Essay

01. März 2020

Operation Eisenhower

Was Europa gegen Amerikas drohende Abkehr vom Westen tun kann.

Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat das transatlantische Verhältnis stark erschüttert. Strukturen von Diplomatie und Sicherheit, die bis in das Jahr 1945 zurückreichten, scheinen auf einmal so, als könnten sie auf einen Schlag zusammenbrechen.

Bei der Bekämpfung des Klimawandels und in der Iran-Politik sind die Vereinigten Staaten und Europa seitdem getrennte Wege gegangen. Tatsächlich hat die US-Politik die europäische Strategie in diesen Politikfeldern aktiv untergraben. Nimmt man Trumps Rhetorik für voll, droht auch beim Handel ein großer Zusammenstoß. Dabei ist die transatlantische Kluft heute zumindest bislang nicht so tief, wie sie es beispielsweise während des Vietnam- oder des Irak-Krieges war.

Die wichtigste Veränderung seit 2016 betrifft die Atmosphäre: Der Ton hat sich gewandelt, und mit ihm die Erwartungen. Die USA haben sich weniger als unnachgiebiger Partner denn als unzuverlässiger Verbündeter herausgestellt, der Europa zwingt, den schwierigen Weg in Richtung militärischer Autonomie zu gehen – bei einem zeitlichen Rahmen, der dafür sorgt, dass Europa noch auf Jahrzehnte hinaus von den USA abhängig sein wird, wer auch immer amerikanischer Präsident ist.

Die größte analytische Herausforderung der Trump-Ära besteht darin, sich von den Tagesturbulenzen frei zu machen, um die dahinterliegenden Muster zu erkennen. Die Krise von gestern verblasst angesichts der Krise von heute und der von morgen; und viele dieser Krisen sind bedeutungslos. Die Politik ist den theatralischen Erfordernissen eines theatralischen Mannes untergeordnet.

Wenn man das Weiße Haus unter Trump in einen größeren Zusammenhang stellt, gibt es drei historische Muster, die die Verschlechterung der transatlantischen Beziehungen seit Ende des Kalten Krieges prägen. Sie sind älter als Trumps Präsidentschaft und sie werden auch darüber hinaus andauern. Das erste Muster ist Ungewissheit, was das amerikanische Engagement in und die Verpflichtung gegenüber Europa anbelangt; ein Mangel an Klarheit, was Europas Verortung in Bezug auf die sonstigen wirtschaftlichen und strategischen Interessen der Vereinigten Staaten betrifft. Das zweite Muster ist die extreme Spaltung der US-Politik in Parteienlager, der die Beziehungen zu Europa leicht zum Opfer fallen. Das dritte ist der Veränderungsprozess an der kulturellen Basis der transatlantischen Beziehungen.

In der Summe können diese drei Muster dazu führen, dass sich Amerika in einer zweiten Amtszeit Trump oder unter einem demokratischen Nachfolger vom Westen lossagt. Dieses Szenario ist alles andere als unplausibel. Es grundiert einen großen Teil dessen, was derzeit über die transatlantischen Beziehungen geschrieben und gedacht wird.

Trotzdem sollten sich die Europäer, die am transatlantischen Verhältnis festhalten möchten, nicht ihrem Schicksal ergeben; sie brauchen noch nicht einmal pessimistisch zu sein. Historische Muster können in Lehren umgesetzt werden, ebenso wie Lehren in Politik, um dazu beizutragen, die Voraussetzungen für das Überleben des euro-amerikanischen Westens zu schaffen. Um dessen Zersplittern zu verhindern – unabhängig davon, wer im November 2020 gewählt wird – sollten „atlantizistische“ europäische Politikerinnen und Politiker ihre Bemühungen gegenüber den USA auf drei Bereiche konzentrieren: Sie sollten die zahlreichen gemeinsamen Interessen der USA und Europa betonen, weil diese vielen Amerikanern nicht mehr offensichtlich sind. Sie sollten zu Amerikanern auf beiden Seiten des politischen Spektrums Beziehungen aufbauen, um nicht zu sehr von den Geschicken der Demokratischen Partei abzuhängen. Und sie sollten in eine Kulturdiplomatie investieren, die weniger die Vergangenheit im Kalten Krieg beschwört als auf eine Zukunft setzt, die nicht vorherbestimmt ist.

