Wie wir nachhaltig wurden
Ist eine gerechte, gesunde, klimafreundliche Welt möglich? Ja – wenn die Menschheit ihre Schlüsse aus Corona zieht. Ein Kommentar aus der Zukunft zum Szenario „Die resiliente Gesellschaft“.
Es ist Mittwoch, der 22. April 2071. Earth Day, ein Feiertag. Und es gibt gute Gründe zu feiern. Denn die Welt ist (noch) da, für die Menschen, die gerade noch rechtzeitig verstanden haben, was sie da zu beschützen haben. Und wie es gehen kann, wenn man will.
Begonnen hat diese Geschichte mit einer Pandemie. Oder eher: mit der Welt, die sie ermöglicht hat. Menschen glaubten damals, dass sie billiges Fleisch in solchen Ausmaßen brauchten, dass sie in Kauf nehmen müssten, beim Prozess der Lebensmittelherstellung praktisch jedes weitere Mittel zum Leben zu belasten, zu degradieren, zu zerstören. Landstriche wurden im Namen der Futtermittelproduktion verwüstet, Arten starben aus, Zoonosen, von Tier zu Mensch und von Mensch zu Tier übertragbare Infektionskrankheiten, breiteten sich aus. Man zermürbte nicht nur sämtliche ökologischen Systeme, nein, die Weltgemeinschaft entwickelte Materialien und Technologien, die auch die Zukunft in Beschlag nehmen würden. „Diese Arroganz im frühen 21. Jahrhundert“, würde man später murmeln. „Was hat man sich nur gedacht?“, würden die Kinder fragen.
Zu dieser Zeit entstand ein Phänomen, das man in der Geschichtswissenschaft später „globale mentale Belastung“ nennen würde. Man wusste mehr über die Welt als je zuvor, konnte präzise die Folgen des eigenen Handelns, die Konsequenzen von Regierungsentscheidungen berechnen. Trotzdem war es nicht gelungen, einen Gesellschaftsentwurf, eine politische Grammatik zu entwickeln oder Wirtschaftssysteme zu schaffen, die den Menschen unterm Strich und langfristig zugute kamen. Die Nebenkosten häuften sich zu einem Maße an, das nicht mehr zu ignorieren war. Auf den Weltmeeren fuhren Schiffe Plastikmüll und Elektroschrott hin und her, die Umweltkosten durch die fossile Ausbeutung hätten die Einnahmen der Unternehmen überstiegen, wenn man sie gezwungen hätte, sie zu begleichen. Den Preis zahlten die Menschen. Im Jahr 2013 starb Ella, ein Schulmädchen aus London, hochoffiziell an „Luftverschmutzung“.
Faktisch war es unmöglich geworden, ein nachhaltiges Leben zu führen. Irgendwann gingen die Kinder auf die Straße, Erwachsene verharrten in der Illusion, dass man alles im Griff habe. Austausch und Kooperation mit der Wissenschaft wurden für die Regierungen politisch schwieriger – zu fundamental die Kritik, die von dort kam. Selbst in liberalen Demokratien wie Deutschland litten Wissenschaft und freie Presse unter den engen Verbindungen zwischen fossilen Konzernen, Landesregierungen und Medienhäusern.
Es war die Zeit der Pandemien, die alles änderte. Im Lichte endloser Mutationen, anhaltender Lockdowns und schwindender Hoffnung wurde deutlich, dass es nicht mehr genügte, die Corona-Opfer zu zählen, um die Folgen und Kosten der Gegenmaßnahmen abzubilden. Man fing an, sich ernsthaft mit dem Wohlbefinden der Bevölkerung zu beschäftigen. Dafür half die Corona-App, dank derer die Menschen die eigene Gesundheit tracken konnten.
Dass die anfängliche Skepsis rasch schwand, lag an der Regionalisierung bei der Datenauswertung. Sie fand lokal statt, sodass die Bevölkerung sich direkter angesprochen fühlte und die politischen Reaktionen schneller spürte. Die Psychologisierung gestresster Mütter, einsamer Kinder und verarmter Kunstschaffender fand ein Ende; ein sogenannter „Wohlfühl-Faktor“ wurde eingeführt, ein Maß für die psychische und körperliche Gesundheit.
Die „Gesunde-Welt-Forschung“ führte die Gesundheit von Ökosystemen mit der der Menschen zusammen und identifizierte, wo und wie ökologische Belastungen Menschen krank machten. Im 20. Jahrhundert war es die Verteidigungs- und Kriegsindustrie, die große Innovationen hervorbrachte. Im 21. Jahrhundert sollte es der Kampf um die Gesundheit der Menschen werden, der zu innovativen Höchstleistungen führte. Das Zeitalter der resilienten Gesellschaften brach an.
Es waren unangenehme Zeiten für die Verkehrs- und Landwirtschaftsministerien, als klar wurde, in was für einem Ausmaß schlechte Ernährung und unsichere Verkehrswege die Menschen tatsächlich belasteten. Kommunal- und Landesregierungen begannen, gegenzusteuern, Hand in Hand mit der EU, die sich bemühte, die Entwicklung voranzutreiben.
Agrarreformen wurden zu kleinen Nachhaltigkeitsrevolutionen, Agrarbetriebe und Lokalbevölkerung arbeiteten immer häufiger Hand in Hand. Beim Unterzeichnen von Mietverträgen konnte man in der Regel ganz unkompliziert gleich ein günstiges Abo für die wöchentliche Lieferung regionaler Produkte abschließen.
Als man zum Schutz vor der tödlichen Florida-Mutation Ende 2021 kurzzeitig Lieferketten kappte, wurde die Fragilität globaler Netzwerke deutlich. Lokale Produzenten sprangen ein. Und ein sozialverträglicher CO2-Preis, der rasch anstieg, sorgte dafür, dass die ökologische Belastung der Produkte keine große Unbekannte mehr war. Als die Grenzen wieder öffneten, war ein umfassendes Lieferkettengesetz nur noch eine Formsache, hinzu kam ein Kreislaufwirtschaftsgesetz. Die Müllproduktion sank schlagartig um den Faktor sechs.
Ein wesentliches Problem blieb die geringe Zeitspanne, die für so große Veränderungen zur Verfügung stand. Politische Entscheidungsprozesse standen unter gigantischem Druck, die Wirtschaft haderte. Um soziale Entlastungen zu schaffen, wurde provisorisch ein Grundeinkommen eingeführt; in einigen Gemeinden setzte man Bürgerräte ein. Um Fehler zu vermeiden, wuchs die internationale Gemeinschaft zusammen, man wollte mit- und voneinander lernen. Die großen Profiteure waren die sogenannten Schwellenmärkte, deren wirtschaftliche Strukturen flexibler waren. Globale Machtstrukturen waren nicht mehr wiederzuerkennen. Die Welt, die zunächst durch Lieferketten und transnationale politische Krisen zur Zusammenarbeit gebracht wurde, wandte sich nun auch gesellschaftlich und emotional einander zu.
Luisa Neubauer ist Klima-Aktivistin (Fridays for Future), Autorin und Podcast-Host (1,5 Grad – der Klima-Podcast).
Internationale Politik 2, März/April 2021, S. 34-35