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26. Aug. 2016

Nicht aufgeben

Ein Abbruch des EU-Dialogs mit der Türkei wäre kontraproduktiv

Das selbstherrliche Vorgehen von Staatspräsident Erdogan nach dem Putschversuch hat Rufe laut werden lassen, sich von dem Land abzuwenden. Doch wer die Türkei aufgibt, hat die Auseinandersetzung mit Erdogan bereits verloren. Und es gibt gute Gründe, warum auch Ankara an einem Bruch mit Europa nicht gelegen sein kann.

Präsident Recep Tayyip Erdogans repressiver und unverhältnismäßiger Kurs nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei ist schwer hinzunehmen. Er polarisiert damit nicht nur weiter die türkische Gesellschaft, sondern vergrößert auch den Graben zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Von Meinungs-, Presseoder Religionsfreiheit und verlässlich garantierten Bürgerrechten insgesamt hat sich das Land weit entfernt. Mit dem Ausbau seiner nationalistisch-islamistisch geprägten Machtposition hat Erdogan zugleich das Ende des kemalistischen Systems, des Säkularismus am Bosporus eingeleitet.
Es steht außer Frage, dass seine Politik mit unseren demokratischen und rechtsstaatlichen Werten unvereinbar ist. Doch kann es angesichts eines gegenseitigen geopolitischen Abhängigkeitsverhältnisses hierauf eine klare europäische Antwort geben?

Zur sicherheitspolitischen Risikominimierung wird Europa kaum etwas anderes übrig bleiben, als auch weiterhin mit der Türkei zusammenzuarbeiten. Für das europäische Werteverständnis mag das genauso wenig eine gute Nachricht sein wie die Tatsache, dass sich an der momentanen innenpolitischen Dynamik in der Türkei kaum etwas ändern wird.

Allerdings: Die Richtung, die Erdogan einschlägt und dabei derzeit von großen Teilen der türkischen Bevölkerung und Opposition – unter Ausschluss der Kurden und kurdischen Parteien – mitgetragen wird, ist zwar ungewiss und besorgniserregend zugleich. Doch ist zum jetzigen Zeitpunkt das letzte Wort über die Zukunft des Landes noch nicht gesprochen. Auch wenn die von Militärputschen erschütterte Bevölkerung die politische Stabilität unter einem immer autokratischeren Herrscher (dessen Regierungspartei AKP erst bei den Parlamentswahlen im November 2015 mit einer absoluten Mehrheit von der Bevölkerung bestätigt wurde) als kleineres Übel gegenüber einer wackligen, möglicherweise militärisch geprägten Demokratie sehen mag, heißt das noch lange nicht, dass eine Diktatur nach nordkoreanischem Muster am Bosporus errichtet wird. Und ja, die innertürkische Debatte um eine mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe ist aus europäischer Sicht – und das mit gutem Recht – kaum zu akzeptieren. Aber wie hält es Europa gleichzeitig mit der in westlichen Industrienationen wie den USA und Japan geltenden Todesstrafe? Kann Europa bei aller berechtigten Kritik an Erdogans Versuch, die Türkei in ein autokratisches Präsidialsystem zu verwandeln, Einwände dagegen haben, das türkische Militär und den Geheimdienst künftig einer zivilen Kontrolle zu unterstellen?

Im Ungewissen

Vergessen wir nicht: Europa hat zu spät reagiert. Nachdem das Land zunächst tiefgreifende Reformen umgesetzt hatte, hat die EU die Beitrittsfrage der Türkei lange im Ungewissen gelassen. Das hat nicht nur zu Kränkungen und Enttäuschungen bei der türkischen Führung und Bevölkerung geführt, sondern Ankara auch weitere Anreize zur Demokratisierung und EU-Harmonisierung genommen.

So findet der autokratische Staatsumbau auch nicht erst seit gestern statt. Nur wollte das in Europas Hauptstädten lange niemand wahrhaben. Lieber hat man zu Einschränkungen der Pressefreiheit, Prozessen gegen kritische Journalisten und zur Kurdenfrage geschwiegen. Genau das Gegenteil wäre aber angebracht gewesen: Die EU hätte ihre Anstrengungen verdoppeln und sich der Türkei viel aktiver zuwenden müssen. Und zwar sowohl mit deutlicher Kritik an den demokratischen Rückschritten des Landes als auch mit Blick auf die Glaubwürdigkeit ihres Beitrittsprozesses. Zuletzt wäre es nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli, bei dem immerhin rund 270 Tote und über 1400 Verletzte zu beklagen waren, seitens der EU klug gewesen, in diesen schweren Stunden mehr Empathie gegenüber der Türkei und ihrer Bevölkerung zu zeigen.

