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28. Febr. 2011

Neue Wege für Nordafrika

Was bei einer Reform der EU-Mittelmeerpolitik berücksichtigt werden sollte

In Europas südlicher Nachbarschaft finden historische Umwälzungen statt, und was macht die EU? Sie verharrt zunächst in Schweigen. Um die Reformprozesse in Nordafrika unterstützen zu können, ist es höchste Zeit, die bisherigen Fehler ihrer Mittelmeerpolitik zu korrigieren und konkrete, überprüfbare Ziele anzustreben.

Angesichts der politischen Umwälzungen in Nordafrika will die Europäische Union ihre Mittelmeerpolitik neu ausrichten. Die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) und die Mittelmeerunion sollen, so der Beschluss der Staats- und Regierungschefs vom 4. Februar 2011, auch künftig den Rahmen für die Zusammenarbeit mit den Ländern im südlichen Mittelmeerraum bieten. Jedoch will die Union ihre Angebote künftig stärker an sichtbare Reformen knüpfen. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton soll jetzt zügig Maßnahmenpakete für Tunesien und Ägypten entwickeln, um die Länder in ihren Transformationsprozessen zu unterstützen.

So weit die Beschlusslage. Wenn die Union die Fehler ihrer bisherigen Mittelmeerpolitik korrigieren will, muss sie sowohl die ENP als auch die Mittelmeerunion grundlegend reformieren.

Politische Transformation und sozioökonomische Entwicklung

Die Union kennt sich aus mit Transformationsprozessen. Natürlich ist der südliche Mittelmeerraum nicht mit den Ländern Mittel- und Osteuropas zu vergleichen, die durch die Beitrittsperspektive zur Union innerhalb weniger Jahre einen bemerkenswerten Wandel hin zu Demokratie und sozialer Marktwirtschaft vollzogen haben. Vergleichbare Instrumente – etwa Wahlbeobachter oder Maßnahmen zur Unterstützung der Reform von Verfassung, Verwaltung und Justiz – können jedoch auch Ländern in der MENA-Region (Middle East and North Africa) angeboten werden, die nicht den Anreiz oder Druck eines Beitritts haben. Dies hat sich etwa im Irak mit der EU-Mission zur Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten gezeigt. Die sich neu herausbildenden Führungsriegen in Nordafrika haben ein Interesse daran, diese Probleme anzugehen, wenn sie die Stabilität ihrer Länder und zugleich ihr politisches Überleben sichern wollen. Dabei sollte die EU ihre Instrumente zur Unterstützung der politischen Transformationsprozesse eng mit ihren entwicklungspolitischen Maßnahmen verzahnen.

Insbesondere in Ägypten, einem Land mit über 80 Millionen Einwohnern, werden die Versäumnisse bei der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung die Phase des politischen Übergangs zusätzlich erschweren. Nicht nur gegen politische Unterdrückung sind Menschen in Kairo und anderswo auf die Straße gegangen, sondern auch aus existenzieller Not. Die inzwischen abgelöste Regierung unter Premierminister Ahmed Nazif hat zwar seit 2004 Wirtschaftsreformen durchgeführt, von denen die große Mehrheit der Bevölkerung allerdings nicht profitiert hat. Deshalb sollten die EU und ihre Mitglieder über schnelle und unbürokratische Hilfe bei akuten Versorgungsengpässen hinaus auch stärker als bisher eine langfristige entwicklungspolitische Agenda mit klaren Zielen und Prioritäten für die südliche Dimension der Nachbarschaftspolitik entwickeln.

Klare Schwerpunkte für die Zusammenarbeit

Im Grunde benennt die Europäische Nachbarschaftspolitik bereits alle wesentlichen Bereiche der Unterstützung der Transformationsprozesse – aber, das hat sich gerade in den vergangenen Wochen gezeigt, Papier ist geduldig. Die Union sollte sich künftig auf deutlich weniger Ziele konzentrieren, diese aber energisch und einem konditionierten Ansatz folgend vorantreiben. Die Verknüpfung zur Entwicklungsthematik ist offensichtlich und im Interesse der Union (Stichwort Migrationsdruck). Eine Intensivierung von Maßnahmen zur Armutsbekämpfung sollte im Zentrum stehen. Angesichts schnell wachsender junger Bevölkerungsgruppen, insbesondere in Ägypten, die geringe Chancen auf Bildung und einen Arbeitsplatz haben, sollte die EU gezielt auf das Thema (Aus-)Bildung setzen. Ebenso sollte sie in Ägypten die Rolle der Frauen im Transformationsprozess stärken und Programme zur Qualifizierung und soziopolitischen Eingliederung von Frauen intensivieren. Die EU sollte darüber hinaus prüfen, ob sie in Bereichen, die sich direkt auf die Lage der Bevölkerung auswirken, zusätzlich Zugang zum Binnenmarkt eröffnet.

