Porträt

29. Apr. 2024

Nicolás Maduro: Unterdrücke und überlebe

Nicolás Maduro hat Venezuela ruiniert und ist unpopulär, sitzt aber dank seines Repressionsapparats fest im Sattel. Findet die Opposition einen Weg, ihn bei den Wahlen im Juli zu besiegen?

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Bild: Nicolás Maduro bei seiner Vereidigung als Präsident
Nicolás Maduro bei seiner Vereidigung als Präsident vor dem Obersten Gericht im Januar 2019; die Opposition hatte die vorangegangene Wahl größtenteils boykottiert.
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Als Venezuelas charismatischer Präsident Hugo Chávez 2013 im Sterben lag, war die Not groß: Wer sollte das Lebenswerk des Oberstleutnants fortsetzen und sein Erbe als Anführer der lateinamerikanischen Linken antreten? Chávez entschied sich für Nicolás Maduro, den loyalen Gewerkschaftsführer mit dem Schnauzbart. Das überraschte: Maduro war nicht der brillanteste Stratege aus der Kamarilla. Das Militär – eine wichtige Stütze des Regimes – sah auf den Zivilisten, der gerade so die Schule geschafft hatte, herunter.

Aber er war ein guter Kompromiss, einer, mit dem all die anderen Platzhirsche glaubten, sich arrangieren zu können. Außerdem genoss er die Unterstützung der kubanischen Führung, die großen Einfluss auf Chávez hatte. Sie bildete mit ihren Ärztebrigaden, Personenschützern, Agenten und Hunderten von Beratern fast schon eine Art Schattenregierung. Diese „Bruderschaftshilfe“ vergütete Venezuela mit Erdöl, das Kuba dringend für seine Energieversorgung benötigte. Keinem vertraute Chávez in politischen Dingen mehr als dem kubanischen Máximo Lider Fidel Castro. Und Castro gab grünes Licht für Maduro.


Maduros Willkürstaat

Mittlerweile ist der ehemalige Busfahrer 61 Jahre alt und elf Jahre im Amt. Das hätte ihm kaum einer zugetraut. Denn sein Auftakt war alles andere als gelungen. Die Präsidentschaftswahl im April 2013, die noch ganz im Schatten des verstorbenen Chávez stand, gewann er trotz dessen Empfehlung nur äußerst knapp gegen Oppositionsführer Henrique Capriles. Dafür nötig waren Stimmenkauf und andere Manipulationen aus der chavistischen Trickkiste. Die Parlamentswahl im Dezember 2015 verlor seine Sozialistische Einheitspartei haushoch. In diesem Moment verwandelte sich die bislang defekte Demokratie in einen autoritär-mafiösen Willkürstaat.

Maduro schloss einen Pakt mit Verteidigungsminister Vladimir Padrino und dem Militär. Er ernannte so viele Generäle wie nie zuvor, etwa die Hälfte seines Kabinetts sind Uniformierte. Sie kontrollieren die Landwirtschaft und das Erdöl, die Energie und den Bergbau.

Die Opposition kämpfte mit allen Mitteln. Mit Massendemonstrationen, die von Militär, Polizei und paramilitärischen Gruppen blutig niedergeschlagen wurden. Sie versuchte, einen Keil in die chavistische Führung zu treiben. Einige ranghohe Regierungsmitglieder desertierten, doch die Führungsriege schloss die Reihen. Einige der Alt-Chavistas wurden von Maduro entmachtet, darunter die Familie von Chávez und dessen langjährige Minister Rafael Ramírez und Jorge Gior­dani. Die Posten wurden mit mittelmäßigen Funktionären besetzt, die sich im Gegenzug für ihre Loyalität an korrupten Geschäften bereichern konnten. Laut Schätzungen wurden im sozialistischen Venezuela rund 700 Milliarden US-Dollar Staatseinnahmen veruntreut.

Die Kongressblockade umging Maduro, indem er ein paralleles, ihm unterwürfiges Parlament wählen ließ, das fortan auch den Wahlrat und die wichtigsten Posten in der Justiz ernannte. Die vom legitimen Parlament getroffenen Entscheidungen wurden von den Machthabern ignoriert. Manche Parteien wurden von regierungstreuen Funktionären gekapert, andere wurden verschont. So gelang es Maduro, Misstrauen innerhalb der Opposition zu säen.


Humanitäre Horrorbilanz

Die verarmende Bevölkerung wurde in die Abhängigkeit von staatlichen Lebensmittelpaketen getrieben. Wer aufmuckte, landete in Maduros Folterkellern, wurde von Paramilitärs gejagt oder musste ins Exil. Je länger Maduro im Amt blieb, desto stabiler wurde seine Machtbasis, und desto verzweifelter die Aktionen der Opposition. Sie gipfelten in Mord­anschlägen, Putschversuchen und einer geplanten Invasion. 

Maduro schuf im Gegenzug und nach dem Vorbild anderer karibischer Diktatoren die Elite-Geheimpolizei FAES, die nach Ansicht von Menschenrechts­organisationen vor allem eine Todesschwadron war, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Ihre Aktionen und die Repression der Proteste 2017 sind derzeit Gegenstand von Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs.

Maduros Autoritarismus hatte auch einen wirtschaftlichen Hintergrund: Ab 2014 purzelten die Erdölpreise, die zu diesem Zeitpunkt 96 Prozent der Devisen­einnahmen brachten. Ein Teil der Erdölexporte war verpfändet: an Kuba im Gegenzug für seine politische Unterstützung, und an China als Kreditgarantien.

