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01. Sep 2017

Nur bedingt rechtspopulistisch

Die polnische Regierungspartei PiS punktet mit Wirtschafts- und Sozialpolitik

Von ihren ideologischen Verrenkungen abgesehen, ist die PiS eine nationalkonservative, pragmatische Kraft, die ihre Vorstellungen umsetzen will und dabei reale soziale Probleme bearbeitet. Die EU-Partner sollten auf ökonomischen Pragmatismus setzen, ohne dabei den gesellschaftspolitischen Dialog aus den Augen zu verlieren.

Beginnen wir mit ein paar Zahlen: 2:0 endete das von vielen Polen bejubelte EM-Qualifikationsspiel gegen Deutschland am 11. Oktober 2014. 27:1 gegen Polen lautete das Ergebnis der Abstimmung über die zweite Amtszeit von EU-Rats­präsident Donald Tusk am 9. März 2017. Zwischen diesen beiden Momentaufnahmen findet man viel Aufschlussreiches über unser Nachbarland.

Im fußballverliebten Deutschland war spätestens nach der polnisch-ukrainischen „Euro 2012“ das Bild eines aufstrebenden, sich zügig modernisierenden Nachbarlands in Erinnerung geblieben. Eines verlässlichen Partners, der sich mit Deutschland, Frankreich und den USA aktiv um eine Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts bemühte. Der als einer der wenigen Mitgliedstaaten der EU nicht von der Eurokrise getroffen wurde und ein stabiles Bankensystem aufweist. Und der am Ende mit Donald Tusk den weithin geschätzten Präsidenten des Europäischen Rates stellt.

Und jetzt das: EU-Rechtsstaats­mechanismus, Medien unter Druck, hitzige Auseinandersetzungen um Abtreibungsgesetze, antideutsche Parolen. Geht da ein Vierteljahrhundert Erfolgsgeschichte einem unrühmlichen Ende entgegen? Oder ist das alles nur ein Betriebsunfall? Reihen sich diese Entwicklungen ein in die überall auf der westlichen Welt stärker werdenden illiberalen Tendenzen? Mitunter ist sogar die alarmistische Frage zu hören: Kann die Zukunft der EU mit Polen gelingen?

Wer den Erfolg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) verstehen will, muss zur Kenntnis nehmen, dass diese politische Kraft einen gesellschaftlichen Nerv trifft. Viele Bürgerinnen und Bürger beklagen ungleiche wirtschaftliche Chancen und politische Gestaltungsmöglichkeiten in ihrem Land. Der Wahlsieg der PiS vor zwei Jahren beruhte auf dem Versprechen eines konservativen Wohlfahrtsstaats, der einer Arbeiterschaft, die sich im Transformationsprozess benachteiligt fühlte, „ihre Würde zurückgeben“ sollte; der mehr Bürgerbeteiligung ermöglichen und jene bestrafen sollte, die man für Korrup­tion verantwortlich machte. Kein Wunder also, dass die PiS mit so einem Programm seit Jahren vehemente Unterstützung von der Gewerkschaft Solidarnosc erhält.

Mieses Mikroklima

Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2015 lag die PiS in allen Altersgruppen vorne, allerdings mit beträchtlichen Unterschieden zwischen den Generationen: Das beste Ergebnis erzielte die Partei mit 47,1 Prozent bei den 50- bis 59-Jährigen, das schlechteste mit 26,6 Prozent bei den 18- bis 29-Jährigen. Es ist interessant, diese Zahlen mit dem Protestverhalten bestimmter sozialer Gruppen in den vergangenen zwei Jahren zu vergleichen und sich anzusehen, wer gegen die Reformen im Bereich Justiz, Medien und Bildung, die drohende Verschärfung des Abtreibungsrechts oder Umweltprobleme protestiert. Dabei fällt auf, dass der politisch interessierte Teil der Bevölkerung – rund die Hälfte aller Polen – in drei unterschiedlich große Gruppen aufgeteilt werden kann:

In der Generation der 50- bis 65-Jährigen, also bei jenen, die 1989 jung waren und als realen Bezugspunkt nur die Volksrepublik Polen kennen, ist die Frustration über enttäuschte Wohlstandsansprüche am größten. Die von der Vorgängerregierung so betonten positiven wirtschaftlichen Makrodaten des Landes beim Bruttoinlands­produkt, bei der sinkenden Arbeits­losigkeit und der Integration in den europäischen Markt sind für sie kaum bedeutsam.

