Obamas Raketenabwehr
Warum Europa aufrüsten sollte
Auch wenn der US-Präsident im September 2009 das „Aus“ für den geplanten Raketenabwehrschild in Osteuropa erklärt hat, ist das Thema nicht vom Tisch. Im Gegenteil: Obamas neue Pläne zwingen die Europäer erneut, sich zu entscheiden, welche Beiträge sie zur Verteidigung ihres Kontinents leisten wollen.
In der deutschen öffentlichen Debatte werden Abwehrsysteme gegen ballistische Raketen bislang größtenteils negativ bewertet. Dies zeigte sich bereits 2002, als die Bush-Regierung den ABM (Anti-Ballistic Missile)-Vertrag aufkündigte, und wiederholte sich 2006 nach ihrer Entscheidung, das globale Raketenabwehrsystem der USA durch eine dritte Basis in Osteuropa auszubauen. Im Mittelpunkt der Kritik stand dabei die Befürchtung, dass derartige neue Fähigkeiten das Verhältnis zu Russland, vor allem das Bemühen um Abrüstung, gefährden könnten. Deshalb wurde die jüngste Neuausrichtung der Raketenabwehrpolitik durch Präsident Barack Obama auch weithin positiv aufgenommen. Mit dem „Aus“ für die dritte Basis, so die verbreitete Meinung, sei das Thema Raketenabwehr „vom Tisch“ und der Weg für weitere Abrüstungsverhandlungen frei.
Die Betonung des Faktors „Russland“ ist in Anbetracht der traditionellen sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland zwar verständlich, jedoch werden dabei wichtige Aspekte der strategischen Realität missachtet: Trotz zahlreicher diplomatischer Bemühungen wächst die Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen und Trägermittel weiter. Der Iran ist das anschaulichste, aber nicht das einzige Beispiel dafür.
Auch die Obama-Regierung hält daher an Raketenabwehrsystemen als einer wichtigen Komponente ihrer Verteidigungsmaßnahmen fest und hat im Wesentlichen nur die künftige Abwehrarchitektur geändert. Diese geplante Architektur birgt in politischer, operationeller, technologischer und finanzieller Hinsicht allerdings kaum geringere Herausforderungen für die europäischen NATO-Partner als die früheren Pläne der Bush-Regierung. Deutschland ist daher aufgefordert, sich intensiv mit den neuen US-Plänen, den bündnispolitischen Konsequenzen und den europäischen Beteiligungsoptionen auseinanderzusetzen.
Die neuen Pläne
Wie viele andere Politikfelder auch, ist die Raketenabwehrpolitik der Obama-Regierung im Vergleich zur Bush-Ära von grundsätzlicher Kontinuität geprägt. Die Rückkehr der Demokraten ins Weiße Haus sollte daher nicht als die Rückkehr zu der skeptischen, ja grundsätzlich ablehnenden Haltung der Clinton-Regierung gegenüber Raketenabwehr interpretiert werden. So betonte Obama in seiner Prager Rede am 5. April 2009, dass die USA ein „kosteneffektives und bewährtes“ Raketenabwehrsystem vorantreiben werden, solange die Bedrohung durch iranische Nuklear- und Raketenprogramme weiter bestehe. Der Entwurf der Regierung für das Verteidigungsbudget 2010 kappte oder strich zwar einige langfristige Entwicklungsprogramme wie den Airborne Laser. Die USA planen dennoch auch in Zukunft, ihr globales Raketenabwehr-system weiterzuentwickeln und auszubauen.
Dieses System stützt sich auf vier Typen von Abfangflugkörpern: Patriot PAC-3 für die Verteidigung von Punktzielen vor allem gegen Kurzstreckenraketen; seegestützte SM-3 und landgestützte Terminal High Altitude Area Defense (THAAD) vor allem gegen Mittelstreckenraketen sowie Ground-Based Interceptors (GBI) gegen Interkontinentalraketen. PAC-3 und SM-3 Raketen auf Schiffen der amerikanischen und japanischen Marine sind bereits seit mehreren Jahren im Einsatz. 30 GBI in Alaska und Kalifornien werden weiterhin modernisiert und fortentwickelt, während die ersten THAAD-Systeme nach längerer Verzögerung nun in Dienst gestellt sind. Neben den Abfangflugkörpern gehören zum globalen Raketenabwehrsystem auch modifizierte Frühwarnradare in den USA, Grönland und Großbritannien, Infrarot-Frühwarnsatelliten, ein X-Band-Radar auf einer umgebauten Ölbohrplattform im Nordpazifik, Spy-1-Radare auf Aegis-Flugabwehrschiffen der amerikanischen und japanischen Marine, Kommunikationsverbindungen sowie operationelle Hauptquartiere im US Northern und Strategic Command. Je ein AN/TPY-2 X-Band-Radar in Japan und Israel sind ebenfalls Teil des Systems.
