Neues deutsches Selbstbewusstsein
Paradigmenwechsel in der Völkerrechtspolitik?
Deutschland war einer der Hauptinitiatoren bei der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs, der im Juli 2002 eingerichtet wurde. Die deutsche Rolle bei der Entstehung und Implementierung des Gerichtshofs lässt sich, so der Völkerrechtler aus Kiel, als Ausdruck eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels in der deutschen Völkerrechtspolitik begreifen.
Am 1. Juli 2002 ist das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) für mittlerweile 76 Staaten in Kraft getreten.1 Damit eröffnen sich dem Völkerrecht zu Beginn des 21. Jahrhunderts völlig neue Perspektiven: es wurde der erste ständige Strafgerichtshof mit grundsätzlich weltweiter Zuständigkeit geschaffen, der das Kräftegleichgewicht zwischen Einzelstaaten und organisierter Staatengemeinschaft – jedenfalls zum Teil – neu ausbalanciert.2
Die Rolle Deutschlands bei der Entstehung des Statuts des IStGH und bei dessen Implementierung lässt sich als Ausdruck eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels in der deutschen Völkerrechtspolitik begreifen – eines neu gewonnenen völkerrechtlichen Selbstbewusstseins.
Die deutsche Position gegenüber der Herausbildung und Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts war lange Zeit die einer strikten Ablehnung: So wurde die im Versailler Friedensvertrag vorgesehene Überstellung deutscher Staatsangehöriger, die Kriegsverbrechen beschuldigt wurden, an alliierte Militärgerichte selbst von Mitgliedern der deutschen Reichsregierung als „Verletzung der deutschen Würde und Ehre“ bezeichnet. Auch die auf Druck der Alliierten durchgeführten Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen vor dem Reichsgericht führten durchweg nur zu geringen Strafen, deren Vollzug zudem als problematisch angesehen werden muss.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in Deutschland eine weitgehende Ablehnung des Völkerstrafrechts feststellen – nicht zuletzt angesichts des Grundsatzes, dass es keine Strafe ohne Gesetz geben darf (nulla poena sine lege). So stellten weite Teile des deutschen rechtswissenschaftlichen Schrifttums, aber auch deutsche amtliche Stellen, zumindest bis weit in die sechziger Jahre hinein die völkerrechtliche Zulässigkeit der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der sich daran anschließenden Verfahren auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 in Frage. Dabei scheuten sich einige Autoren auch nicht, ungeachtet der Einzigartigkeit der deutschen Verbrechen von Siegerjustiz zu sprechen.
Daher überrascht es auch nicht, dass es deutsche Gerichte weitgehend vermieden haben, ihrerseits Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bestrafen, nachdem die Gerichtsbarkeit bis zu dem Zeitpunkt auf sie übergegangen war, zu dem dann mit der Außer-Kraft-Setzung von Kontrollratsgesetz Nr. 10 der völkerstrafrechtlich vorgeprägte Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland – anders als etwa in der Deutschen Demokratischen Republik – überhaupt nicht mehr anwendbar war. Gerade auch diese Abwehrhaltung gegenüber einer Verfolgung völkerstrafrechtlicher Delikte durch ausländische oder internationale Gerichte war mit ein Grund dafür, warum das bis zum Jahr 2000 geltende uneingeschränkte Auslieferungsverbot für Deutsche seinen Weg in das Grundgesetz gefunden hatte.
Von Ablehnung zur Mitgestaltung
Letztlich ist es auch diese kritische Haltung gegenüber dem Völkerstrafrecht gewesen, die die Bundesregierung dazu bewogen hatte, sowohl bei der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch beim UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte einen Vorbehalt einzulegen. Dieser Vorbehalt richtete sich gegen die in beiden Abkommen praktisch wortgleiche Bestimmung, wonach „die Verurteilung oder Bestrafung einer Person, die sich einer Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, welche im Zeitpunkt ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war“ auch dann nicht ausgeschlossen ist, wenn die Strafbarkeit nicht bereits ex ante in dem jeweiligen nationalen Strafrecht festgelegt war. Absicht der beiden Bestimmungen war es insbesondere, die Nürnberger Prozesse völkerrechtlich zu legitimieren.
Spätestens seit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beim Mauerschützenprozess und zur Frage der rechtfertigenden Wirkung des Grenzgesetzes der DDR und dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Egon Krenz aus dem Jahr 2001 und der damit zeitlich einhergehenden Öffnung der deutschen Rechtsordnung für das Völkerstrafrecht ist es dringend geboten, die bereits von Beginn an völkerrechtspolitisch verfehlten, mittlerweile aber auch obsolet gewordenen deutschen Vorbehalte formell zurückzunehmen.