Was zählt, ist das miese Mikroklima. Im europäischen Vergleich arbeiten die Polen laut OECD mit einer Jahresarbeitszeit von 1963 Stunden (2016) mit Abstand am längsten (Deutschland: 1371 Stunden). Kleinunternehmer haben unter Regulierungsflut und hohen Steuern, obligatorischen Sozialabgaben und Nebenkosten zu leiden, erzielen aber nur etwa ein Drittel des bundesdeutschen Durchschnittseinkommens. Die Menschen sind angewiesen auf ein ineffizientes öffentliches Gesundheits- und Rentensystem, für das proportional dieselben Sozialabgaben fällig werden wie in Deutschland. Diese Gruppe ist besonders empfänglich für den Vorschlag eines Systemwandels hin zur von Jaroslaw Kaczynski proklamierten Vierten Republik.

Bei den 30- bis 50-Jährigen sowie bei den Über-65-Jährigen ist die größte relative Zufriedenheit zu verzeichnen. Sie stellen die meisten Transformationsgewinner aus der Mittelklasse, die ein ökonomisches Freiheitsverständnis mit einem gemäßigten bis aufgeklärten Konservativismus verbinden. Globalisierung begreifen sie eher als Chance für ihre persönliche Entwicklung denn als Bedrohung. Die Seniorinnen und Senioren kennen im Übrigen das kommunistische Regime aus ihrem Erwachsenenleben und haben zudem teilweise noch eigene Erfahrungen aus der direkten Kriegs- und Nachkriegszeit. So können sie die tatsächlichen Entwicklungsmöglichkeiten ihres Landes realistischer einschätzen als ihre Kinder. Diese beiden Alterskohorten tendieren am stärksten zur Verteidigung bzw. kritischen Verbesserung der so genannten Dritten Republik. Gleichzeitig reagieren sie am häufigsten mit entschiedenem Widerspruch auf den von der PiS forcierten Abbau des Rechtsstaats.

Die Unter-30-Jährigen haben aus den politischen Differenzen zwischen der Generation ihrer Eltern und ihrer Großeltern den Schluss gezogen, dass sich politisches Engagement entweder ohnehin nicht lohne oder dass sowohl die Dritte als auch die Vierte Republik für sie kein interessantes Angebot enthielten. Von der Dritten Republik sind sie enttäuscht, weil die einträglichen Plätze in der Gesellschaft von den Eltern und älteren Geschwistern besetzt sind und für sie nur prekäre Arbeitsverhältnisse übrigbleiben. Die Vierte Republik mit ihren etatistisch-autoritären Tendenzen, dem zur Schau gestellten Klerikalismus und der modrigen Geschichtspolitik entspricht hingegen nicht ihrem Verständnis der schnellen und unverbindlichen digitalen Postmoderne. Viele von ihnen denken ans Auswandern. Wenn sie wählen oder sich politisch engagieren, lassen sie sich überdurchschnittlich stark von Populisten national-liberaler und linker Couleur ansprechen, die einen für polnische Verhältnisse radikalen Systemwechsel predigen. Auch die tatsächlich Rechtsradikalen aus dem „Nationalradikalen Lager“ und der „Allpolnischen Jugend“ sowie Fußballhooligans finden in dieser Altersgruppe überdurchschnittlich viele Anhänger.

Dass sich die Generationen in unterschiedliche Gruppen einteilen lassen, ist politisch an sich kein Problem. Ihre wachsende Entfremdung hingegen schon. Sozialwissenschaftler sprechen sogar von einander feindlich gesonnenen „politischen Stämmen“, die immer weniger in der Lage seien, miteinander zu kommunizieren.

