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01. Febr. 2002

Mut zum Wandel

Neue Technologien verändern die internationale Politik

Die enormen und rasend schnellen Fortschritte bei Computer-, Nano- und Gentechnologie lassen erahnen, dass die Welt in naher Zukunft eine völlig andere sein wird. Vor diesem Hintergrund spricht sich der Autor dafür aus, die durch diese Technologien eröffneten Möglichkeiten bewusst aufzunehmen, öffentlich zu fördern und weiterzuentwickeln.

Seit im Januar 2000 der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton die Nanotechnologie1 in Verbindung mit der Gen- und Computertechnologie zu den Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts erklärte und führende Wissenschaftler der USA am 7. Februar 2000 in einem Memorandum an den Kongress den Anbruch einer ökonomischen und sozialen Revolution vorhersagten, ist die Debatte über die möglichen Folgen des rapide zunehmenden Wissens und des rasanten technischen Fortschritts auch in Europa nicht mehr verstummt. Dabei löst der unvermeidbar erscheinende Wandel bei vielen Menschen nicht nur Unbehagen, Unsicherheit und Furcht aus. Die bereits heute sichtbaren Entwicklungen schaffen auch ein Umfeld, das beinahe zwangsläufig Kritik und Widerstand erzeugt. Doch wenngleich man in der Anfangsphase einer Revolution erfahrungsgemäß nicht die besten Bedingungen vorfindet, um deren Ergebnisse hinreichend sicher beurteilen zu können, enthebt uns dies nicht der Aufgabe, die richtigen Fragen zu stellen und die Bedeutung des Wandels verstehen zu lernen. Für demokratische Staaten stellt sich dabei das Problem, wie ein „overlapping consensus“ zu der Entwicklung und Anwendung der neuen Technologien erreicht werden kann.

Die Verdrängung überkommener Strukturen durch Innovationen mannigfacher Art und das Entstehen anderer Rahmenbedingungen ist im Prinzip keine neue Erfahrung. Sie haben die Entwicklung der Menschheit und die Politik von jeher begleitet. Dennoch scheinen in der gegenwärtigen Epoche die gleichzeitig in mehreren Bereichen und eng miteinander verbundenen technologischen Fortschritte eine größere Wirkung zu entfalten als jemals zuvor. Die enorme Reichweite und Beschleunigung der Fortschritte vor allem auf den Feldern der Nanotechnologie sowie der Gen- und Computertechnologie lassen schon heute erahnen, dass wir uns in naher Zukunft in einer völlig veränderten Welt befinden werden.

Die neuen Erkenntnisse und technischen Fertigkeiten sind nicht nur Teil eines umfassenden evolutionären Prozesses, der von Natur aus exponentiell verläuft. Sie eröffnen auch neue Dimensionen in der internationalen Politik. Wenngleich die meisten traditionellen Akteure in unserer globalisierten Welt – die Nationalstaaten, die multinationalen Konzerne und diverse Interessengruppen – die Chance haben, das Wissen und die rasch zunehmenden technologischen Fertigkeiten zu nutzen und weiter voranzutreiben, zeigt schon ein kurzer Blick auf das internationale System, dass der Fortschritt keineswegs alle Akteure gleichzeitig oder gleichmäßig erfasst.

Vorbehalte

Vielmehr bewirkt die rasante technologische Entwicklung nicht nur eine wachsende Ungleichheit zwischen den Nationalstaaten. Die globale Verfügbarkeit des Wissens und der neuen Technologien bietet auch bislang kaum als gewichtig angesehenen Akteuren die Möglichkeit, an dem Wettbewerb teilzunehmen und die eigenen produktiven Kräfte zu entfalten. Für den Veränderungsprozess ist zudem charakteristisch, dass die derzeit führenden westlichen Industrieländer eine sehr unterschiedliche Bereitschaft zeigen, sich auf den für ihre zukünftige Position so bedeutsamen Feldern der Nanotechnologie, der Gen- und Computertechnologie zu engagieren. Während einige Staaten, wie z.B. die USA und Großbritannien, die in der Weiterentwicklung der neuen Technologien liegenden Möglichkeiten bewusst aufnehmen, mit öffentlichen Mitteln fördern und dem privaten Engagement keine künstlichen Hürden in den Weg stellen, neigt man in manchen Staaten auf dem europäischen Kontinent dazu, die Chancen auf volle Teilhabe am technologischen und wirtschaftlichen Fortschritt zu verspielen.