Der Zweite Weltkrieg und die Anfänge des Kalten Krieges brachten die Vereinigten Staaten nach Europa und lieferten die Argumente, um die USA als europäische Macht zu begreifen. Eng miteinander zusammenhängende Interessen bestimmten die amerikanische Strategie: Adolf Hitler hatte gezeigt, welchen Schaden ein einziges, den USA feindlich gesonnenes Land anrichten konnte, wenn es die Kontrolle über die Wirtschaftsgüter des europäischen Kontinents erlangte. Das zeigte sich nicht nur daran, dass Nazi-Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg aus eigener Kraft wieder aufgerüstet hatte. Durch seine rasche Eroberung von Gebieten zwischen 1939 und 1941 wurde es für die USA ungeheuer schwer, das Land zu besiegen. Die USA mussten sich mit einem fragwürdigen Verbündeten wie der Sowjetunion zusammenschließen, und auch dann verursachte der Feldzug durch Europas Süden (via Italien) und Westen (via die Normandie) noch immens hohe Kosten. Die Angst, dass das, was den USA nach Pearl Harbor abverlangt worden war, sich wiederholen könnte, falls die Sowjetunion nach Westeuropa einrücken sollte, beängstigte die US-Entscheidungsträger von Harry Truman bis Dwight Eisenhower.

Nach 1945 blieben die Vereinigten Staaten nicht nur in Europa, um einen erneuten deutschen Militarismus zu unterbinden. Sie wollten auch die Sowjetunion abschrecken, ein Gebiet beherrschen zu wollen, das mehrere Jahrhunderte lang das Zentrum globaler militärischer und wirtschaftlicher Macht gewesen war. Washington sah diese Interessen als so vordringlich an, dass es dafür den Marshall-Plan und das NATO-Bündnis ins Leben rief, zwei Initiativen, die den USA hohe Kosten verursachten.

Die wirtschaftliche Situation machte ein weiteres amerikanisches Interesse am Westeuropa der Nachkriegszeit deutlich: Europa war ein herausragender Markt für amerikanische Güter. Sprichwörtlich war die Begeisterung für Coca-Cola, auch nach Hollywood-Filmen und amerikanischer Musik war die Nachfrage enorm. Vor Ausbruch des Krieges 1939 hatte zwischen Europa und den USA eine wirtschaftliche und finanzielle Symbiose bestanden. Die Europäer waren viele Jahre lang bereit gewesen, in die amerikanische Wirtschaft zu investieren. 1945 war ein großer Teil Europas zerstört, aber daraus ergaben sich nicht nur wirtschaftliche und politische Dilemmata, sondern auch wirtschaftliche Chancen. Eine wiederhergestellte westeuropäische Wirtschaft – die nicht unter der Kontrolle einer feindlichen Macht stand – brachte den USA eine Reihe von Vorteilen: Sie minimierte die Gefahr eines weiteren Weltkriegs; sie hielt die Sowjetunion auf Distanz; und sie trug zu einem positiven Kreislauf des Wirtschaftswachstums in Europa und den USA bei, den „trente glorieuses“, wie der drei Jahrzehnte lange Nachkriegsboom in Frankreich genannt wird. Es ist kein Zufall, dass die beiden mächtigsten US-Außenminister der Nachkriegszeit, Dean Acheson und John Foster Dulles, vor ihrer Zeit in der Politik als Wirtschaftsanwälte tätig gewesen waren.