Echte Veränderungen bewirken

Wofür ist die PiS angesichts dieser gesellschaftlichen Teilung bis zu einem gewissen Maße lagerübergreifend gewählt worden? Warum findet sie weiterhin nicht unerhebliche Unterstützung? Wie sieht ihr politisches Programm konkret aus?

Die Wirtschafts- und ­Sozialpolitik ist das Herz des konservativen Modernitätsversprechens der PiS. Sie punktet mit dem neuem Kindergeld und der Ankündigung eines umfassenden Wohnungsbauprogramms. Sogar regierungskritische Experten geben unumwunden zu, dass die PiS als einzige Partei seit 1989 einen enormen Beitrag zur Armutsbekämpfung leistet, gerade im Bereich Kinderarmut. Zudem scheint die niedrige Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau tatsächlich zu steigen.

Über eine umfangreiche Steuerreform einschließlich weitreichender Maßnahmen zur Bekämpfung des organisierten Steuerbetrugs soll viel Geld in die Staatskassen gespült und die zunächst kreditfinanzierte Sozial- und Industrialisierungspolitik gegenfinanziert werden. Erste Erfolge zeichnen sich ab: Das Steueraufkommen wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt und angesichts weiterhin starker Auslandsinvestitionen ist die Wachstums­prognose des Internationalen Währungsfonds für 2017 mit 3,6 Prozent gerade im europäischen Vergleich sehr positiv. Die PiS kann sich mit ihren Maßnahmen als politische Kraft präsentieren, die im Unterschied zur Vorgängerregierung echte Veränderungen auf den Weg bringt und sich nicht ständig darauf beruft, dass Politik die Globalisierung nicht wirklich gestalten könne.

Der nach dem stellvertretenden Premier, Finanz- und Entwicklungsminister Mateusz Morawiecki benannte wirtschaftliche Entwicklungsplan setzt auf Hochtechnologiestandorte, die Stärkung nationaler Champions und die Renationalisierung von Banken, also die Generierung „echt polnischen“ finanziellen und sozialen Kapitals. Er gibt die Richtung einer verantwortlichen, sozial und vor allem regional ausgewogenen Entwicklung des Landes als Antwort auf die so genannte ­Middle Income Trap vor, einer realen Wachstumsgrenze, mit der sich erfolgreiche Transformationsländer konfrontiert sehen. Da in Polen der Beginn der wirtschaftlichen Umgestaltung in die Hochzeit neoliberaler Wirtschafts­theorien fiel, folgte man unter Anleitung von Vizepremier und Wirtschaftsminister Leszek Balcerowicz einem Modell, das auf eine schnelle Öffnung der einheimischen, planwirtschaftlich organisierten Wirtschaft für ausländisches Kapital und Unternehmensformen setzte. Tatsächlich führte der Balcerowicz-Plan in den neunziger Jahren aber zu einem massiven Rückbau der eigenen Industrie.

Infolge dieser Schocktherapie ist Polen heute zwar gut in den europäischen und globalen Markt integriert; ein wachsender Mittelstand ist zudem fähig zu internationalem Engagement. Dennoch weist das Land zu wenig innovative und wachstumsstarke Kernbereiche auf, in denen man selbst die Entwicklungsrichtung vorgeben kann, statt nur verlängerte Werkbank des Westens zu sein (hier ist der Unterschied zu Deutschland besonders groß). Zudem gibt es ernsthafte Probleme im Energiesektor. Dieser bedarf nicht nur eines ausgewogeneren und saubereren Mixes, sondern auch grundsätzlicher Investitionen in die Leitungsinfrastruktur, um weiteres Wirtschaftswachstum fördern zu können.

Den Postkommunismus besiegen

In manchen Politikfeldern erinnert der Kurs dieser Partei an die alte, protektionistisch-­industriell denkende Sozialdemokratie im Westen. Die PiS bleibt zwar dem historischen ­Modell einer traditionellen Volkspartei verhaftet, ist de facto aber ein Bündnis von drei verschiedenen politischen Kräften: der national-identitär und souveränistisch ausgerichteten Mutterpartei (ehemals Porozumienie Centrum), der familienpolitisch traditionalistischen Law-and-Order-Fraktion der Solidarna Polska um Justizminister Zbigniew Ziobro und dem wirtschaftsliberalen Flügel Polska Razem von Vizepremier und Wissenschaftsminister Jaroslaw Gowin. Sie wird deshalb mitunter auch als Vereinigte Rechte (Zjednoczona ­Prawica) ­bezeichnet.