Die Bush-Regierung hatte darüber hinaus im Februar 2007 Verhandlungen mit Polen über die Stationierung einer dritten GBI-Basis aufgenommen. Gleichzeitig begann sie Gespräche mit der Tschechischen Republik über die Installation eines leistungsstarken X-Band-Radars zur Zielerfassung der feindlichen Raketen. Während die GBI-Basis zwar zur Verteidigung der USA und Nordwesteuropas gegen iranische Interkontinentalraketen in der Lage gewesen wäre, hätte sie technisch jedoch nichts zum Schutz der NATO-Mitglieder in Südosteuropa beitragen können.
Im September 2009 stoppte Obama dann beide Programme und ersetzte sie mit einer flexibleren Architektur, die den Focus auf die Verteidigung Europas legt. Aegis-Schiffe der US-Marine mit SM-3, die bereits jetzt zeitweise im östlichen Mittelmeer (vor der Küste Israels) eingesetzt sind, werden ab 2011 je nach Bedarf in der Adria, im Schwarzen Meer und in der Ostsee zur Verteidigung Europas stationiert und durch THAAD und PAC-3 ergänzt. Neuere, landgestützte Versionen der SM-3 sind ab 2015 und 2018 vorgesehen. Das bis dato geplante stationäre Radar in der Tschechischen Republik wird durch ein weiteres AN/TPY-2-Radar und noch in der Entwicklung befindliche luftgestützte Radare ersetzt. Damit werden die USA einen erheblichen Beitrag zur Verteidigung des europäischen Kontinents gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen leisten.
Obwohl die neue Abwehrarchitektur auf beiden Seiten des Atlantiks weithin durch die „Russland-Brille“ gesehen und dementsprechend positiv bewertet wurde, führte die US-Regierung selbst drei andere Punkte als Begründung an: 1. technische Fortschritte in der Entwicklung der SM-3 und in der Integration von „taktischen“ Radaren in das Raketenabwehrsystem; 2. schnellere Fortschritte des Iran in der Entwicklung von flüssig- und feststoffgetriebenen Mittelstreckenraketen, die die südosteuropäischen Alliierten bedrohen können; sowie 3. die einfachere Möglichkeit, bestehende bzw. zukünftige Radare und Raketen der europäischen Verbündeten in das amerikanische Gesamtsystem zu integrieren. Obwohl die Diskussion über Raketenabwehr durch die Änderungen von Obama weitestgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist und die Details der geplanten Architektur in Europa kaum diskutiert wurden, bietet das neue Programm aus bündnispolitischer Hinsicht nicht weniger Sprengkraft als die früheren Pläne der Bush-Regierung.
Bündnispolitische Konsequenzen
Die transatlantischen Verbündeten sind derzeit auf der Suche nach einem neuen strategischen Konzept für die NATO. Die aktuelle Debatte kreist dabei vor allem um die Frage nach der richtigen Balance zwischen Bündnisverteidigung im klassischen Sinne und dem Einsatz der Streitkräfte außerhalb des NATO-Territoriums. Obwohl eine neue Austarierung zwischen beiden Aufgaben wahrscheinlich ist, wird die Allianz jedoch auch in Zukunft weiterhin beide Rollen übernehmen.
Raketenabwehrsysteme leisten in diesem Zusammenhang einen wichtigen Beitrag: Sie können einen Kontrahenten vom Gebrauch ballistischer Raketen abschrecken, indem sie ihm vor Augen führen, dass sein Angriff keinen Erfolg haben würde. Sollten die Abschreckungsversuche nicht fruchten, bieten sie zusätzlich eine Art Rückversicherung gegen den Schaden, der durch den feindlichen Raketeneinsatz zu erwarten ist. Dies gilt sowohl für Truppen im Einsatz als auch für das Bündnisgebiet selbst.