Das Bewusstsein für diese Interessen trug dazu bei, in Washington die Unterstützung für eine „proeuropäische“ amerikanische Außenpolitik über die Parteigrenzen hinweg zu festigen. Der Demokrat Woodrow Wilson war nach dem Ersten Weltkrieg der Vordenker einer solchen Außenpolitik gewesen. Dass es ihm nicht gelang, auch die Republikanische Partei von diesem Kurs zu überzeugen, war eine Lehre, die Wilsons Unterstaatssekretär für die US-Marine, Franklin Delano Roosevelt, nie vergaß. Gleiches galt für Roosevelts späteren Vizepräsidenten Harry Truman, auch ein Anhänger Wilsons: Der Zweite Weltkrieg war ein so schwerer und gewaltiger Einsatz, dass er von der Demokratischen Partei alleine nicht hätte bewältigt werden können. Truman verwendete erhebliche politische Ressourcen darauf, die Republikaner im Kongress auf den Marshall-Plan einzuschwören.

Dwight D. Eisenhower, der erste Kommandeur der NATO, litt so sehr unter der Perspektive einer möglicherweise isolationistischen Republikanischen Partei, dass er sich 1952 zur Kandidatur für das Präsidentenamt entschloss. Als er gewählt wurde, gab es keinen Bruch mit der Außenpolitik der demokratischen Regierungen, die seit 1932 regiert hatten. Natürlich hatte Eisenhower während des Krieges unter Präsident Roosevelt gedient. Bei der US-Strategie für den Kalten Krieg setzte er zwar hier und da neue Akzente. Doch diese Akzente – ob bei verdeckten Aktionen oder der Atomwaffendoktrin – dienten dazu, die Strategie zu verfeinern, und nicht, sie umzukehren. Eisenhower, der sich 1945 in einer Rede in Großbritannien selbst zum „Londoner“ erklärt hatte, stellte das amerikanische Engagement für einen transatlantischen Westen in den Mittelpunkt seiner Außenpolitik. John F. Kennedy wurde für eine ähnliche Geste noch sehr viel bekannter, als er sich vor dem Schöneberger Rathaus zum „Berliner“ erklärte. „Civis romanus sum“, sagte er auch (und erhielt dafür nicht ganz so viel Applaus). Im Sommer 1963 sprach und handelte Kennedy also gemäß einer etablierten politischen Tradition.

Die amerikanische Strategie gegenüber Europa orientierte sich an den eigenen Interessen. Dass sie über Parteigrenzen hinweg getragen wurde, stärkte die Europa-orientierte US-Außenpolitik. Auch die Kultur gehörte zu diesem Mix dazu. Die Hochschulbildung in den USA war seit Langem europhil gewesen: Im Amerika des 19. Jahrhunderts entsprach höhere Bildung dem Studium der europäischen Kulturen; das erste Doktorandenprogramm in Amerikanistik wurde erst 1937 an einer amerikanischen Universität eingeführt.

Zwischen 1914 und 1945 widmeten sich amerikanische Universitäten der Lehre eines Curriculums „Westliche Zivilisation“. Dies erreichte 1963 mit der Veröffentlichung des wissenschaftlichen Bestsellers „The Rise of the West“ von John McNeill seinen Höhepunkt. Es war ein gewaltiger historischer Abriss, der die Ursprünge der amerikanischen Demokratie bis zu den griechischen Stadtstaaten zurückverfolgte. Die politische Elite, die in den 1940er und 1950er Jahren die amerikanische Außenpolitik gestaltete, war ein Produkt dieser Bildung. Sie wurde dazu erzogen, an das Gute im Westen und an die Vorstellung zu glauben, die Vereinigten Staaten seien ein untrennbarer Teil des Westens. Diese Bildung stattete Persönlichkeiten wie Acheson und Dulles mit dem Vokabular aus, mit dem sie amerikanische „leadership“ des Westens rechtfertigten, an der das Konkreteste die Sicherheitszusagen für Westeuropa waren.

