturen lassen sich nur zerstören, wenn man international kooperiert – und im Fall des Vereinigten Königreichs heißt das nun: mit einem Drittstaat kooperieren. Auch da kann ­Europol eine wichtige Rolle spielen. Großbritannien war ein großer Datenlieferant für bestimmte Informationssysteme, vor allem für das SIS. Es gibt natürlich bilaterale Kooperationsvereinbarungen, und es bleibt abzuwarten, inwiefern diese das SIS ersetzen. Großbritannien gehört nun nicht mehr zum EU-Binnenmarkt. Voraussichtlich wird es eine Veränderung des Routings geben, denn bisher war es so, dass die alten Commonwealth-Verbindungen genutzt wurden. Illegale Waren aus Asien kamen in den europäischen Binnenmarkt, indem sie über Hongkong und Großbritannien verschifft wurden. Das wird man abwarten müssen.

 

Im Rahmen des europäischen Wiederaufbauprogramms für die Jahre nach der Pandemie werden viele Milliarden Euro an Fördergeldern fließen. Schafft das weitere Anreize für OK-Aktivitäten?

Eindeutig ja. Finanztöpfe schaffen Anreize, und Organisierte Kriminalität ist in dem Bereich sehr innovativ und wird sicherlich über Scheinfirmen Anträge stellen. Deshalb muss man einer kriminellen Strategie eine Gegenstrategie der EU oder des Nationalstaats entgegensetzen. Das kann nur Kontrolle sein. Hilfen sollen zwar schnell ausgezahlt werden, aber nicht so schnell, dass sich jeder Kriminelle einfach Zugriff verschaffen und sich dann aus dem Staub machen kann. Trotzdem wird sich das nicht ganz verhindern lassen.



Wenn es mit der Wirtschaft wieder aufwärts geht, gibt es auch wieder Gewinner. Überall, wo Geld ausgezahlt wird, wird die Organisierte Kriminalität versuchen, mitzuverdienen. Es wird aber auch Verlierer geben, nämlich Menschen, die vieles verloren haben, die vielleicht nicht mehr so einfach auf die Beine kommen. Darauf gilt es zu achten: Die Verlierer der Pandemie dürfen nicht in ein kriminelles Umfeld geraten. Sozial schwache Personen können von Organisierter Kriminalität angeworben werden – nach dem Motto: „Komm, bei uns bist du etwas wert. Hilf uns mal hier ein bisschen und da ein bisschen, dann verdienst du auch schön was, und wir sind deine Familie.“ So ungefähr. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, diese Pandemieverlierer nicht aus dem Blick zu verlieren.     



Die Fragen stellte die IP-Redaktion.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 05, September 2021, „Schattenhandel“, S. 12-18

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