Nuklearmacht Europa: Mission Impossible
Mit dem Vorschlag des Aufbaus eines europäischen Nuklearwaffenarsenals verhält es sich wie mit Graf Dracula: Man kriegt ihn einfach nicht los. Kaum hält man ihn für besiegt, steigt der Untote erneut aus seinem Sarg. Dieses Mal ist es Herfried Münkler, der Europa unter einen eigenen nuklearen Schutzschirm stellen will. Wie realistisch ist das?
Zum eigenen Schutz und der Abwehr der Gefahren einer zerfallenden Weltordnung muss Europa einen entscheidenden neuen Schritt gehen: hin zu einer europäischen Abschreckungsstreitmacht. Das fordert Herfried Münkler im Interview mit dem Stern. Die Politik der nuklearen Nichtverbreitung sei durch Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine ohnehin desavouiert, so der emeritierte Politikprofessor der Berliner Humboldt-Universität.
So weit, so gut. Doch was Münkler als Gebot des politischen Realismus auszugeben versucht, ist ganz und gar unrealistisch. Denn es wird noch auf lange Zeit keine „europäische nukleare Option“ geben. Die Vorstellung, ein durch wirtschaftliche Krisen und populistische Versuchungen angeschlagenes Europa könne nun ausgerechnet die härteste Nuss einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik knacken, verkennt die aktuelle Lage gleich mehrfach.
Es gibt keinen nuklearen Konsens
Erstens, es gibt innerhalb der EU keinen nuklearen Konsens, sondern vielmehr einen massiven Dissens über die Legitimität nuklearer Abschreckung. Schweden hat sein anti-nukleares Kokettieren inzwischen aufgegeben und strebt in die NATO, aber die neutralen Staaten Irland und Österreich versuchen weiterhin, nukleare Abschreckung bei jeder Gelegenheit zu diskreditieren. Damit fällt die EU als „Träger“ einer solchen europäischen nuklearen Option aus.
Zweitens, die britischen und französischen Atomwaffenarsenale eignen sich kaum als Keimzelle einer europäischen Atomstreitmacht. Die britischen Nuklearstreitkräfte, die auf der engen Zusammenarbeit mit den USA beruhen, stehen der EU seit dem „Brexit“ nicht mehr zur Verfügung. Für Stilübungen in Sachen europäische Selbstbehauptung werden die Briten ihr Arsenal kaum zur Verfügung stellen. Und Frankreichs Nuklearwaffen sind – ebenso wie die Großbritanniens – klassische Sanktuariumswaffen. Sie schützen zuerst und vor allem Frankreich. De Gaulle brachte es seinerzeit auf den Punkt: „Le nucléaire ne se partage pas“ – das Nukleare lässt sich nicht teilen.
Münkler ist sich dieser begrenzten Abschreckungswirkung der britischen und französischen Arsenale zwar bewusst, glaubt aber, dieses Glaubwürdigkeitsdilemma durch eine EU-Streitmacht überwinden zu können. Doch die für ein solches Vorhaben zwingend erforderliche Konvergenz der politischen und militärischen Strategien der großen europäischen Staaten ist nirgendwo zu erkennen.
Ein roter Knopf für viele?
Drittens, aufgrund ihrer enormen Zerstörungswirkung bleibt die Befehlsgewalt über den Einsatz von Nuklearwaffen der nationalen politischen Führung vorbehalten, wie etwa dem amerikanischen oder französischen Präsidenten. Bildlich gesprochen: Es gibt nur einen Finger am Abzug, nicht mehrere. Münklers Vorschlag, „einen gemeinsamen Koffer mit rotem Knopf“ zwischen den großen EU-Ländern „wandern“ zu lassen, trägt vor diesem Hintergrund eher humoristische Züge. Was geschieht beispielsweise, wenn Litauen von Russland angegriffen würde, die Zuständigkeit für den roten Knopf aber rotationsbedingt gerade beim weit entfernten Spanien läge? Das Schicksal der sogenannten „Multilateral Force“ (MLF) aus den 1960er Jahren, bei der man durch nuklear bewaffnete Schiffe mit multinationaler Besatzung so etwas wie die Vergemeinschaftung der nuklearen Abschreckung suggerieren wollte, spricht diesbezüglich Bände. Die Konzeption erwies sich als politisch, militärisch und finanziell so problematisch, dass sie nie umgesetzt wurde.
Viertens, Nuklearwaffen sind außerordentlich teuer, denn sie verlangen nach einer komplexen Infrastruktur. Als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind Frankreich und Großbritannien bereit, diese Kosten zu tragen. Aber werden die anderen europäischen Länder, die nach wie vor ihre nationalen Rüstungsindustrien protegieren, einen großen Teil ihrer Verteidigungshaushalte in ein gemeinsames Nuklearprogramm investieren, wenn am Ende über den Einsatz dieses Arsenals im Konsens entschieden werden müsste – oder, wie im oben genannten Beispiel, von der Regierung jenes Landes, das gerade den nuklearen Vorsitz führt?
Internationale Kontroversen
Die internationalen Konsequenzen einer europäischen Nuklearmacht wären erheblich. Die Tatsache, dass das nukleare Nichtverbreitungssystem den Kernwaffenbesitz auf spezifische Nationen beschränkt und folglich keine multinationale Nuklearmacht vorsieht, ist dabei noch das kleinste Problem. Für Deutschland allerdings, das aus guten Gründen auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen verzichtet hat, wäre eine solche Entwicklung höchst problematisch. Es würde sich sofort dem Verdacht ausgesetzt sehen, den „Griff nach der Bombe“ zu wagen. In vielen europäischen Staaten würde eine Diskussion um eine europäische Nuklearmacht zudem heftige politische Kontroversen auslösen. Europa würde aus dieser Debatte nicht stärker, sondern schwächer hervorgehen.
Moskau dürfte sich freuen. Es hätte dann mit einem Europa mit byzantinisch anmutenden nuklearen Befehlsstrukturen zu tun, vor dem man sich nicht fürchten müsste. Die amerikanische Abschreckung hingegen, die Moskau traditionell sehr ernst nimmt, stünde für Europa dann nicht mehr zur Verfügung. Denn wenn Europa die nuklear-strategische Autonomie anstrebt, wird Washington – zumal ein Präsident vom Schlage eines Donald Trump – nicht mehr in die „erweiterte Abschreckung“ für den alten Kontinent investieren. Für einen Präsidenten, der ohnehin nur widerwillig am Bündnis festhält, wäre eine solche europäische Initiative der perfekte Vorwand, um ganz aus dem transatlantischen Risikoverbund auszusteigen.
Der politische Realist Herfried Münkler ist an der nuklearen Realität gescheitert. Seine Vorschläge sind ein weiteres Beispiel für die tiefe Kluft zwischen akademischer Reflektion und den Möglichkeiten und Grenzen von Sicherheitspolitik. Münkler kann sich damit trösten, dass er nicht allein ist. So schlug der prominente amerikanische Historiker John Lewis Gaddis in den Wirren des deutschen Einigungsprozesses 1990 vor, das wiedervereinigte Deutschland möge sowohl Mitglied der NATO als auch des Warschauer Paktes werden. Später charakterisierte er seinen skurrilen Vorschlag humorvoll als einen Beleg für die Maxime, Historiker täten besser daran, Vergangenes zu kommentieren, anstatt sich mit radikalen Vorschlägen zur aktuellen Politik zu exponieren. Auch manchen Politikwissenschaftlern stünde etwas weniger Originalität hin und wieder gut zu Gesicht.
Internationale Politik, online exklusiv, 3. Dezember 2023