(Noch) keine Krisengewinnler
Bislang konnten Populisten die Corona-Pandemie nicht für ihre Zwecke nutzen. Wer will, dass das so bleibt, sollte für eine krisenfestere Globalisierung werben.
Dass die Corona-Krise eher ein Trendbeschleuniger denn ein Wendepunkt der Geschichte sei, ist eine weithin rezipierte und oft akzeptierte Hypothese, die auf Richard Haass vom Council on Foreign Relations zurückgeht. Die erodierende internationale Ordnung, der Rückzug der USA als globale Führungsmacht, die sich verschärfende Rivalität der Großmächte, die Weltwirtschaft, die den Höhepunkt der Globalisierung überschritten hat – all diese Trendlinien würden mit fortschreitender Pandemie nur noch offenkundiger.
Doch neuerdings zeigen sich auch Diskontinuitäten, die nicht zur These von der Krise als Trendbeschleuniger passen. Die Politik der Krisenbewältigung scheint zumindest einen der großen Trends unserer Zeit zu stören: Der globale Aufstieg der Populisten wird nicht beschleunigt, sondern gebremst. Die Bewegung verliert an Momentum. Die bekannten Argumentationsfiguren der Populisten verfangen nicht mehr so leicht. Ihre Umfragewerte fallen in diversen Ländern. Wahlsiege sind plötzlich schwerer zu erringen.
Wo sie regieren, sind ihre Ergebnisse bestenfalls durchwachsen. Ganz klar: Für Populisten ist dies keine gute Krise. Es mag zu früh sein, um von einem Wendepunkt der Geschichte zu sprechen. Allerdings zeigt die Analyse dieser Schwierigkeiten sehr wohl die Schwächen und Verwundbarkeiten der Populisten auf. Und zugleich bieten sich ihnen Chancen während der nächsten Phase der Krise.
Eigentlich hatte den Populisten die These von der Krise als Beschleuniger gut gefallen, weil sie ihnen den Turboaufstieg verhieß. Die Krise eröffnete die Chance, durch Zuspitzung der gesellschaftlichen Polarisierung und das Schüren des Kulturkampfs weiter an Boden zu gewinnen. Die neue „nationalistische Internationale“ würde eine Alternative anbieten zum Globalismus, als den Populisten internationale Zusammenarbeit gern denunzieren. Wo sie schon regieren, könnte mithilfe des Ausnahmezustands die eigene Macht gefestigt und der Antipluralismus schneller durchgesetzt werden. Oppositionellen Populisten böte die Krise die Chance, das angeblich schwache und korrupte Agieren der etablierten Regierungseliten zu exponieren.
Dieser Plan hat Vorbilder. Im Laufe der Jahrhunderte haben es die Konkurrenten herrschender Ordnungen immer wieder verstanden, Katastrophen und Pandemien für sich zu nutzen. Die große Pest des 14. Jahrhunderts diskreditierte die herrschenden Eliten, die Priester und Intellektuellen, sogar die Gesetze und die Rechtstheorien, auf denen sie fußten. Jahrhunderte später löste die Finanzkrise von 2008 eine Welle des Anti-Establishment-Populismus von rechts wie von links aus. Kein Wunder also, dass den populistischen Strategen die Corona-Pandemie zunächst als großartige Chance erschien. Wie das Magazin National Review resümierte, seien vor allem Konservative nunmehr „skeptischer gegenüber China“ und „misstrauischer gegenüber unkontrollierten Menschen-, Kapital- und Warenströmen über Grenzen hinweg“.
Diese Beobachtung wurde in den globalen Echokammern der Bewegung überall wiederholt und lokal angepasst. Alice Weidel, Fraktionsvorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD) im Bundestag, machte für die Verbreitung des Virus das „Dogma der offenen Grenzen“ verantwortlich. US-Präsident Donald Trump nannte die Krankheit das „Wuhan-Virus“, beschuldigte China, es absichtsvoll exportiert zu haben und re-interpretierte damit eine Pandemie als Angriff auswärtiger Feinde. Die brasilianische Regierung machte die „Rückkehr des kommunistischen Albtraums“ in Gestalt eines „globalistischen Projekts“ als Schuldigen aus, wie Außenminister Ernesto Araujo sagte. Er nannte Covid-19 das „Comunavirus“. Es sei ein Geschwisterchen des „Klima-Alarmismus“, der „Gender-Ideologie“, des „Immigrationismus“, des „Rassismus“ und des „Scientizismus“.
Ist der Autoritarismus überlegen?