Den Europäischen Auswärtigen Dienst strategisch ausrichten

Die Übergangsprozesse in Nordafrika sind die erste große Bewährungsprobe für Catherine Ashton und den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Der Dienst ist seit Dezember 2010 offiziell arbeitsfähig. Mit dem neuen Amt der Hohen Beauftragten und Vorsitzenden im Rat der Außenminister, die gleichzeitig Kommissarin für Außenbeziehungen ist, sowie mit dem EAD sollen die außenpolitischen Aktivitäten von Rat und Kommission stärker aufeinander abgestimmt werden. In Bezug auf Tunesien und Ägypten hieße das jetzt konkret, dass die gemeinsamen Beschlüsse der Mitgliedstaaten mit den entsprechenden Maßnahmen in der Kommission verzahnt werden müssen. Diese Koordinierungsaufgabe muss Catherine Ashton übernehmen. Sie sollte die erneuerte EU Politik gegenüber dem Mittelmeerraum in Abstimmung mit den europäischen Außenministern und den Kommissionskollegen (ENP, Entwicklung, Binnenmarkt, Außenhandel) repräsentieren und als Ansprechpartnerin fungieren. In Tunis und Kairo sollten die neuen EU-Delegationen gezielt entlang der neuen Ausrichtung der EU-Politik personell und finanziell ausgestattet werden. Allerdings entsteht in den laufenden Auseinandersetzungen um die internen Strukturen und Zuständigkeiten des EAD weiterhin der Eindruck, dass solche „vom Ende gedachten“ Überlegungen momentan eher nachrangig sind.

Mit dem Beitrittskandidaten Türkei zusammenarbeiten

Die EU wird sich bei diesen Schritten mit ihren Partnern abstimmen. Die Union teilt mit den USA (und Israel) das grundlegende Interesse an geordneten Transformationsprozessen in Tunesien und Ägypten. Allerdings hat sie auch spezifisch europäische Interessen in der Region. Dazu gehört die illegale Migration, aber auch die Auseinandersetzung mit islamistischen Bewegungen. Beide Themen betreffen die EU-Mitglieder sehr viel unmittelbarer als die USA. Insbesondere beim politischen Islam haben sich die Europäer bisher jedoch vom Diskurs in den USA leiten lassen, der stark auf dessen radikale Ausprägungen fokussiert ist. Aufgrund ihrer Brückenfunktion spielt die Türkei für die EU auch hier eine wesentliche Rolle. Angesichts der jüngsten Entwicklungen in der MENA-Region sollten die Union und ihre Mitglieder gezielt die Zusammenarbeit mit dem EU-Beitrittskandidaten Türkei suchen, um mit ihrer Unterstützung den Dialog mit islamistischen Bewegungen zu suchen, die mit einer demokratischen Öffnung in Tunesien und Ägypten eine stärkere Rolle spielen werden.

Die Mittelmeerunion zu einem sicherheitspolitischen Forum entwickeln

Die Union und ihre Mitglieder sollten einen Neuanfang mit der Mittelmeerunion machen. Erst 2008 an die Stelle des Barcelona-Prozesses getreten, ist sie in ihrer gegenwärtigen Form politisch tot. Die Mittelmeerunion ist bisher nicht nur durch den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern blockiert, sondern auch, weil die politische Unterstützung der EU- und Partnerländer weitgehend fehlt. Angesichts der Entwicklungen in Nordafrika lässt sich diese Blockade durch eine grundlegende Neuausrichtung vielleicht konstruktiv lösen. Es mag waghalsig klingen, aber die Mittelmeerunion könnte zu einem sicherheitspolitischen Forum für das Mittelmeer werden.

Im Ansatz lag das interessante Potenzial des Barcelona-Prozesses in seinem multilateralen Charakter. Dieser konnte durch den Israel-Palästina-Konflikt bisher nicht zur Entfaltung kommen. Ein mediterranes Sicherheitsforum ohne Israelis und Palästinenser wäre aber absurd, ist doch ihr Konflikt eines der zentralen sicherheitspolitischen Probleme in der Region – allerdings längst nicht das einzige. Zu nennen wären hier auch das Atomprogramm des Iran, nukleare Proliferation, neue Instabilitäten durch jüngste Machtwechsel, scheiternde Staaten, radikaler Islamismus, Wasserknappheit und Umweltzerstörung.

Damit ein solches Forum überhaupt das Tageslicht erblicken kann, müssten die EU und ihre Mitglieder alle Register der Mediation ziehen, aber gleichzeitig ihre Ansprüche herunterschrauben. Treffen im Rahmen des Sicherheitsforums „Mittelmeerunion“ müssten eher einen informellen Charakter haben als eine feste Struktur – mit Fingerspitzengefühl vorbereitet und Rückschläge in Kauf nehmend. Der israelisch-arabische Konflikt kann nicht ausgeklammert werden und bietet weiter Störpotenzial; möglicherweise entwickeln sich im Laufe der Zeit jedoch Felder für Gespräche und Kooperation, in denen die betreffenden Länder dieses Thema ausblenden. Ohnehin sollte die EU angesichts der jüngsten Entwicklungen in Nordafrika im Rahmen des Nahost-Quartetts darauf drängen, dass endlich Fortschritte in Richtung auf einen Friedensschluss zwischen Israel und den Palästinensern erfolgen.

Die Türkei und Zypern, beide Mitglieder der derzeitigen Mittelmeerunion, würden in einem solchen Forum ebenfalls gemeinsam an einem Tisch sitzen: Dies wäre eine Herausforderung für die EU, aber gleichzeitig ein Weg, den Stier bei den Hörnern zu packen und zu versuchen, eine große Hürde für die Erweiterungs- sowie die Außen- und Sicherheitspolitik zu überwinden. Die EU müsste der Türkei zusätzlich einen interessanten neuen sicherheitspolitischen Rahmen der Zusammenarbeit anbieten.

Ein solches Mittelmeer-Sicherheitsforum wäre zunächst nicht mehr als eine Keimzelle für einen sicherheitspolitischen Dialog im Mittelmeerraum. Aber es wäre ein Anfang – der allerdings in der Union den grundsätzlichen Willen voraussetzt, die Mittelmeerbeziehungen auf eine qualitativ neue Ebene zu heben.

ALMUT MÖLLER ist Leiterin des Alfred von Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen im Forschungsinstitut der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, April 2011, S. 46-49

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