Auch die NATO betont daher in zahlreichen Dokumenten den Beitrag, den Raketenabwehrsysteme im Rahmen ihrer Verteidigungsstrategie leisten. Bereits 2001 hatte sie zwei Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, die ein Abwehrsystem für Streitkräfte im Einsatz beleuchten sollten. Die Studien befassten sich mit Kurz- und Mittelstreckenraketen bis zu 3000 km Reichweite. Die erste Stufe des Active Layered Theatre Ballistic Missile Defence (ALTBMD)-Programms, das später daraus hervorging, wurde 2006 beschlossen. ALTBMD wird die unterschiedlichen nationalen Systeme der an einem Einsatz beteiligten Länder miteinander vernetzen, damit sie als ein Gesamtsystem befehligt werden können. „Initial Operational Capabilitiy“ ist für 2012 geplant.
Getrennt davon begann die NATO 2002 eine weitere Studie über ein Raketenabwehrsystem zum Schutz des gesamten NATO-Territoriums. Um einen gleichwertigen Schutz aller Mitglieder sicherzustellen, unterlag die Studie der Maßgabe der „Unteilbarkeit der Sicherheit“. Im Ergebnis kam man nach Angaben von NATO-Offiziellen 2006 zu der Auffassung, dass ein Raketenabwehrsystem für das Bündnisgebiet nicht nur technisch machbar, sondern auch mit einem relativ geringen Aufwand finanzierbar sei. Obwohl die NATO bereits Jahre vorher betont hatte, dass die Proliferation von Massenvernichtungswaffen und ballistischen Raketen eine der Hauptbedrohungen ist, hielten jedoch einige der europäischen Allianz-Mitglieder aus politischen, aber auch technologischen und finanziellen Gründen an ihrem Widerstand gegen den Aufbau eines Abwehrsystems fest.
Die Pläne der Bush-Regierung für die dritte GBI-Basis zwangen die europäischen NATO-Staaten dann, sich 2007 erneut mit dem Schutz des Bündnisgebiets zu befassen. Im Laufe der Debatte zeigte sich, dass die amerikanischen Pläne gleich in mehr-facher Hinsicht den Nerv der Allianz getroffen hatten: Zunächst wurde klar, dass die NATO-Mitglieder Russland nach wie vor sehr unterschiedlich wahrnahmen. Während die „neuen“ osteuropäischen Mitglieder in Russland eine Gefahr für ihre Sicherheit sahen, gegen die man sich absichern müsste, betrachteten die „alten“ westeuropäischen Mitglieder Russland eher als Kooperationspartner, den man nicht unnötig provozieren sollte. Die dritte Basis galt den einen dementsprechend als Verteidigungsgarantie der USA, den anderen, u.a. Deutschland, als Störfaktor. Da die geplanten amerikanischen GBI in Polen zwar die USA und Nordwesteuropa gegen Langstreckenraketen aus dem Iran schützen konnten – nicht aber Südosteuropa gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen – sahen viele außerdem die Gefahr, dass die NATO eine Zone unterschiedlicher Sicherheit zu werden drohte. Und schließlich machten die USA zumindest anfänglich klar, dass die dritte Basis außerhalb etablierter NATO-Strukturen bleiben sollte.
Nach den zum Teil heftigen transatlantischen Auseinandersetzungen gab die NATO im Juni 2007 eine Ergänzung der ursprünglichen Machbarkeitsstudie in Auftrag, die den Beitrag der dritten Basis zur Verteidigung der Allianz untersuchen sollte. Auf dem Gipfel in Bukarest unterstrich die NATO dann knapp ein Jahr später die positive Bedeutung von Raketenabwehrsystemen. Zusätzlich beauftragte man die entsprechenden Gremien, Optionen aufzuzeigen, wie Südosteuropa durch eigene NATO-Anstrengungen geschützt werden könnte. Da die meisten europäischen Allianz-Mitglieder jedoch einen Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten und das „Aus“ der dritten Basis erwarteten oder erhofften, wurde die Thematik bis heute vertagt und es wurden keine weiteren Entscheidungen getroffen.