Wo der Nationalstaat solch vermeintlich übermächtigen Kräften zum Opfer zu fallen droht, brauchen die Bürger Schutz, nicht vor dem Virus, sondern vor dem „Globalismus“, den die Staats- und Regierungschefs der populistischen Internationale denn auch bereitwillig anboten. Ihnen gefiel die anfangs kursierende Theorie – vom chinesischen Propagandaapparat in die Welt gesetzt –, wonach der Autoritarismus der Demokratie im Umgang mit einer Pandemie überlegen sei. Denn diese Überlegenheit setzt Notstandsvollmachten voraus und lässt Gewaltenteilung entbehrlich erscheinen. Regierungschefs wie Aleksandar Vučić in Serbien, Narendra Modi in Indien oder Viktor Orbán in Ungarn folgten diesem Gedanken nur zu gern. Wie der „Pandemic Backsliding Index“ der Universität Göteborg zeigt, ergriffen fünf von sechs populistischen Regierungen Maßnahmen, die demokratische Institutionen gefährden.
Solange Populisten innerhalb des demokratischen Systems agieren und Wahlen gewinnen wollen, steht zu vermuten, dass sie nicht mit autoritären Herrschern verwechselt werden wollen. Doch die offene Sympathie für Autokraten ebenso wie für offen autokratisches Gebaren hat diese Grenze während der Pandemie porös gemacht. Die ideelle Verbrüderung hat ihren Preis.
China, die weltgrößte Diktatur, war nach anfänglicher Vertuschung erfolgreich bei der Eindämmung der Pandemie. Russland und der Iran, ebenfalls autokratisch regiert, wirkten hingegen hilflos, obwohl doch gerade in Autokratien das Wort eines Herrschers für gewöhnlich ausreicht, um alle Ressourcen des Staates zu mobilisieren.
Für Populisten muss es eine Überraschung gewesen sein, dass gerade Länder mit komplexen liberal-demokratischen Regierungssystemen, mehreren Machtzentren, aktiver Opposition und unabhängiger Justiz während der ersten Welle der Pandemie bemerkenswert wirkungsvoll agiert haben, sogar oft besser als illiberale oder gar autoritäre Staaten. Eine Forschergruppe um Carl Benedict Frey von der Universität Oxford hat dieses Phänomen in 111 Ländern untersucht. „Bürger in Demokratien“, so Frey und seine Co-Autoren, „halten sich eher an Regeln, die ihre Regierungen festlegen“, während „politische Unterdrückung die Bereitschaft zur Zusammenarbeit verringert“. Alle Macht der Welt reicht eben nicht aus, Menschen zum Händewaschen zu zwingen.
Die Erfolgsbilanz regierender Populisten ist jedenfalls höchstens durchwachsen. Während Viktor Orbán und Recep Tayyip Erdoğan die administrativen Herausforderungen der Pandemie noch halbwegs kompetent meisterten, scheiterten Jair Bolsonaro und Donald Trump krachend. Stattdessen waren gesellschaftliches Vertrauen und Bürgersinn, Verantwortungswille des Einzelnen in Verbindung mit einem kompetenten Staatsapparat und einer glaubwürdigen politischen Führung die Ingredienzen, die zusammen beeindruckende Resultate beim Kampf gegen die erste Welle der Pandemie zeitigten.
Die inkonsistente Verwaltungspraxis ihrer regierenden Frontleute hat den Populisten gewiss geschadet. Noch schädlicher war allerdings das verblüffende Wechselspiel ihrer Argumentation: Wo sie an der Regierung waren, sahen sie in staatlicher Allkontrolle die Lösung und nutzten die Pandemie zur Machtkonsolidierung; wo sie in der Opposition waren, gerierten sie sich als Libertäre. Angesichts eines angeblich übergriffigen Staates traten sie als Kreuzritter der bürgerlichen Freiheiten auf.
In Deutschland entdeckte die AfD, ansonsten gern in der Rolle der Vorkämpferin für Recht und Ordnung, ihre bürgerlich-liberale Ader und kritisierte die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus als unverhältnismäßige Verletzung von Grundrechten. Matteo Salvini, Anführer der italienischen Lega, bezeichnete Italiens Mitte-links-Regierung als „autoritär“. Das hinderte ihn aber nicht daran, gleichzeitig seine Bewunderung für Orbáns Entscheidung zu äußern, Ungarns Parlament lahmzulegen und die Macht in den eigenen Händen zu konzentrieren.