Dieses Vokabulars bediente sich später auch John F. Kennedy, und zwar ebenso vor amerikanischen wie vor europäischen Zuhörern. Wenige Wochen, bevor er in Berlin den Ausdruck „civis romanus sum“ verwendete, hatte Kennedy dieselben Worte vor einem Publikum in Louisiana benutzt. Als er 1963 ermordet wurde, würdigte ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung in den höchsten Tönen. Das Harvard College, wo Kennedy in den 1940er Jahren studiert hatte, so schrieb die FAZ in ihrem Nachruf, habe ihn zum „Europäer“ gemacht.

In jedem dieser Bereiche – die wahrgenommenen Interessen, der überparteiliche Konsens, die Kultur – bedeutete das Ende des Kalten Krieges den Beginn einer neuen Ära. In den 1990er Jahren, der Blütezeit der Globalisierung, diversifizierten sich die Zentren wirtschaftlicher Macht. Es ließ sich nicht mehr mit solch unbedingter strategischer Gewissheit wie in den 1940er Jahren behaupten, die Wirtschaft Westeuropas sei der Schlüssel zur globalen Macht.

Zum Ende der 1990er Jahre waren mindestens ein Dutzend wirtschaftlicher Schlüssel zur globalen Macht entstanden. Diese Macht wurde auch kaum noch von Nationalstaaten verkörpert, sondern trat in der Form multinationaler Unternehmen auf, die aus nationalen Grenzen eine Farce machten. Dies veränderte die außenpolitische Gleichung und verkleinerte die Abhängigkeit von geografischen Faktoren. Damit änderte sich auch Europas Stellenwert.

Europa war auf seine Weise zu einer viel großartigeren Erfolgsgeschichte geworden, als es sich die amerikanischen Entscheidungsträger der 1940er Jahre in ihren wildesten Träumen hätten vorstellen können. In den 1990er Jahren und danach war Europa alles andere als eine Brutstätte von Großmachtmilitarismus. Nach dem Kalten Krieg weitete es seinen Einfluss aus. Mit der Europäischen Union dehnten sich friedliche Strukturen aus, die ein gutes Umfeld für amerikanische Unternehmen schufen und wie früher schon die europäischen Investitionen in den USA beförderten: Mehr Wohlstand in Europa bedeutete auch mehr Wohlstand in den Vereinigten Staaten. Tatsächlich war Europa bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts so reich geworden, dass das militärische Engagement der USA in Europa zwar strategisch vernünftig blieb, aber gleichwohl zu einem Anachronismus geworden war, zu einem Erbe der Vergangenheit, das als Konstrukt immer weniger rational unterfüttert war – wenn nicht für die Europäer, so doch in den Augen der amerikanischen Steuerzahler.

Nach innen hat sich die amerikanische Politik bis heute nicht vom Vietnam-Krieg der 1960er und frühen 1970er Jahre erholt. Er spaltete die Gesellschaft in mindestens zwei miteinander konkurrierende Gruppen. Trotz der großen Dramatik des Watergate-Skandals und seiner Nachwehen zeichnete sich die Außenpolitik während der Präsidentschaften von Richard Nixon (1968–1975), Jimmy Carter (1976–1980), Ronald Reagan (1980–1988) und George H.W. Bush (1988–1992) durch Kontinuität aus. Aber die nach dem Vietnam-Krieg schwärende Unzufriedenheit löste sich nicht auf. Ohne den sowjetischen Feind, der der amerikanischen Innenpolitik eine gewisse Ordnung aufzwang, kam es ab den 1990er Jahren zu Zusammenstößen zwischen den feindlichen Fraktionen.

