Unterm Radar

01. Mai 2022

Neubeginn oder Rückschritt?

Am 29. Mai finden in Kolumbien Präsidentschaftswahlen statt. Wer gewinnt, tritt ein ­schweres Erbe an: Gut fünf Jahre nach dem historischen Friedensvertrag ­zwischen FARC-Guerilla und Staat steht das Land am Scheideweg.

 

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Bild: Wahlkampf in Kolumbien
Wahlkampf in einem Land voller Gewalt und Konflikte: Favorit Gustavo Petro (Mitte), eingerahmt von den indigenen Kandidatinnen Francia Márquez (2. von links) und Arelis Uriana (2. von rechts).
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In manchen Punkten ist die Bilanz positiv. Etwa 14 000 ehemalige FARC-Kämpfer haben die Waffen niedergelegt; davon sind bis heute rund 92 Prozent bei der Eingliederung ins zivile Leben geblieben. Die Guerilla- Organisation wurde zu einer Partei und verfolgt ihre Ziele politisch statt mit Waffen.



Auch das sogenannte Integrale System für Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiederutmachung und Nichtwiederholung gilt insgesamt als Erfolg. Besonders das Sondergericht für den Frieden und die Wahrheitskommission haben gegen alle Widrigkeiten wichtige Erkenntnisse zutage gefördert: Opfer werden erstmals gehört, die Wahrheit kommt immer mehr ans Licht, Strukturen werden langsam offengelegt, vor allem die Rolle des Staates im Konflikt. Denn ohne Aufklärung kann es nach über 50 Jahren bewaffnetem ­Konflikt mit rund 260 000 Toten und 80 000 Verschwundenen keine Versöhnung und keinen Neubeginn geben.



Doch zugleich gibt es massive Defizite bei der Implementierung des Friedensabkommens. Präsident Iván Duque von der rechtskonservativen Partei Centro Democrático ist ein Gegner des von seinem Vorgänger Juan Manuel Santos ausgehandelten Vertrags. So war auch seine Politik.



Das 2016 vereinbarte Abkommen beinhaltet viele Maßnahmen, die die Konflikt­ursachen bekämpfen würden – allen voran die Landreform. Nur 1 Prozent der Bevölkerung besitzt 80 Prozent des Bodens. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die kolumbianische Geschichte von Morden, Vertreibungen und Einverleibungen von verlassenem Land sowie massiver Ungleichheit. Doch bei diesem Punkt ist wenig passiert.



Auch von den Substitutionsprogrammen, die Kleinbauern helfen sollten, vom Koka-Anbau für den Drogenhandel zu legalen Feldfrüchten zu wechseln, hat der Staat nur einen Bruchteil der Versprechen erfüllt. Das Misstrauen der Bauern gegenüber dem Staat steigt deshalb. Und die Kokainproduktion ist trotz sinkender Anbauflächen auf ­Rekordhöhe gestiegen.



Die Gewalt ist zurückgekehrt

Nach Unterzeichnung des Friedensvertrags war die Gewalt massiv zurückgegangen. Doch seit drei Jahren wendet sich das Blatt, sagt Elizabeth ­Dickinson von der International Crisis Group. Morde und Vertreibungen nehmen zu, ganze Gemeinden sind eingesperrt, weil bewaffnete Gruppen Ausgangssperren verhängen, sie können nicht mehr fischen oder die Felder bestellen.



Die Situation ist paradox: „Die Intensität des Konflikts ist heute extrem niedrig und die Auswirkungen sind extrem hoch“, erklärt Dickinson. „Die Gewalt­indikatoren sind so, dass sich die Problematik herunterspielen lässt.“ Der Konflikt schwelt praktisch überall, außer in den zentralen Regionen des Landes und in den großen Städten. „Mehr als ein Drittel der Gemeinden in Kolumbien sind von bewaffneten Akteuren kontrolliert – ohne dass es die politische Elite in ihrer Blase in Bogotá mitbekommt“, sagt Dickinson. Ähnlich sei die Sicht der internationalen Gemeinschaft auf das Land: „Es gibt die verständliche Tendenz, Kolum­bien als eine Erfolgsstory sehen zu wollen. Das ist es in vieler Hinsicht. Aber wir haben diese fast hinter uns gelassen. Wenn jetzt nicht etwas passiert, bewegen wir uns in einen neuen Zyklus des Konflikts zurück. Ich denke, die kommende Präsidentschaft ist die letzte Chance.“



Dickinson reist regelmäßig in entlegene Teile des Landes. Vor allem in ländlichen Gebieten und ehemaligen Konfliktregionen ist die Gewalt zurückgekehrt – mancherorts sogar schlimmer als früher. Denn in den einst von der FARC beherrschten Gebieten hat sich nicht der Staat, sondern haben sich andere bewaffnete Akteure breit gemacht. Darunter Gruppen, die es schon immer gab: ELN-Guerilla, postparamilitärische Gruppen wie der Golfclan, die Urabeños und die Mafia. Außerdem sind neue Akteure hinzugekommen, vor allem die über ein Dutzend FARC-­Dissidentengruppen.



