„Ohne Russland gibt es keine europäische Sicherheit“
Wie die meisten Sätze, die eine Banalität sind, die aber trotzdem wie zur Beschwörung ständig wiederholt werden, hat auch diese Phrase längst eine Bedeutung angenommen, die weit über ihren eigentlichen Kern hinausgeht. Eigentlich will sie nur sagen, was jeder weiß, nämlich dass Russland in allen europäischen sicherheitspolitischen Erwägungen stets berücksichtigt werden muss. Doch viele, die sie benutzen, überbringen damit in Wirklichkeit ganz anders aufgeladene – und oft vergiftete – Botschaften. Das macht den Satz trotz seiner Selbstverständlichkeit so schwierig.
Eine dieser Botschaften ist: Die NATO ist die eigentliche Bedrohung der europäischen Sicherheit, denn Russland ist darin kein Mitglied. Eine andere ist: Habt euch mal nicht so mit den russischen Verfehlungen (Krim, Ostukraine, Raketenrüstung, Transnistrien, Südossetien, kleine grüne Männchen, militärische Luftraumverletzungen, Fake News, Lähmung der OSZE, bombardierte Krankenhäuser in Syrien, Auftragsmorde in Berlin). Der Westen hat auch keine weiße Weste, und Amerika ist genauso schlimm. Eine dritte ist: Der Westen hat Russland geopolitisch eingekreist, politisch erniedrigt, wirtschaftlich stranguliert und systematisch ausgegrenzt, da schulde man Moskau doch jetzt wohl ein bisschen tätige Wiedergutmachung.
Mit anderen Worten: Wenige Sätze enthalten so viel strategische Naivität, so viel bewusste Verharmlosung, so viel zynische Relativierung und so viel historische Verdrehung wie dieser. Kaum ein Satz verdeckt auch so perfekt die eigentlichen Fehler des Westens gegenüber Russland. Er führt also nicht nur in die Irre, er nimmt auch die Chance zur Selbstkorrektur, wo sie tatsächlich nötig wäre.
Umkehr der Beweislast
In Deutschland, das ein so komplexes psychologisches Verhältnis zu Russland hat wie kaum ein anderes Land, hat der Satz auch noch eine landesspezifische Bewandtnis. Deutschland will Frieden in Europa, ohne den offensichtlichen Konflikt mit Russland auszutragen. Es fällt damit weit zurück hinter die viel ausgewogenere Strategie, die einst hinter der Brandtschen Ostpolitik steckte. Diese basierte auf Verhandlungen und Verständigung einerseits und auf militärischer Abschreckung andererseits. Heute wollen die Russland-Entgegenkommer vom zweiten Teil dieses Programms nichts mehr wissen, obwohl es weiterhin höchst ratsam ist, mit Russland Geschäfte nur aus einer Position der Stärke heraus zu machen.
Der Satz „Ohne Russland gibt es keine europäische Sicherheit“ ist also unterm Summenstrich das, was wir ab sofort GABU nennen wollen: die Größte Anzunehmende Beweislast-Umkehr. Nicht Russland muss nachweisen, dass es sich als kooperativer Partner in die multilateralen Strukturen Europas einbringen will, dass es Grenzen unangetastet lässt und sich mental von seiner tief verinnerlichten Nullsummenlogik verabschieden kann, sondern Europa und Amerika müssen endlich vertrauen und einseitig in Vorleistung gehen. Doch so wird das nichts mit der Sicherheit in Europa. Denn die gibt es in Wirklichkeit nur mit einem anderen Russland als dem von Wladimir Putin.
Jan Techau ist Senior Fellow und Direktor des Europaprogramms des German Marshall Fund of the United States (GMF) in Berlin und Kolumnist der „80 Phrasen“ in der IP.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2020, S. 13