Das Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton legte nahe, dass ihn seine Gegner bei den Republikanern in gewisser Weise als illegitimen Präsidenten sahen. Nach einem kurzen Ausbruch von Patriotismus unmittelbar nach dem 11. September 2001 wurde George W. Bush in den Augen seiner politischen Gegner ebenfalls zum illegitimen Präsidenten. Die Republikaner attackierten dann wiederum Barack Obama heftig. Donald Trump ging in den Präsidentschaftswahlkampf mit der Behauptung, Obama sei kein Bürger der Vereinigten Staaten. Im Amt lässt sich Trumps Vorgehen immer dann besonders gut vorhersagen, wenn es um die Aufhebung politischer Entscheidungen geht, die unter Obama getroffen wurden. Wann immer es Trump möglich ist, ein Anti-Obama zu sein, ist er es – besonders, wenn es um Außenpolitik geht. Derzeit positionieren sich die Kandidaten der Demokraten nun wieder als Anti-Trumps in der Außenpolitik, und so geht es immer weiter.

Die amerikanische politische Kultur der vergangenen Jahrzehnte hat nur noch wenig mit der Kultur der 1940er und 1950er Jahre gemeinsam. Die Konservativen unter den Republikanern haben sich von der proeuropäischen Haltung Eisenhowers wegbewegt. Viele von ihnen geben sich ethno-nationalistischen Gefühlen hin, die sich zum einen Teil gegen die EU und zum anderen Teil gegen Einwanderer und gegen Internationalismus richten. Bei europäischen Populisten lassen sich ähnliche Entwicklungen beobachten. Dies deutet auf den Tod des transatlantischen Westens hin – oder auf die Geburt eines völlig neuen Westens; eines Westens, wie er der Fantasie eines Steve Bannon entsteigt, Trumps ehemaligem Berater.

In den 1960er Jahren unterstrichen mehrere politische Bewegungen einen Tatbestand, der offensichtlich war, aber nicht immer akzeptiert worden war: Auch wenn die Vereinigten Staaten ein europäisches Erbteil haben, eine Überlieferung von Religion, politischer Philosophie und Kunst aus Europa, ist die europäische DNA doch nur eines von mehreren Elementen der amerikanischen Geschichte. Die europäische DNA fiel mit einer Weißen-Ideologie zusammen, die den herrschenden Eliten über die Generationen hinweg als Legitimierung diente.

Im Laufe der Zeit wurden die amerikanischen Universitäten zum Motor sozialen Wandels. Sie rückten vom Bekenntnis zur „westlichen Zivilisation“ und Lehrplänen ab, die in der Regel Europa mit Weltreichen und weißer Hautfarbe in Verbindung brachten. Inzwischen ist Europa nicht mehr der Eckpfeiler der höheren Bildung in Amerika. Der Aufstieg des Westens, über den John McNeill schrieb, hat der „Provincialization Europe“ Platz gemacht, wie der Titel eines wichtigen Werkes des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty über die Weltgeschichte lautet.

Diese Veränderungen sind an jedem Punkt auf Widerstand gestoßen, was zu den Kulturkämpfen der 1980er und 1990er Jahre führte, welche die Erosion des überparteilichen Konsenses in der amerikanischen Politik widerspiegeln (und noch nie gab es einen Präsidenten, der solche Kulturkämpfe so offensichtlich genießt und politisch so stark von ihnen profitiert wie Trump). Nichtsdestoweniger hat sich der grundsätzliche Wandel, der in den 1960er Jahren begann, als unaufhaltsam herausgestellt. Der amerikanische Multikulturalismus wird bleiben, aber Europa ist nicht mehr automatisch Teil amerikanischen Denkens, was sich für die transatlantischen Beziehungen als Problem erweist.

Trump hat eine wichtige Wahrheit über den transatlantischen Westen bewiesen: Er ist keine Selbstverständlichkeit. Er ist kein sich selbst erhaltender Mechanismus, kein Motor, der 1945 montiert wurde und auf ewige Zeit weiterläuft. Wenn sich die Vereinigten Staaten der Interessen, die sie an Europa binden, nicht mehr sicher sind, wenn sich die Spaltung entlang der Parteigrenzen immer tiefer einfrisst, und wenn die USA auch kulturell von Europa immer weiter abrücken, ist es möglich, dass sie sich in den kommenden Jahren von diesem Westen lossagen.