Heutige bewaffnete Akteure unterscheiden sich grundlegend von der ehemaligen FARC-Guerilla. Die FARC war ­hierarchisch organisiert und hatte eine Beziehung zu den Gemeinschaften. Diese war zwar ebenfalls von Waffen bestimmt, aber geregelt, es gab Kommunikationskanäle, die Guerilla garantierte den Gemeinschaften humanitäre Mindeststandards. Jetzt kämpfen in diesen Gebieten entweder verschiedene Gruppen um die Kontrolle, oder die bewaffnete Gruppe ist fragmentiert. „Es gibt keine eindeutige Autorität, die Menschen können niemanden nach den Regeln fragen und verstoßen deshalb unwissentlich gegen sie. Die Gewalt ist unkontrollierter“, sagt Dickinson. Ideologie spielt für die neuen Gruppen kaum eine Rolle. Sie sind getrieben von den wirtschaftlichen Aspekten der Gebietskontrolle: Drogen-, Waffen-, Menschen- und anderer Handel, Schutzgelderpressung, Viehzucht, Bergbau. Militärisch lässt sich diese Situation nicht lösen, schon gar nicht mit der bisherigen Strategie und Sicherheitsstruktur.



Diese neuen Gruppen versuchen, die Gesellschaft zu durchdringen und Gemeinschaften zu zerbrechen, damit sie ihre Regeln durchsetzen können. Eine ­Methode ist die Rekrutierung von Kindern. Eine weitere ist die Ermordung von Führungspersönlichkeiten, den „líderes sociales“: Personen, die sich für Menschenrechte, Umwelt, Frieden oder andere Ziele einsetzen. „Wer sie tötet, bringt nicht nur sie zum Schweigen, sondern eine ganze Gemeinschaft“, sagt Elizabeth Dickinson. Die Morde an den líderes sociales haben zugenommen, ebenso wie die an demobilisierten FARC-Kämpfern.



Ein linker Kandidat als Favorit

Die kolumbianische Gesellschaft hat sich durch den Friedensprozess verändert. 2021 gingen wieder Hunderttausende Menschen auf die Straßen: gegen das Morden, soziale Ungerechtigkeiten und die Regierung. Kristina Birke Daniels, Leiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bogotá, spricht von einem „enormen normativen Wandel, der sich kaum aufhalten lassen wird“. Die Kongresswahlen im März und die damit verbundene Kür der Präsidentschaftskandidaten der aussichtsreichsten drei Wahlbündnisse haben das bestätigt. „Das Ergebnis zeigt, dass große Teile der Gesellschaft sich nach politischer und sozialer Veränderung sehnen“, sagt Birke Daniels. Parteien aus dem linken Spektrum legten in Senat und Repräsentantenhaus zu. „Alte klientelistische Machtstrukturen haben aber das politische System weiterhin im Griff.“



Mit Gustavo Petro geht am 29. Mai erstmals ein linker Kandidat als Favorit in die Präsidentschaftswahl. Er tritt für das Bündnis „Pacto Histórico“ an, war Mitglied der vor 30 Jahren aufgelösten M-19-Guerilla und später Bürgermeister von Bogotá. „Gustavo Petro ist politisch eher als linker Sozialdemokrat mit populistischen Tendenzen einzuordnen“, sagt Birke Daniels. Ob er die Wahlen gewinnt, ist offen. Eine wichtige Rolle werden die jüngeren Wahlberechtigten spielen und die Nichtwähler.



Präsident Duque darf nicht mehr antreten und ist so unbeliebt, dass sich nicht einmal seine eigene Partei Centro Democrático im Wahlkampf groß auf ihn beziehen wollte. Denn Duques Amtszeit war gekennzeichnet durch Klientelpolitik, Korruption, Menschenrechtsverletzungen des Militärs, durch Abhör- und Zensurskandale, Regierungsunfähigkeit und große Versäumnisse in der Friedens-, Sozial-, Infrastruktur- und Umweltpolitik sowie insbesondere bei der Drogenbekämpfung.



Das rechte Spektrum ist ungewohnt zersplittert. Als Favorit gilt der ehemalige Bürgermeister von Medellín, Federico „Fico“ Gutiérrez, der versucht, nicht mehr als „Kandidat von Uribe“, sondern als „Kandidat der Leute“ zu gelten. Ex-Präsident Álvaro Uribe ist noch immer einer der mächtigsten Männer im Land; der jetzige Präsident Duque kam dank seiner Unterstützung ins Amt.



Die Überraschung ist jetzt schon Francia Márquez. Die Afrokolumbianerin stammt aus einer der ärmsten Regionen des Landes, ist Anwältin, Umweltaktivistin und langjährige Führungspersönlichkeit an der Basis, hat mehrere Attentate überlebt und bringt eine völlig neue Sprache in die politische Debatte – die der Menschen in den Regionen. Ohne Maschinerie und Ressourcen für teuren Wahlkampf erhielt sie die zweitmeisten Stimmen für den Pacto Histórico bei der Vorwahl. Petro geht mit ihr als künftige ­Vizepräsidentin ins Rennen.



Das könnte seine Chancen erhöhen. „Er kämpft allerdings gegen die zum Teil korrupten Apparate der traditionellen Parteien im rechten politischen Spektrum, und die Parlamentswahlen scheinen anzudeuten, dass das Land weiterhin politisch stark gespalten ist“, sagt Birke Daniels.  



Egal, wer im Mai gewinnt: Durchregieren wird nicht möglich sein. Herausforderungen gibt es neben dem Friedensprozess genug: Kolumbien ist eines der am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Länder Südamerikas und hat in den vergangenen Jahren 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela aufgenommen.

 

Katharina Wojczenko ist Lateinamerika-Korrespondentin mit Sitz in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 12-14

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