Erst mit Beginn der neunziger Jahre hat Deutschland im Bereich des Völkerstrafrechts eine gestalterische Rolle übernommen. So hatte der Bundesgesetzgeber nach der Schaffung der beiden Ad-hoc-Strafgerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda Kooperationsgesetze erlassen, die die Zusammenarbeit deutscher Stellen mit den beiden Gerichten regeln. Aber selbst in diesem Zusammenhang betonte die Regierung in ihrer Begründung immer noch ausdrücklich, dass eine Überstellung Deutscher an beide Gerichte verfassungsrechtlich unzulässig sei, obwohl das Grundgesetz durchaus für eine entsprechende völkerrechtsfreundliche Auslegung offen gewesen wäre und die Gefahr, einen Deutschen an eines der beiden Ad-hoc-Tribunale überstellen zu müssen, nur theoretisch bestand.
Im Rahmen der Verhandlungen zur Schaffung des IStGH hat Deutschland dann – wohl erstmals im Hinblick auf die Fortentwicklung eines Teilbereichs des Völkerrechts – eine führende Rolle gespielt. Indem es eine diese Rolle innerhalb der Gruppe der gerichtshoffreundlichen, so genannten gleichgesinnten Staaten spielte, ist Deutschland aus seiner durch den Zweiten Weltkrieg selbstverschuldeten völkerrechtlichen Unmündigkeit herausgetreten.
Deutschland hatte beispielsweise maßgeblichen Einfluss auf das Jurisdiktionsregime des Statuts, indem es einen auf dem Weltrechtsprinzip beruhenden Vorschlag unterbreitete, der schließlich einen ausgewogenen Kompromiss ermöglichte. Ferner war es wohl nicht zuletzt die deutsche Delegation, die durch ihren Widerstand und durch die Unterbreitung konkreter Gegenvorschläge verhinderte, dass eine Initiative der fünf Ständigen Sicherheitsratsmitglieder Eingang in den Vertragstext fand. Dieser Vorschlag sah eine praktisch zeitlich unbegrenzte Möglichkeit vor, sich trotz erfolgter Ratifikation sowohl im Hinblick auf Kriegsverbrechen als auch auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Gerichtsbarkeit des IStGH zu entziehen. Außerdem bildete das unter deutschem Vorsitz von den NATO-Staaten erarbeite so genannte „Bonn-Papier“ die maßgebliche Grundlage für die Kriegsverbrechenstatbestände des Statuts.
Des Weiteren ermöglichte erst der von Argentinien und Deutschland gemeinsam eingebrachte Vorschlag zur richterlichen Kontrolle der Verfahrenseinleitung seitens des Anklägers die Grundlage, dass dieser eigenständig und aus eigener Initiative (proprio motu) Ermittlungen einleiten darf. Schließlich war die Bundesrepublik Deutschland auch bei den – allerdings bislang erfolglos gebliebenen – Versuchen zur Aufnahme des Aggressionsverbrechens in das Statut eine treibende Kraft.
Völkerrechtspolitisch ist dabei besonders bedeutsam, dass diese Position sowohl gegen den deutlichen Widerstand der Vereinigten Staaten, aber auch gegen die zunächst sehr gerichtshofskritische Haltung Frankreichs und die eher skeptische Position Großbritanniens durchgehalten wurde. Dies ging sogar so weit, dass selbst persönliche Interventionen des amerikanischen Verteidigungsministers bei seinem damaligen deutschen Amtskollegen zwar für Unruhe in der deutschen Delegation, nicht jedoch zu einem Abweichen von der eigenen Verhandlungsposition führten.
Neues Selbstbewusstsein
Diese neue Offenheit der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem Völkerstrafrecht und ihr sichtbarer Wille, es mitzugestalten wird auch bei der innerstaatlichen Umsetzung des am 17. Juli 1998 in Rom verabschiedeten Statuts des Strafgerichtshofs (Römisches Statut)deutlich. So ermächtigt eine im Jahr 2000 erfolgte Ergänzung des deutschen Grundgesetzes nunmehr den Gesetzgeber, die Auslieferung Deutscher an internationale Gerichtshöfe – auch an Mitgliedstaaten der Europäischen Union – vorzusehen. Ob allerdings das dabei in die Verfassung ausdrücklich aufgenommene Erfordernis der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze sinnvoll und notwendig ist, erscheint angesichts der rechtsstaatlichen Garantien des Statuts des IStGH sowie der Homogenitätsklausel des EU-Vertrags eher fraglich.