Der Modernisierungs- und Erneuerungsgedanke durchdringt die Argumentation der PiS auch in weiteren wichtigen Politikbereichen. Ein zentraler historischer Bezugspunkt ist dabei der Runde Tisch, den die PiS eher negativ beurteilt, was aus deutscher Sicht verwundern mag. Das nationalkonservative Lager vertritt die These, dass der Kommunismus in Polen nach 1989 durch eine neue politische Form, den „Postkommunismus“, ersetzt worden sei. Dieser sei aus verräterischer Absprache zwischen dem alten Sicherheitsapparat und den sich mehrheitlich aus liberalen Beratern Lech Walesas rekrutierenden neuen Eliten hervorgegangen und habe die demokratische Souveränität und das wirtschaftliche Wohlergehen des Volkes massiv beschränkt.

Eine „reife Demokratie“, wie im Westen üblich, werde erst jetzt von der PiS aufgebaut. Die vergangenen 25 Jahre seien ein Kampf des polnischen Volkes gegen dieses neue Unterdrückungssystem gewesen, das sich auf perfide Weise an der Macht gehalten habe: So sei die Regierung von Jan Olszewski 1992 durch geheimdienstliche Manipulationen gestürzt worden, der Misserfolg der ersten PiS-Regierung 2005 bis 2007 sei auf massive Behinderungen durch das von „postkommunistischen“, korrupten Richtern besetzte Verfassungsgericht zurückzuführen. Schließlich sei „das System“ 2010 nicht einmal vor der Beseitigung des Staatspräsidenten Lech Kaczynski zurückgeschreckt, der bei dem Flugzeug­unglück am 10. April in Smolensk zusammen mit seiner Frau und fast 100 weiteren Würdenträgern des Landes ums Leben kam. Erst 2015 habe dann endlich die Demokratie in Polen gesiegt.

In diesem Kontext müssen auch die Maßnahmen der Regierung im Bereich Justiz und Medien interpretiert werden. Gegen Polen läuft ein Rechtsstaatsverfahren bei der Europäischen Kommission wegen der Eingriffe der PiS in das Justizsystem. Das Verfassungsgericht haben sie bereits unter ihre politische Obhut gebracht, nun geht es um den Obersten Gerichtshof. Ausgelöst wurden die Auseinandersetzungen um das Verfassungsgericht, nachdem die Vorgängerregierung noch kurz vor der Wahl im Herbst 2015 fünf statt nur drei freiwerdende Posten neu besetzt hatte, um der PiS zuvorzukommen (zwei der fünf Positionen wurden erst im Dezember 2015, also nach der Parlamentswahl, vakant). Daraufhin wählte die PiS nach ihrer Regierungsübernahme nicht etwa zwei, sondern auch gleich fünf neue Richter und änderte zudem die Verfahrens­regeln für die Arbeit des Gerichts – womit dessen Arbeit de facto lahmgelegt wurde.

Justiz und Medien für „das Volk“

Die strukturellen Umgestaltungen gehen allerdings viel tiefer. Die Regierung hat den Posten des Generalstaatsanwalts mit der Funktion des Justizministers verbunden. In seiner Doppelfunktion drängt Zbigniew ­Ziobro wie schon vor zehn Jahren auf eine grundlegende Reform des gesamten Justizapparats. Die Staatsanwaltschaft wurde neu strukturiert und viele politisch nicht genehme Staatsanwälte wurden auf entlegene Posten versetzt. Ähnliches geschieht nun mit den Amtsgerichten, deren Direktionen demnächst direkt vom Justizminister eingesetzt werden sollen.