Wenn erst Wochen nach dem Putschversuch mit dem amerikanischen Vizepräsidenten Joe Biden ein westlicher, aber bis dato kein europäischer Spitzenpolitiker in die Türkei reist, führt das auf türkischer Seite kaum zu mehr Verständnis und Dialogbereitschaft, sondern lässt die tiefe Enttäuschung der Türken gegenüber der EU nur noch weiter wachsen.

Europa ist nun möglicherweise mit einer neuen strategischen Partnerschaft zwischen Russland und der Türkei konfrontiert. Sie droht, das angespannte europäisch-türkische Verhältnis noch weiter zu belasten. Ankaras Schwenk Richtung Moskau dürfte auch der NATO und den USA vor allem mit Blick auf den von westlichen Verbänden genutzten türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik und die durch die Säuberungswelle geschwächte türkische Armeeführung Sorgen bereiten. Der Stützpunkt fungiert nicht nur als strategisch wichtige Drehscheibe im Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat. Die USA lagern dort auch Nuklearwaffen. Angesichts der allgemeinen Sicherheitslage in der Türkei und der Nähe zum syrischen Bürgerkrieg trägt das russisch-türkische Tauwetter nicht gerade zur Beruhigung bei und kann sogar Risiken für die weitere Syrien-Politik des Westens bergen.

Für die EU und die Türkei geht es nun um Schadensbegrenzung – und um strategischen Weitblick, zu beiderseitigem geopolitischen Nutzen. Eine Güterabwägung zwischen den Interessen Europas und der berechtigten Kritik an den Zuständen in der Türkei ist deshalb unerlässlich.

Als östlicher Nachbar Griechenlands und Bulgariens sowie nordwestlicher Anrainer Syriens, des Iran und des Irak bildet die Türkei die Brücke zwischen der EU-Außengrenze, den Ländern Asiens und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens. Die Türkei gehört mit ihren 78 Millionen Einwohnern zu den führenden 20 Wirtschaftsmächten der Welt. Sie stellt mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern nach den USA die zweitstärkste NATO-Armee. Damit ist und bleibt Ankara ein strategischer Sicherheitspartner für Europa an seiner Südflanke.

Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge hat das Land nach eigenen Angaben bislang aufgenommen und im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingsabkommens einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, den Flüchtlingsstrom nach Europa zu stoppen. Trotz vorherrschender Dissonanzen erfüllt Ankara weiterhin die vertraglichen Verpflichtungen. Gleichzeitig ist die Türkei neben dem Iran und Saudi-Arabien eine der letzten verbliebenen Gestaltungsmächte in der Region, die noch dazu einen vergleichsweise gemäßigten politischen Islam vertritt.

Nicht zu vernachlässigen ist zudem die energiestrategische und handelspolitische Rolle der Türkei: Für Europa kann sie als Transitland für Öl und Gas aus dem Kaspischen Meer und möglicherweise bald auch aus dem Iran und dem Irak weiter an Bedeutung gewinnen. Europa braucht die Türkei als alternativen Energiezulieferer, um sich aus der Abhängigkeit von Russland lösen zu können, während die Transitgebühren für Ankara wichtige zusätzliche Einnahmen bedeuten. Auch ist die Türkei immerhin der sechstgrößte Handelspartner der EU, für die Türkei ist Europa sogar der größte Absatzmarkt für ihre Waren.

Kühlen Kopf bewahren

Es gibt also viele Gründe, warum die Europäer gut beraten sind, einen kühlen Kopf zu bewahren und weder die Tür zuzuschlagen noch sich von Erdogan provozieren oder unter Druck setzen zu lassen. Klüger ist es, den Dialog, so schwierig er auch momentan sein mag, aufrechtzuerhalten und dabei eine klare, sachliche und vor allem gemeinsame Linie zu vertreten. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker betonte jüngst zu Recht, dass jetzt nicht der Moment sei, „aus der Hüfte zu schießen und die Beitrittsverhandlungen zu beenden“. Damit erteilte er der österreichischen Forderung eine klare Absage, die Gespräche mit Ankara abzubrechen.

Europa muss mit der Türkei im Gespräch bleiben, auch um Kritik wirkungsvoll anbringen zu können, ganz im Sinne jener Menschen, die in der Türkei Repressionen ausgesetzt sind. Alles andere würde Europas Position gegenüber dem türkischen Präsidenten weiter schwächen. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn hat zu Recht die Frage aufgeworfen, welcher Einfluss der EU noch bliebe, wenn sie der Türkei jetzt endgültig eine europäische Perspektive verwehrte.