Trumps Talent als Politiker, das sich oft hinter seinem persönlichen Aufbrausen und der Inkohärenz der Außenpolitik seiner Administration verbirgt, liegt in der genauen Kenntnis seiner Wählerschaft. Seine Wähler hat es nicht gekümmert, dass er die NATO für obsolet erklärte. Auch Trumps Verachtung für Kanzlerin Merkel hat sie nicht abgestoßen. Sie sind sich mit dem Präsidenten einig, dass Europa gezwungen werden muss, mehr für seine Verteidigung auszugeben und Handelsvereinbarungen abzuschließen, von denen der Präsident sagt, dass sie für die amerikanische Wirtschaft vorteilhafter sind. Seine Wähler finden Trumps Behauptung einleuchtend, dass Barack Obama und Hillary Clinton Mitglieder einer egoistischen globalen Elite sind, dass ihr Glauben an die „liberale Weltordnung“ nur der Deckmantel für einen Angriff auf die amerikanische Nation sind, und dass die außenpolitische Tradition der Demokratieförderung, die bis Woodrow Wilson zurückreicht, entweder irrelevant oder unsinnig ist. So mühsam es für Trump gewesen ist, den Kurs der amerikanischen Außenpolitik zu verändern, und obwohl er dabei mehr Misserfolge als Erfolge vorzuweisen hat, hat er sich doch mit Erfolg Gefühle und Ressentiments zu Nutze gemacht, die er im Wahlkampf 2016 nicht erst zu erfinden brauchte. Er aktivierte Spaltungen und Meinungsunterschiede, die es auch weiterhin geben wird und die mit Sicherheit die Zukunft der transatlantischen Beziehungen gefährden.

Um diesen sich zusammenballenden Problemen entgegenzutreten, kann Europa die USA an die gemeinsamen Interessen erinnern – Interessen, die im Laufe der Zeit wahrscheinlich noch stärker werden. Das zentrale Argument dabei ist kein wirtschaftliches, obwohl Europa und die USA ein gemeinsames Interesse an Regeln für ein produktives kommerzielles und finanzielles Verhältnis haben. Der grundsätzliche strategische Imperativ betrifft Russland und China. Beide Mächte profitieren von einer Herangehensweise, die auf „Teilen und Herrschen“ beruht. Sie können bilateral viel mehr erreichen, als wenn sie es mit einer vereinten transatlantischen Front zu tun haben. Im Gegenzug gilt, dass die USA und Europa ihren Einfluss in Bezug auf den Handel, die Stabilität der europäischen Grenzen und die internationale Ordnung mehr als verdoppeln können, wenn sie zusammenarbeiten.

Kurzfristig mag es den Drang geben, Wettbewerb, Rivalität und die Eitelkeit kleiner Meinungsunterschiede auszuleben. Doch müssen Europa und die Vereinigten Staaten unbedingt erkennen, dass sie in einer Welt leben, die sehr viel dringender den Westen ändern als sich von ihm verändern lassen will. Die Tage der Anmaßung, als die USA glaubten, sie könnten den Nahen Osten demokratisieren, und als Europa glaubte, es könnte Osteuropa, Russland und den Kaukasus europäisieren – diese Tage sind vorbei. Interne Reformen und der vorsichtige Erhalt der transatlantischen Beziehungen sind hinreichend große Herausforderungen. Zugleich spiegeln sie überaus reelle und langfristige Interessen für Europa ebenso wie für die USA wider.