Wie die Entwicklung bei den zunächst durch ein Veto von Staatspräsident Andrzej Duda ausgebremsten Reformen des Landesgerichtsrats und des Obersten Gerichtshofs weitergeht, bleibt abzuwarten. Vermutlich wird die durch großflächige Straßenproteste und verdeckte Einflussnahme der katholischen Bischöfe auf Duda ausgelöste politische Dynamik nicht ohne Folgen auf die Machtarithmetik in der PiS bleiben.

Parallel und in ähnlichem Tempo wie bei der Justiz hat die Regierung ein Reformpaket vorgelegt, das die öffentlich-rechtlichen Medien unter ihre Kontrolle bringen sollte. Für die Gestaltung der Berichterstattung in den Kanälen des öffentlichen Fernsehens und Rundfunks ist ihr das auch umfassend gelungen. Im Laufe der vergangenen beiden Jahre wurden fast alle politisch nicht genehmen Journalisten entfernt – oder sie sind aus Protest über eine Linie, nach der Regierungspolitik unkritisch begleitet werden soll und Kritik als „polenfeindlich“ diffamiert wird, selbst gegangen. Der Erfolg dieser Maßnahmen ist beschränkt. Die Einschaltquoten der Öffentlichen, besonders der Nachrichtenprogramme, sinken wegen der einseitigen Berichterstattung. Zudem hat Polen ein breites Netz privater Medien im Bereich Fernsehen, Radio und Presse, und selbst in den kommerziellen Medien wächst der Anteil der politischen Berichterstattung.

Der PiS geht es darum, die angeblich korrupten „Postkommunisten“ aus allen politisch relevanten Schaltstellen zu vertreiben. „Das Volk“ soll Einfluss auf Richterschaft und Medien haben. Was aber, wenn größere Bevölkerungsteile angesichts der immer stärker als Überforderung, Kontrollverlust und Gefahr empfundenen Herausforderungen der Globalisierung gar nicht mehr ermahnt, sondern nur noch gemeinschaftlich abgesichert werden wollen? Dies ist eines der Beispiele dafür, dass sich die heutigen Parteiensysteme immer weniger am sozioökonomischen Rechts-links-Schema, sondern eher entlang des kulturellen Identitätsparadigmas einer offenen versus geschlossenen Gesellschaft orientieren.

Die Auseinandersetzungen mit dem Verfassungsgericht brachten viele Menschen auf die Straße. Der Protest ist mittlerweile nicht schwächer geworden, nur weil er andere Formen angenommen hat. Zunächst wurde Widerspruch vor allem durch das spontan entstandene Komitee für die Verteidigung der Demokratie (KOD) getragen. Dieses knüpft an die demokratische Opposition der 1970er und 1980er Jahre an und konfrontiert offensiv das Rechtsstaatsverständnis der PiS. Auch wenn das KOD zwischenzeitlich wegen seiner Konzentration auf die liberalkonservative Mitte und ernsthafter interner Querelen viel von seinem Schwung eingebüßt hat, kann seine positive Rolle nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sein Verdienst ist es, ein Sprachrohr für den Protest der normalerweise politisch nicht besonders ­aktiven Mittelschicht und der Menschen in kleinen und mittleren Städten gewesen zu sein.

In Polen ist der Gradmesser für gesellschaftspolitische Modernisierung die noch zu vollziehende Trennung von Staat und Kirche. Nirgendwo sonst zeigt sich der moralische Führungsanspruch des Episkopats so eindringlich wie bei den sexuellen und reproduktiven Rechten von Frauen, sprich: bei der Sexualerziehung und der Abtreibungsfrage. Ein Abbruch ist nur erlaubt, wenn die Schwangerschaft aus einer Straftat hervorging, die Gesundheit oder das Leben der Mutter direkt bedroht sind oder der Fötus schwer geschädigt ist. Dieser 1993 gegen den gesellschaftlichen Mehrheitswillen erzwungene „Abtreibungskompromiss“ gilt neben dem Religionsunterricht in den Schulen als eines der wichtigsten Symbole für den weitreichenden politischen Einfluss der polnischen Kirche.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich viele Menschen an den Status quo gewöhnt. Eine große Mehrheit von etwa 80 Prozent der Bevölkerung hält sich stillschweigend einfach nicht mehr an die Vorgaben ihrer männlichen Kirchenoberen beim Thema Abtreibung. Nach Schätzungen mehrerer NGOs nehmen pro Jahr über 100 000 Polinnen Abtreibungen in privaten Kliniken vor, mit aus dem Ausland eingeführten Pillen oder bei Reisen in die Slowakei, nach Tschechien oder Deutschland. Die gegensätzlichen Forderungen nach einem totalen Verbot beziehungsweise einer Liberalisierung der Abtreibung werden nur von radikalen Minder­heiten getragen.