Die Raketenabwehrpläne der Obama-Regierung erleichtern die europäischen NATO-Partner zwar um die umstrittene dritte Basis, jedoch stehen sie auch mit der neuen Architektur vor erheblichen bündnispolitischen Herausforderungen: Mit dem Schutz des europäischen NATO-Territoriums gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen konzentriert sich die künftige Abwehrarchitektur der Vereinigten Staaten auf jene Aufgabe, zu der sich alle Allianz-Mitglieder gemeinsam in Solidarität verpflichtet haben. Solidarität bedeutet jedoch von jeher die Teilung der Lasten, nicht die Trennung der Aufgaben.
Die europäischen NATO-Mitglieder werden daher erörtern müssen, welchen Beitrag sie zu der Verteidigung ihres eigenen Kontinents leisten werden. Ihre Fähigkeitslücken im Bereich der Abwehr von Mittelstreckenraketen schränken diesen Beitrag derzeit allerdings erheblich ein. Raketenabwehr könnte damit neben dem Thema Afghanistan einer der nächsten großen Konfliktpunkte in der NATO werden: Gerade die Türkei könnte die Solidaritätsfrage mit Nachdruck an ihre westeuropäischen Bündnispartner richten.
Europäische Beiträge
Obwohl Raketenabwehr als eine im Wesentlichen amerikanische Technologie und Fähigkeit gilt, sind europäische Allianz-Mitglieder durchaus bereits imstande, ihre politischen Bekundungen mit begrenzten materiellen Beiträgen zu untermauern. Mit dem ALTBMD-Programm schafft die NATO derzeit die technischen Voraussetzungen, um europäische und amerikanische Sensoren und Abfangflugkörper in ein regionales Raketenabwehrsystem zu integrieren.
Deutschland, die Niederlande, Griechenland und Spanien verfügen über Patriot-Batterien, die zur lokalen Verteidigung gegen Kurzstreckenraketen eingesetzt werden können. Italien und Frankreich besitzen mit SAMP/T eine vergleichbare Fähigkeit. Deutschland und Italien kooperieren mit den USA im Rahmen des MEADS-Programms, um eine leistungsgesteigerte Patriot-Nachfolge zu entwickeln. Moderne Flugabwehrschiffe der deutschen, niederländischen, spanischen und norwegischen Marine haben zum Teil bereits erfolgreich mit ihren Bordradaren an Raketenabwehrtests in den USA teilgenommen. Verschiedene landgestützte Radare mehrerer europäischer Armeen könnten ebenfalls in ein Raketenabwehrsystem integriert werden.
Während sich die europäischen Verbündeten mit ihren derzeitigen Systemen vor allem auf die Verteidigung gegen Kurzstreckenraketen konzentrieren, beschaffen die USA auch fünf THAAD-Batterien für den Einsatz in Europa, Asien und dem Mittleren Osten. Da THAAD-Systeme feindliche Raketen in der oberen Atmosphäre abfangen, sind sie gut zur Flächenverteidigung Südosteuropas gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen geeignet und könnten auch als zweite Stufe eines Abwehrsystems Ballungsräume in anderen Teilen des Kontinents schützen. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben drei THAAD-Batterien für sieben Milliarden Dollar bestellt; eine finanzielle Größenordnung, die nur schwer durch rein nationale Beschaffung in Europa zu bewältigen wäre.
SM-3-Abfangkörper sind THAAD in der Verteidigung in der Fläche durch ihre größere Reichweite und die Fähigkeit, Raketen außerhalb der Atmosphäre abzufangen, überlegen. Nach Modifikationen der Bordsysteme könnten SM-3 prinzipiell auch auf europäischen Schiffen eingesetzt werden, sofern diese mit Mk 41 Lenkwaffencontainern ausgestattet sind. Dies schließt allerdings die französische, britische und italienische Marine aus, die statt Mk 41 das europäische PAAMS-System nutzen. Obwohl die Beschaffung von SM-3 mit einem Stückpreis von ca. zehn Millionen Dollar auch in nationalen Etats einfacher zu bewältigen wäre, würden politische Forderungen nach besserer Lastenverteilung innerhalb der NATO somit besonders stark auf Deutschland, die Niederlande, Spanien und Norwegen fallen. Nur diese Länder besitzen moderne Flugabwehrschiffe mit Mk 41 Containern.