Taktisch sollte Europa versuchen, eine Verbindung zu so vielen amerikanischen Konservativen aufzubauen wie möglich. Trump hat die EU als „liberales“ Gebilde hingestellt. Dies konnte er auch deswegen, weil viele europäische Staaten und die EU selbst es einfacher finden, mit Demokraten zusammenzuarbeiten. Führende Demokraten schwärmen oft von der Europäischen Union. Präsident Obama versuchte, die EU vor dem Brexit zu retten. Die Positionen der Demokraten bei Themen wie Waffengesetze, Abtreibung, Klimawandel und internationale Ordnung ähneln tendenziell der Mehrheitsmeinung in Europa zu diesen Fragen. Aber wenn es so weit geht, dass die Demokraten die transatlantischen Beziehungen für sich allein beanspruchen, kann dies für die Beziehungen tödlich sein.

Bei amerikanischen Konservativen ist Europa an sich nicht unbeliebt, im Gegenteil. Aber für die transatlantischen Beziehungen braucht man gute Argumente. Europäische Staatschefs und europäische Diplomaten sollten auf konservative Zielgruppen zugehen. Dabei sollten sie nicht versuchen, selbst wie amerikanische Konservative zu klingen. Vielmehr sollten sie Elemente der transatlantischen Kooperation identifizieren, die auch Amerikanern, die sich nicht zu den Demokraten zählen, überparteiisch vorkommen.

Dieses Vorgehen könnte man „Operation Eisenhower“ nennen, im Gedenken an jenen republikanischen Präsidenten, der als US-General eine so wichtige Rolle für den Sieg der Alliierten spielte, der später ein treuer Fürsprecher (und Diener) der NATO war und der zu einer robusten transatlantischen Beziehung keine Alternative sah. Dies ist keine Methode, um die Beziehungen zur Trump-Administration zu managen. Es ist eine Investition in die Zukunft.

Schließlich sollte Europa die Vereinigten Staaten zum Ziel ihrer kulturellen Diplomatie machen: nicht als Ornament, sondern als Kernelement ihrer gesamten Außenpolitik. Man mag glauben, dass dies unter Verbündeten nicht wichtig ist, doch zum jetzigen Zeitpunkt ist eine solche kulturelle Diplomatie unverzichtbar. Es genügt nicht, die historischen Verbindungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu betonen. Eine kreative europäische Kulturdiplomatie sollte den komplizierten Multikulturalismus der USA einbeziehen sowie zu Toleranz und Offenheit ermutigen – nicht als das genetische Eigentum von irgendjemandem, sondern als Erbe der transatlantischen Beziehungen in ihrer besten Form. Sie sollte versuchen zu überzeugen, so wie das Kulturdiplomatie immer tut.

Wenn die handfesten Interessen der USA am transatlantischen Verhältnis bereits klar formuliert worden sind, kann die Kulturdiplomatie Europas darauf zielen, die Amerikaner zu überzeugen, dass Isolationismus und Unilateralismus Abwege sind. Denn sie kann deutlich machen, dass Kooperation und Multilateralismus der beste Weg in die Zukunft sind – wenn sie zu einer Außenpolitik entwickelt werden, die demokratische Entscheidungsfindungen und den Rechtsstaat widerspiegelt.

Kulturdiplomatie kann auch helfen, die Amerikaner daran zu erinnern, dass nicht nur die Europäer litten, als der Westen in den 1930er Jahren zusammenbrach. Es waren die Amerikaner, die Uniform anlegen mussten. Als der Westen dann nach dem Krieg wiederhergestellt wurde, als der Marshall-Plan entworfen und die NATO-Verträge unterzeichnet wurden, war das nicht nur gut für (West-)Europäer. Im Laufe der Zeit trug es auch zur Sicherheit und zum Wohlstand der Vereinigten Staaten bei. Diese Beispiele sind nicht nur für Geschichtswissenschaftler interessant. Sie geben den Rahmen für Entscheidungen ab, die von 2020 an auf beiden Seiten des Atlantiks getroffen werden: ob der Boden unter dem Westen endgültig wegbricht oder ob eine Erneuerung noch immer möglich ist.

 

Prof. Dr. Michael Kimmage lehrt Geschichte an der Catholic University of America, Washington, DC.

Übersetzung aus dem Englischen: Bettina Vestring

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2020, S. 94-101

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