Eine künftige Türkei-Politik bedarf einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Ziele. Die Türkei ist nicht so unangreifbar, wie Erdogan gerne behauptet. Seine Macht stützt sich größtenteils auf die bislang gute Wirtschaftslage, die vielen Investitionen aus der EU und den Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Indes setzt der Präsident gerade sein eigenes Wirtschaftswunder und die enge Handelspartnerschaft mit der EU aufs Spiel. Bei einem Land, das ohnehin schon ein großes Handelsbilanzdefizit aufweist (gut 10 Prozent aller Exporte gehen zum Beispiel allein nach Deutschland), wird das schnell in eine wirtschaftliche Schieflage führen. Allen Avancen gegenüber Moskau zum Trotz wird der eurasische Wirtschaftsraum noch nicht einmal ansatzweise den europäischen Absatzmarkt kompensieren können. Und ausländische Investoren fragen schon jetzt, ob der türkische Staat nach den exzessiven Säuberungen noch Rechtssicherheit garantieren kann. Genauso stellt sich die Frage, inwieweit die grassierende Korruption, die Massensuspendierung im Bildungsbereich und ein drohender Braindrain die weitere Entwicklung des Landes zusätzlich abwürgen.

Bei sich fortsetzender Unsicherheit droht schon bald eine Kapitalflucht ins Ausland, während gleichzeitig internationale Kredite ausbleiben könnten, um das Land wirtschaftlich auf Kurs zu halten. Auch gibt es ein eigenes türkisches Interesse daran, den Zustrom weiterer Flüchtlinge zu drosseln, die Syrer im Land mit europäischer Finanzhilfe zu integrieren und die eigene Küste selbst zu kontrollieren. All diese Faktoren wird Erdogan nicht ausblenden können, da er seiner Bevölkerung langfristig mehr als nur neo-osmanische Rhetorik bieten muss.

Europa braucht die Türkei – aber die Türkei braucht Europa ebenso, wenn nicht mehr. Die EU muss strategische Geduld beweisen und darf sich von Erdogans rhetorischen Angriffen nicht provozieren lassen. Sie muss bestimmt auftreten, wenn es um die Einhaltung von Vereinbarungen und Verträgen geht, insbesondere um die Achtung der Menschenrechte und Minderheiten im Land.

Glaubwürdige Alternativen

Hierfür sollte Europa seinen Einfluss auf allen Ebenen, einschließlich der NATO und des Europarats, stärker nutzen und dabei auch diplomatische und handelspolitische Härte nicht ausschließen.

Europa muss deutlich machen, dass angesichts der türkischen Konfrontationspolitik ein EU-Beitritt in absehbarer Zeit nicht zur Debatte steht. Stattdessen sollte die EU glaubwürdige und pragmatische Alternativen zur bisherigen Erweiterungspolitik entwickeln: Eine assoziierte Mitgliedschaft etwa böte der Türkei mittelfristig eine wirtschaftliche und rechtsstaatliche Perspektive, die Ankara wieder zur Einhaltung demokratischer Prinzipien, zur Stärkung des parlamentarischen Systems und zur Rückkehr zu einer versöhnlichen Kurdenpolitik bewegen dürfte. Angebote zu einer Einbindung in die Verhandlungen für das geplante EU-USA-Freihandelsabkommen TTIP, eine Vertiefung der europäisch-türkischen Zollunion und die Visafreiheit (die man zunächst auf Akademiker, Studenten und Verwandtschaftsbesuche beschränken könnte) wird die türkische Führung auf Dauer weder ausschlagen noch über aggressive Polemik erreichen können.

Zugleich muss man die Sicherheitsbedürfnisse des NATO-Mitglieds Türkei und letztlich der gesamten Allianz berücksichtigen. Diese Frage ließe sich innerhalb der NATO und ihrer Gremien diskutieren. Die Türkei profitiert vom Sicherheitsschirm der Allianz. Beim Kampf gegen Terrorismus, beim Grenzschutz, bei geheimdienstlicher Kooperation sowie Rüstungsprojekten ist das Land vor allem auf das Verteidigungsbündnis (und wohl kaum auf Moskau) angewiesen.

Auch hier geht es langfristig um Glaubwürdigkeit und Vertragstreue: Die türkische Führung muss gegenüber ihren Bündnispartnern Antworten finden, wie sie die Moral der nach dem gescheiterten Putschversuch geschwächten Armee wieder herstellen will, um weiterhin einen ausreichenden Sicherheitsbeitrag an der Südostflanke der NATO leisten zu können. Ebenso liegt es einmal mehr im Interesse Europas, dort einen starken Verbündeten zu haben, der ein Bollwerk gegenüber den Brandherden des Nahen und Mittleren Ostens bildet.

An geopolitischen Fakten ist nun einmal nicht zu rütteln. Und wer im Endeffekt die Türkei aufgibt, hat die Auseinandersetzung mit Erdogan schon verloren.

Oliver Rolofs ist Südosteuropa-
Experte und Kommunikationschef der Münchner Sicherheitskonferenz. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2016, S. 67-71

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