Raketenabwehr: ein Weg zu transatlantischer Kooperation
Auf politischer Ebene hat die NATO die Verteidigung des Bündnisgebiets gegen ballistische Raketen als eine zukünftige Herausforderung anerkannt. Mit dem ALTBMD-Programm legt die Allianz außerdem die technische Grundlage für ein integriertes Abwehrsystem. ALTBMD ist jedoch bisher nur zum Schutz von Streitkräften im Einsatz gedacht; eine formelle Entscheidung, das Programm auch zur Verteidigung des Bündnisgebiets einzusetzen, steht noch aus. Mit dem Plan der USA, ihre Raketenabwehrarchitektur in Europa auf SM-3-Raketen zu konzentrieren, tritt die Obama-Regierung nun eindeutig in Vorleistung. Da die erste Stufe von ALTBMD ab 2012 einsatzbereit sein wird und somit auch die neue US-Abwehrarchitektur in den NATO-Rahmen integrieren kann, wird die Allianz allerdings eine dementsprechende Entscheidung nicht viel länger vor sich herschieben können.
Spätestens dann wird sich die Frage stellen, wie die NATO die Fähigkeitslücken bei Sensoren und Abfangflugkörpern identifizieren und schließen kann. Bedrohung und militärische Verteidigungsmaßnahmen werden sich über die Jahre hin weiterentwickeln. Daher gilt es, die Voraussetzungen zu schaffen, die Fähigkeiten der NATO auf diesem Gebiet kontinuierlich zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen.
Gemeinsame Beschaffung und gemeinsamer Betrieb von neuen europäischen Raketenabwehrfähigkeiten scheinen in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen geboten: erstens macht die auf absehbare Zeit schwierige Haushaltslage der meisten NATO-Staaten eine rein nationale Beschaffung nahezu unmöglich; zweitens sind nur wenige Alliierte technisch in der Lage, seegestützte SM-3 einzusetzen; drittens geht der Nutzen von Systemen wie SM-3 oder THAAD in den meisten Fällen weit über nationales Territorium hinaus; und viertens setzt das Abfangen von ballistischen Raketen operationell in jedem Fall die Delegation der Abschusserlaubnis an integrierte Allianz-Hauptquartiere voraus.
Im Rahmen ihrer Beratungen über das neue strategische Konzept sollten die Staats- und Regierungschefs der NATO daher beschließen, Raketenabwehr als ein gemeinsam finanziertes und betriebenes Projekt – in Kooperation mit den nationalen Fähigkeiten der USA und der europäischen Verbündeten – voranzutreiben. Da die meisten relevanten Systeme derzeit in den USA hergestellt werden, wären geeignete Gegengeschäfte der USA, z.B. der Kauf von europäischen Hubschraubern oder Tankflugzeugen, ein angemessener und konstruktiver Teil einer solchen politischen Entscheidung. SM-3 für die Schiffe europäischer Verbündeter, THAAD-Batterien, zusätzliche Radare in Europa (oder vorgelagert in der Türkei) sowie ein Beitrag zu den ab 2015 von den USA geplanten landgestützten SM-3 sind offensichtliche Kandidaten für ein gemeinsames Programm. Nicht zuletzt, weil sie damit der politischen und operationellen Kontrolle der NATO und nicht rein nationaler US-Befehlsgewalt unterliegen würden.
Das politische und militärische Bekenntnis zur gemeinsamen Verteidigung, auch gegen ballistische Raketen, ist das Fundament der trans-atlantischen Allianz, das unter anderem durch enge technische und operationelle Kooperation zum Ausdruck gebracht wird. Die USA sind in-zwischen jedoch mit den Raketenabwehrprogrammen Japans und Israels viel enger integriert als mit denen der NATO-Partner. Nach jahrelangen Lippenbekenntnissen bieten Obamas neue Pläne den Europäern nun die Chance, Raketenabwehr für ihren Kontinent als ein gemeinsames europäisches und transatlantisches Projekt vorantreiben.
Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 82 - 89
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