Derlei geistige Akrobatik ist nicht einmal eine Spezialität Salvinis. US-Präsident Trump beherrscht diese Kunst perfekt. Zur selben Zeit, da er zusammen mit seinen Kabinettsmitgliedern erklärte, er unterstütze die Anordnung, zu Hause zu bleiben, Geschäfte zu schließen und Abstand zu halten, mobilisierte er die Bürger, im Namen der Freiheit gegen eben jene Politik zu protestieren. Und als Trump schließlich selber an Corona erkrankte, wollte er das als Folge der Pflichterfüllung, nicht der Unvorsichtigkeit verstanden wissen.
Inmitten dieser intellektuellen Verwirrung war es nur konsequent, dass die Populisten sich nicht einmal einigen konnten, ob das Virus wirklich existiere – und, falls ja, ob es gefährlich sei und was dagegen zu tun sei. War es vielleicht, wie Trump mutmaßte, ein von den Demokraten erfundener „Schwindel“, um ihn politisch zu schwächen? Oder war es doch kein Schwindel, sondern eine Gefahr, „Wuhan-Virus“ getauft, also von den Chinesen entwickelt, um den USA zu schaden? Oder war es vielleicht am Ende doch harmlos, sodass es „wie ein Wunder“ verschwinden würde? Wie sollte irgendein Anhänger der populistischen Bewegung sich einen Reim darauf machen, wenn sogar der Oberpopulist der Welt, Donald Trump, zwischen den Optionen schwankte wie ein Fähnchen im Wind?
Flucht in die Verschwörungslust
Derart verwirrt, wurden die populistischen Parteien zu Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker bis hin zum QAnon-Kult. Statt Schwäche und Korrumpierbarkeit von Regierungseliten sowie Voreingenommenheit von Wissenschaftlern zu entlarven, deckte die Pandemie die Verschwörungslust der Populisten auf, ihre Flucht in „alternative Wahrheiten“, ihre Verachtung für die kleinen Leute, ihre Ignoranz gegenüber der Macht des sozialen Vertrauens. Es funktionierte nicht einmal das, was sonst immer zu gehen scheint: der Kulturkampf. Gesichtsmasken als Symbole der Feigheit und des kulturellen Elitismus zu bezeichnen – wie es Bolsonaro, Salvini und Trump taten –, vermochte nur die loyale Fangemeinde zu mobilisieren. Für alle anderen offenbarte diese Taktik die gefährliche Neigung der Bewegung, unkalkulierbare Risiken für das Leben anderer einzugehen.
Das Versagen der Populisten hat im liberaldemokratischen Lager euphorische Reaktionen hervorgerufen. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach für viele, als sie im Juli sagte, die Pandemie zeige „dem Fakten leugnenden Populismus seine Grenzen auf“. Der britische Autor Peter Pomerantsev sah in der Pandemie „einen Moment der Hoffnung“, da Menschen, wie er schreibt, nicht dazu neigten, „für eine Politik zu stimmen, die sie umbringen könnte“ (IP 4/2020). Wie die polnischen und amerikanischen Präsidentschaftswahlen zeigen, können Wahlerfolge, die zuvor gewiss schienen, plötzlich auf Messers Schneide stehen. Haben die Ereignisse also Richard Haass’ Theorie von der Pandemie als Beschleuniger der Geschichte widerlegt? Werden die Wähler jene Populisten, die in Verantwortung versagt haben, aus dem Amt jagen? Ist die intellektuelle Krise der Bewegung ein Vorbote ihres allmählichen Verschwindens?
Bei vorschnellen Antworten ist Vorsicht geboten. Womöglich behält der Ideengeschichtler Jan-Werner Müller recht, der annimmt, die Demaskierung von Inkompetenz werde nicht ausreichen, um die Populisten bedeutungslos zu machen. Schließlich seien ihnen noch nie „die Sündenböcke ausgegangen“. Die Bewegung werde nicht „magisch hinweggefegt“ werden, bevor nicht die Ursachen ihres Aufstiegs beseitigt seien, warnt Rosa Balfour von Carnegie Europe.
Tatsächlich könnte die Corona-Krise den Populisten eine Art zweites Leben schenken, nämlich genau dann, wenn sie die Chancen ergreifen, die ihnen die nächste Phase der Krise bieten wird. Im Herbst und Winter steigende Infektionszahlen machen die dauerhafte Abwägung zwischen dem Vertrauen in staatliche Restriktionen oder in bürgerschaftliche Reife notwendig. Sollte aber relativ bald ein Impfstoff zur Verfügung stehen, wird die Gesundheitskrise abklingen, während die Wirtschaftskrise andauert. Schon jetzt vertieft die virusbedingte Rezession wirtschaftliche und soziale Gräben. Sie schafft damit Raum für jene politischen Kräfte, die von Spaltung und Polarisierung leben. Die Populisten, besonders in Opposition, brauchen sich also nur treu zu bleiben und argumentieren, dass gut gepolsterte Regierungseliten sich nur um sich selbst kümmerten: Darum werde „das Volk“ allein durch die Populisten angemessen vertreten.