Es erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert, welche ideologischen Vorbehalte, ethischen Begründungen und oft nur mühsam verdeckten Neidkomplexe gerade auch in Deutschland jenen Forschern, Technikern, wissenschaftlichen Instituten und Firmen entgegenschlagen, die sich auf den neuen Technologiefeldern besonders engagieren und qualifiziert haben. In der zuweilen harten und gelegentlich sogar mit bedenklichen Mitteln ausgetragenen Auseinandersetzung werden nicht nur angeblich feststehende Werte und düstere Prophezeiungen gegen die Gesetze der Ökonomie und des evolutionären Prozesses der Menschheit schlechthin vorgebracht. Es wird auch versucht, mit nationalen Auflagen und Verordnungen aller Art die Forschung und Entwicklung in bestimmten Bereichen zu verhindern oder so stark einzuschränken, dass die Teilhabe am internationalen Wettbewerb verloren geht.

Wenngleich aus der Sicht demokratischer Staaten und der damit verbundenen offenen Gesellschaften begründete Regelungen für das Handeln im Bereich der Wissenschaft und Technologie notwendig sind, werden Regierungen und Parlamente darauf achten müssen, die Grenzen nicht zu eng zu ziehen. Angesichts der Schnelligkeit und Unaufhaltbarkeit der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklung bedeutet wert- und zielorientiertes Regieren heute, den Staat handlungsfähig zu machen und alle Möglichkeiten zu nutzen, die diesem Ziel dienen können. Dabei gilt es zum einen, Entscheidungen im Rahmen der jeweiligen Verfassungen, der Gesetze und der Institutionen zu suchen, die das Handeln auch bei Dissens erlauben und den gesellschaftlichen Frieden dennoch bewahren. Zum andern wird es notwendig sein, über nationale Grenzen hinweg zu denken, nicht nur zu fragen, wie auf den neuen Feldern besonders leistungsfähige Unternehmen ins Land geholt werden können, sondern auch ein gesellschaftliches Umfeld zu schaffen und ein Bildungssystem aufzubauen, das jeden einzelnen Bürger für das Leben in der neuen Epoche optimal vorbereitet.

Verpasste Chancen

Die technologische Entwicklung wird nicht auf jene demokratischen Staaten warten, die sich mit ihren politischen Diskursen Zeit lassen oder nicht in der Lage sind, sachlich begründete Entscheidungen herbeizuführen. Denn die Globalisierung macht vor der Wissenschaft und Forschung genau so wenig Halt wie vor der Wirtschaft. Immer häufiger ist zu beobachten, dass sich in den neuen Technologien führende Forscher und Unternehmen der staatlichen Bevormundung entziehen und ihre Wirkungsstätte nach Kriterien der Qualität staatlicher Institutionen und nach dem Freiheitsgrad für ihre Aktivitäten wählen. So erhält nach der Wirtschaft auch die Gesellschaft zumindest mit ihren fortgeschrittensten Repräsentanten eine immer stärkere internationale Dimension. Gleichwohl wird von den Kritikern dieser Entwicklung vielfach übersehen, dass die deutlich geringere Bindung zur eigenen Nation nicht nur wesentlich dazu beiträgt, den Veränderungsprozess zu beschleunigen. Mit der Verlagerung wichtiger Kapazitäten auf dem Gebiet der neuen Technologien zeichnen sich auch bereits die Umrisse neuer Machtstrukturen im internationalen System ab.