Das neue völkerrechtliche Selbstbewusstsein Deutschlands kommt aber gerade auch in dem vom Bundestag in dritter Lesung verabschiedeten und am 30. Juni 2002 in Kraft getretenen deutschen Völkerstrafgesetzbuch zum Ausdruck.3 Durch diese gesetzliche Neuregelung verfügen deutsche Gerichte jetzt über eine weltweite Zuständigkeit zur Aburteilung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (die damit seit dem Außer-Kraft-Treten von Kontrollratsgesetz Nr. 10 erstmals wieder Bestandteil des geltenden deutschen Strafrechts werden) sowie von Kriegsverbrechen. Dabei ist es sogar unerheblich, ob diese Verbrechen in einem internationalen oder einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt begangen werden. Von besonderer Bedeutung ist, dass diese innerstaatliche Kodifizierung im Bereich der Kriegsverbrechen das In-Kraft-Treten des Römischen Statuts zum Anlass nimmt, auch diejenigen kriegsrechtlichen Strafbestimmungen mit aufzunehmen, die auf Grund des Widerstands der USA und anderer Staaten nicht oder nur modifiziert im Römischen Statut Aufnahme gefunden haben.
Außerdem findet sich hier eine weitgehende Angleichung der Kriegsverbechenstatbestände für internationale wie nichtinternationale bewaffnete Konflikte, also Bürgerkriege. Damit wird zum einen sichergestellt, dass deutsche Gerichte nun auch für Bürgerkriege, die seit 1945 besonders in der Dritten Welt den bei weitem größten Anteil an allen Kriegen ausmachen, über eine umfassende Gerichtsbarkeit verfügen. Zum andern ist für die praktische Umsetzung vielleicht noch bedeutsamer, dass der Gesetzgeber mit einem Federstrich die bisherige überkommene Rechtsprechung des Bundesgerichthofs beiseite schiebt. Dieser ging bislang davon aus, dass deutsche Gerichte sogar für Völkermord nur dann zuständig sein könnten, wenn ein legitimierender Anknüpfungspunkt zu Deutschland besteht.
Paradigmenwechsel?
In dieser veränderten deutschen Haltung zum Völkerstrafrecht kommt geradezu beispielhaft eine neue völkerrechtliche Rolle der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck. Dieses neue Selbstbewusstsein hatte sich bereits zuvor beim 1997 verabschiedeteten Landminenvertrag gezeigt, bei dem Deutschland – gemeinsam mit seinen europäischen Partnern – eine treibende Kraft gewesen war. Es lässt sich weiterhin nachweisen, dass Deutschland auch im Zusammenhang mit der UN-Klimarahmenkonvention von 1992 , und besonders bei der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls von 1997, eine wesentliche Rolle gespielt hat. Dazu gehört auch, dass sich die Bundesrepublik Deutschland seit den neunziger Jahren, ungeachtet der Frage, ob hierfür im Einzelfall ein Mandat des UN-Sicherheitsrats vorliegt oder nicht, zunehmend im Bereich der militärischen Friedenssicherung engagiert.
Es mag ebenfalls als Ausdruck dieses neuen deutschen völkerrechtlichen Selbstbewusstseins angesehen werden, dass die Bundesregierung im Jahr 1999 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag gegen die Vereinigten Staaten Klage erhoben hat, um (letztlich allerdings vergeblich) die Hinrichtung eines deutschen Staatsangehörigen in den USA zu verhindern. Eine Vorgehensweise, die vor der Wiedervereinigung wohl kaum vorstellbar gewesen wäre.
Sicherlich ist diese veränderte Rolle Deutschlands auch auf ein neues Selbstverständnis der jeweiligen Vertreter der Bundesregierung zurückzuführen, die – anders noch als ihre Vorgänger – nicht mehr durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit geprägt sind. Sie agieren daher gerade gegenüber den ehemaligen Siegermächten (und dabei im besonderen Maße gegenüber den USA) zunehmend selbstbewusst.
Um so mehr ist es zu bedauern, dass die in den neunziger Jahren besonders von Deutschland angestoßene Reform der Institutionen der Vereinten Nationen bisher zu keinem Ergebnis geführt hat. So spiegelt der UN-Sicherheitsrat immer noch die Konstellation des Jahres 1945 wider, entspricht aber in vielerlei Hinsicht nicht mehr den Realitäten des 21. Jahrhunderts.
Anmerkungen
1 Text des Statuts in Auszügen abgedruckt in: Internationale Politik (IP), 11/1998, S. 82 ff.
2 Vgl. hierzu auch Anja Papenfuß, Herrschaft des Rechtsoder Recht des Stärkeren. Kontroverse um den Internationalen Strafgerichtshof,in: IP, 8/2002, S. 33–38.
3 Text des Völkerstrafgesetzbuchs abrufbar: <http://www.bmj.bund.de/ger/themen/strafrecht/10000582/ ?sid=c804851008018a03b5cac10f927f8f77&offset=1>.
Internationale Politik 9, September 2002, S. 33 - 38.