Eher gaullistisch als föderal

Es wäre ein Fehler, die PiS in eine ­europafeindliche Ecke zu stellen. Vielmehr sollte man einfach zur Kenntnis nehmen, dass Polen im Allgemeinen und die PiS im Besonderen eigene Vorstellungen von europäischer Kooperation und Integra­tion hegen.

Das Verhalten der PiS auf internationalem Parkett ist für die Interessen Polens in der Tat eher kon­traproduktiv. Dennoch sollte es jeder Gesellschaft, die zur EU gehört, möglich sein, ihre eigene Interpretation europäischer Solidarität und Souveränität zu diskutieren und zu entwickeln. Die PiS kann sich eher mit einem gaullistischen als mit einem föderalen Europa anfreunden – das heißt Konzentration auf den Binnenmarkt, Zurückfahren der Einflussmöglichkeiten der Kommission und breitere Spielräume für staatliche wirtschaftspolitische Interventionen. Ganz bestimmt ist die gegenwärtige Regierung weiterhin an einer verlässlichen, gemeinschaftsorientierten EU-Politik interessiert, um ihre wirtschaftspolitischen Ziele zu erreichen. Denn in keinem anderen Rahmen könnte das Land seine ehrgeizige Industrialisierungspolitik realisieren.

Aus diesen Gründen erreichen die Zustimmungsraten der Polen zur EU-Mitgliedschaft weiterhin Spitzenwerte, wenn man sie mit anderen europäischen Ländern vergleicht. Das ist sehr aussagekräftig, weil es vor beinahe 15 Jahren sehr wohl erheblichen Widerstand gegen den Beitritt gab und das Referendum 2003 nur mit knapper Mehrheit gewonnen wurde. Daher ist es überaus wichtig, dass sich die europäischen Partner in konkreten Fragen auf ökonomischen Pragmatismus konzentrieren, ohne natürlich das Gespräch über gesellschaftspolitische Vorstellungen aus den Augen zu verlieren.

Jaroslaw Kaczynski begreift Polen als slawisch-katholische Kulturnation. Daher die Fixierung auf nationale Souveränität, die latente Abneigung gegen jedwede Art von außen organisierter Interessen und die unterschwellige Angst vor kultureller Überfremdung. Und daher auch die Tendenz, eine repräsentative Mehrheitsdemokratie in eine Demokratie der moralisch gerechtfertigten Mehrheit umzumünzen.

Im Gegenzug sollte aber auch in Deutschland das Thema europäische Solidarität kritisch reflektiert werden. So ist das von Deutschland vorangetriebene Pipelineprojekt Nord Stream 2 äußerst problematisch, hat es doch, aus völlig verständlicher polnischer Sicht, die Einigkeit europäischer Energiepolitik stark erschüttert. Natürlich ist Energie eine Frage des Preises – aber eben auch von Sicherheit und gegenseitigem Vertrauen. Eine starke, dynamische und bürgernahe EU muss kritische Stimmen ernster nehmen und darf sie nicht pauschal als Populismus abtun. Wenn Deutschland und Polen auf Augenhöhe ihre unterschiedlichen Interessen in Einklang bringen, hat die EU gute Chancen, ihre gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern.