Größere Resilienz
Theoretisch ist die Rückkehr zu Freihandel sowie Reise- und Investitionsfreiheit der schnellste Weg zu wirtschaftlicher Erholung. Aber es ist durchaus möglich, dass sich – wie George W. Bushs ehemaliger Berater David Frum argumentiert – „die Notmaßnahmen von heute zu den institutionalisierten Regeln von morgen verfestigen“. Diverse Länder werden nicht länger von so hohen Einfuhren abhängig sein wollen und lange Listen von Produkten definieren, die im eigenen Land produziert werden sollen. Einige dieser Maßnahmen mögen unvermeidlich sein. Insbesondere bei medizinischen und pharmazeutischen Produkten geht es darum, die Resilienz für den Krisenfall zu verbessern. Globale Lieferketten, die auf einer „Just in time“-Produktion basieren, haben sich als wenig schockresistent erwiesen.
Tatsächlich kann sich die Welt eine krisenanfällige Version der Globalisierung nicht leisten. Angemessene Redundanz durch Vorratshaltung besonders kritischer Güter sowie Rückgriff auf verschiedene Anbieter werden die Resilienz erhöhen. Diese Art von „neuer Vorsorglichkeit“, wie es Pascal Lamy nennt, der ehemalige Generaldirektor der Welthandelsorganisation, ist keineswegs mit Protektionismus zu verwechseln. Ersteres will die Globalisierung widerstandsfähiger machen, Letzteres will die Globalisierung im Namen der Souveränität einhegen und letztlich zerstören.
Die Populisten werden die nächste Phase der Krise nutzen, um für die Entkopplung von Wirtschaftsräumen mit dem Ziel des ökonomischen Isolationismus zu werben. Sie dürften argumentieren, der einzige Weg zu einer stabilen Wirtschaftsordnung und zugleich der einzige Weg, Pandemien zu verhindern, sei die De-Globalisierung: Mauern bauen, Reisen einschränken, Einwanderung minimieren, Handel reduzieren, Produktion in die Heimat zurückverlegen. Das Endziel ist Autarkie. Das wollten schon die Nationalisten der 1930er Jahre, allen voran die deutschen Nationalsozialisten, mit den gut dokumentierten Ergebnissen.
Angesichts dieser Vorgeschichte sollte es den liberalen Internationalisten relativ leichtfallen, das Argument für eine Rückkehr zur globalen Offenheit zu gewinnen. Doch das antipopulistische Lager ist zersplittert. Einige haben den „progressiven Protektionismus“ als eine linke und grüne Version des „taking back control“ entdeckt, also der Rückgewinnung nationalstaatlicher Kontrolle über das Wirtschaftsleben. Sie argumentieren, dass immer offenere Grenzen die Ungleichheit verschärfen und die Umwelt bedrohen.
Progressiver Protektionismus?
In den USA finden sich Unterstützer dieser Thesen im Wahlkampfteam von Joe Biden. Und in Europa bekennen sich die „strategischen Souveränisten“ zum „progressiven Protektionismus“. Diese Gruppe will die nationale durch die europäische Souveränität flankieren, wobei sie allerdings Schwierigkeiten hat zu definieren, was Souveränität für eine supranationale Körperschaft wie die Europäische Union eigentlich ist. In einem europäisch definierten Protektionismus sehen sie jedenfalls eine Versicherungspolice gegen die Kosten der Konkurrenz nationalistisch regierter Supermächte. Zu den Vertretern dieser These gehören Ivan Krastev und Mark Leonard vom European Council on Foreign Relations, die beobachten, wie ihre Position „die traditionelle Trennlinie zwischen Globalisten und Nationalisten“ verwischt. Sie erhöht allerdings auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Wähler am Ende das rechtspopulistische Original und nicht die linksgrüne Kopie bevorzugen.
Wer also den Populisten eine zweite Chance verwehren will, von der Krise zu profitieren, muss ein überzeugendes Argument für eine erneuerte und krisenfestere Globalisierung machen. Nur dann wird es auch auf längere Sicht dabei bleiben, dass die Corona-Pandemie eine schlechte Krise für Populisten ist.
Thomas Kleine- Brockhoff ist Berliner Büroleiter des German Marshall Fund of the United States.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 61-66
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