Die Staatseinnahmen reichten nicht mehr, um sowohl die gierige Kamarilla als auch die Bevölkerung zu bedienen. Zuerst wurde die Notenpresse angeworfen, dann die Sozialprogramme zusammengestrichen. Die Folge: Hyperinflation, Massenabwanderung, Massenverarmung und ein rascher Popularitätsverlust Maduros. Doch die Repression und die fruchtlosen Initiativen der Opposition trieben die Menschen in politische Apathie und einen zermürbenden Überlebenskampf.

Heute sind 85 Prozent der Venezolaner arm. Die Menschenrechtsbilanz ist verheerend: Human Rights Watch beziffert die Zahl der politischen Häftlinge auf 270, mehr als 15 000 Regimegegner wurden zeitweise festgenommen, gefoltert und schikaniert. 26 Prozent der Kinder gehen nicht zur Schule. In den Krankenhäusern gibt es keinen Strom, keine Medikamente und kein fließend Wasser. Malaria und Hunger sind zurückgekehrt, die Müttersterblichkeit ist auf 125 pro 100 000 Geburten angestiegen.

Fast acht Millionen Venezolanerinnen und Venezolaner sind ausgewandert. Gleichzeitig ist eine neue Oligarchie mit Zugang zu Devisen entstanden, die sich importierten Kaviar und Champagner leisten kann und auf sozialen Netzwerken mit ihrem neuen Reichtum protzt. Maduros Popularität ist laut Umfragen auf 20 Prozent geschrumpft. Freie Wahlen würde er klar verlieren.

Dennoch hat er für den 28. Juli 2024 Wahlen anberaumt – am Geburtstag von Hugo Chávez. Er reagiert damit auf den internationalen Druck; es geht ihm darum, eine komplette Isolation im Stile von Nicaragua und Kuba zu vermeiden und den Anschein von Dialogbereitschaft aufrechtzuerhalten. Im Gegenzug lockerten die USA Erdölsanktionen und überstellten Maduros wichtigsten Geldwäscher, Alex Saab.


Ein geopolitisches Puzzle

Maduros Zugeständnisse haben auch taktische Hintergründe. Die westlichen Sanktionen auf venezolanische Öl- und Goldexporte haben zwar nicht zu einem Sturz des Regimes geführt. Doch dafür müssen ständig neue Vertuschungsmanöver erarbeitet werden, die Geld und Nerven kosten. Auch die persönlichen Sanktionen sind für die Führungsclique zermürbend. Ihre Vermögen werden in den USA und Europa konfisziert. Jede Beschlagnahmung und jede Festnahme enthüllen unbequeme Puzzleteile des venezolanischen Geldwäsche- und Korruptionsnetzes.

Indem Maduro verhandelt, gewinnt er Zeit, wirtschaftlichen Spielraum und erhält sich einen Rest von Legitimität auf der internationalen Bühne. Gleichzeitig wird er keinerlei Zugeständnisse machen, die seine Macht ernsthaft gefährden könnten. Deshalb fehlen im Barbados-Abkommen von 2023 Zusagen für eine Justiz- und Wahlrechtsreform. Außerdem hat der Wahlrat den beiden oppositionellen Spitzenkandidaten Maria Corina Machado und Henrique Capriles das passive Wahlrecht entzogen und ihre Berater festgenommen.

Maduro hält derzeit die Fäden in der Hand. Intern funktioniert sein Repressionsapparat: Die Opposition genießt Legitimität, ist aber organisatorisch geschwächt. Ausländische Interventionen sind ausgeschlossen, Sanktionen können umschifft werden, und wenn die US-Regierung Venezolaner abschieben will, braucht sie Maduros Einverständnis. Auch das venezolanische Öl ist eine geopolitische Trumpfkarte.

Dennoch wäre er nicht der erste Diktator, der seine Kräfte überschätzt. Ein Fehler könnte sein Kartenhaus ins Wanken bringen. Das ist die einzig realistische Hoffnung für Opposition und internationale Gemeinschaft. Groß ist sie nicht. Maduro ist Teil eines Puzzles mit China, Russland, Indien und dem Iran – alles Länder, die geopolitisches Interesse an Maduros Machterhalt haben und deren Anführer es verstehen, Proteste im Keim zu ersticken. 

Maduro kann jederzeit aus dem Spiel mit der demokratischen Fassade aussteigen. Dann könnte es in der Tat zu einer politischen Transition kommen, schreibt das Portal Caracas Chronicles. „Aber nicht zu der, von dem die (oppositionellen) Strategen träumen, sondern eher ein Übergang zu einer vollständigen Autokratie, ohne jegliche Reste von Demokratie oder Pluralismus.“

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel  „Unterdrücke und überlebe" erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 9-11

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Sandra Weiss

Guatemalas Hoffnungsträger

Der neue Präsident Bernardo Arévalo gilt als ausgleichender, kluger Reformer. Die mafiöse Elite versucht ihn mit allen Mitteln zu torpedieren.

Sandra Weiss ist Politologin und ehemalige Diplomatin. Sie arbeitet seit 1999 als freie Korrespondentin in Lateinamerika, u.a. für die ZEIT, NZZ am Sonntag, Geo, Tagesspiegel, den Schweizer Rundfunk und die Deutsche Welle.

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