Von ihren ideologischen Verrenkungen abgesehen, ist die PiS in vielen Bereichen eine durchaus pragmatische und interessengeleitete politische Kraft, die ihre Vorstellungen von organischer gesellschaftlicher Organisation umzusetzen sucht und dabei reale soziale Probleme bearbeitet – statt Probleme aus purem Machterhalt nur aufzugreifen oder zu inszenieren, wie das so genannte Populisten und Oli­garchen tun. Daher passt das derzeit in Europa ziemlich inflationär verteilte Etikett „rechtspopulistisch“ nur bedingt auf die PiS. Sehr wohl aber ist sie eine wohlfahrtsstaatlich orientierte, nationalkonservative Partei mit autoritären Zügen.

Keine echten Rivalen

Die Stärke der PiS war und ist die Schwäche der Opposition. Auch hat sie sich erfolgreich als konstruktive, mutig handelnde und den Menschen zugewandte Kraft präsentieren können und die Opposition als eigennützige Störenfriede dargestellt. Die vorherige Regierungspartei PO hat sich nach internen Führungskämpfen inzwischen zwar einigermaßen erholt. Trotz des Disputs um die Rechtsstaatlichkeit sowie verschiedener Skandale der Regierung im Bereich Verteidigung, Ämterbesetzung und Medienpolitik hat sie es laut Umfragen jedoch noch nicht geschafft, der PiS dauerhaft gefährlich zu werden. Angesichts ihrer eigenen Regierungsbilanz von acht Jahren erscheint der Versuch, sich als einzig effektive Verteidigerin des Rechtsstaats zu präsentieren und eine Aufrechterhaltung, ja sogar den Ausbau aller sozialen Wohltaten der PiS zu versprechen, nicht besonders glaubwürdig.

Das linke Spektrum ist weiterhin zersplittert. Und es wäre vor allem sozialpolitisch schwer, die PiS links zu überholen. Im rechten politischen Spek­trum steht für die PiS in Gestalt von Kukiz’15 ein potenzieller Koalitionspartner bereit. Die Partei wird vom landesweit bekannten Rockstar Pawel Kukiz geführt, der den Populismus der italienischen 5-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo mit dem basisradikalen Nationalismus und Antigenderismus der amerikanischen Tea ­Party verbindet. Bei den Parlamentswahlen 2015 war Kukiz’15 gerade unter Jungwählern mit 20 Prozent erfolgreich.

Somit hat die PiS gute Chancen, auch ohne die immer wieder in Erwägung gezogenen Eingriffe in das Wahlsystem die Parlamentswahlen in zwei Jahren zu gewinnen. Allerdings dürfte die weitere Entwicklung nicht unerheblich von der Rolle der Lokal- und Regionalpolitik abhängen. Deren Bedeutung ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewachsen, was auch anhand der im Sommer 2017 landesweit stattfindenden Proteste gegen den weiteren Abbau des Rechtsstaats sichtbar wurde.

Angesichts des im Vergleich zu Deutschland eher zentralistisch als föderal organisierten Staatsaufbaus stellt sich in Polen immer drängender die Frage, ob zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik mehr staatlicher Lenkung oder größerer regionaler Selbstständigkeit bedarf. Für ersteres plädiert die PiS, für letzteres treten die Bürgermeister und Stadtpräsidenten ein. Sie haben sich bereits zu einem parteiübergreifenden eigenen Bündnis gegen die Pläne der Zentralregierung zusammengeschlossen. In den im Herbst 2018 anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen wird sich zeigen, ob sich die aktive demokratische Führungsrolle bestimmter Bürgermeister (wie in Posen, Krakau, Danzig und Slupsk) in eine breite Unterstützung für rechtsstaatsorientierte Koalitionen übersetzen wird.

Aber 2018 wird noch aus einem weiteren Grund spannend: Am 11.11.2018 wird das unabhängige Polen 100 Jahre alt. Was geschichtspolitische Debatten um die Feierlichkeiten noch freizusetzen vermögen, ist schwer abzusehen.

Gert Röhrborn ist Programmkoordinator Demokratie und Menschenrechte in der Heinrich-Böll-Stiftung in Polen.

Irene Hahn-Fuhr ist Direktorin der ­Heinrich-Böll-Stiftung in ­Polen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 61 - 69

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