In der Rangliste der Staaten werden künftig jene ganz oben stehen, die mit Blick auf den technologischen Fortschritt die größte Offenheit und den weitesten Handlungsspielraum gewähren. Und es werden diejenigen Staaten zurückfallen, die sich den Veränderungen entgegenstellen und wichtige Bereiche der Forschung und technologischen Entwicklung mit Verboten belegen. Dabei sollten die Repräsentanten dieses Kurses nicht erwarten, später rasch wieder Anschluss finden zu können, wenn sie ihren Irrtum erkannt haben. Die exponentielle Natur des evolutionären Prozesses bringt es mit sich, dass dessen Avantgarde davoneilt und – anders als im vergangenen Jahrhundert – ein  paradigmatischer Wandel schon innerhalb weniger Jahre dem jeweils vorhergehenden folgt.

Schon heute ist zu erkennen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika trotz einiger widersprüchlicher Verhaltensweisen mächtiger gesellschaftlicher Gruppen zu jenen Nationalstaaten gehören, die dank ihrer pragmatischen Einstellung gegenüber dem technologischen Wandel neue Fähigkeiten erlangen werden, die sich als Quelle der Macht nutzen lassen und neben der weiterentwickelten Militärmacht in vielfältiger Weise in der internationalen Politik zu Buche schlagen. Von den europäischen Staaten dürfte es am ehesten Großbritannien sein, das dem amerikanischen Beispiel folgen und sich nicht von dem bereits eingeschlagenen Kurs abbringen lassen wird. Auch das traditionell wissenschafts- und technologiebegeisterte Frankreich wird sich keineswegs langen Diskussionen widmen, sondern dem technologischen Fortschritt die Türen öffnen. Die Chancen Russlands zur Teilhabe an den neuen Fähigkeiten und den darin liegenden Machtmöglichkeiten werden durch die katastrophalen wirtschaftlichen Rückschläge des vergangenen Jahrzehnts und die derzeit schwache Finanzkraft zwar noch begrenzt. Bedeutende ideologische Widerstände gegen den technologischen Wandel gibt es in Russland jedoch nicht, und das Regime Wladimir Putins wird alles daran setzen, den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt zu fördern.

Im Nahen Osten ist es vor allem Israel, das auf den Gebieten der Nanotechnologie, der Biotechnologie und der Computertechnik im globalen Wettbewerb mithalten kann und seine wissenschaftlichen Eliten nicht durch gesetzliche Beschränkungen behindert. Auch in Asien – vor allem in Singapur, Taiwan, China, Japan, Südkorea und Australien – sind die Chancen und Möglichkeiten der neuen Technologien längst erkannt worden. Die erfolgreiche und weitgehend unbeschränkte Mitwirkung in diesem nicht nur für die Wirtschaft so wichtigen Bereich steht in diesen Ländern auf der politischen Tagesordnung an oberster Stelle. Dabei wird nichts dem Zufall überlassen, gilt es doch, dem jeweils eigenen Land neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen.

Neue Chancen und Gefahren

War es im vergangenen Jahrhundert noch mit weitem Abstand die traditionelle, auf zahlreichen Waffensystemen und Truppen beruhende militärische Macht und die wirtschaftliche Stärke, die den politischen Rang und die Handlungsmöglichkeiten eines Landes bestimmten, so zeichnet sich bereits zu Beginn des 21. Jahrhunderts ab, dass zunehmend auch jene Machtquellen in der internationalen Politik eine Rolle spielen werden, die auf den neuen Technologien beruhen. Sie können nicht nur auf direkte Weise das politische Gewicht eines Staates vergrößern und dessen Fähigkeit verbessern, die eigenen Interessen durchzusetzen. Die Kapazitäten auf den Feldern der Nanotechnologie, der Gen- und Computertechnologie lassen sich auch zu militärischen Zwecken verwenden und werden – kaum, dass der Einfluss der Informationstechnik modernsten Stiles in diesem Bereich voll verkraftet wurde – erneut einen revolutionären Wandel im Militärwesen zur Folge haben.

Die Anwendung der neuen Technologien in den Streitkräften wird sich im Übrigen nicht allein darauf beziehen, dass die künftigen Waffensysteme wesentlich schneller, einfacher und wirksamer als bisher eingesetzt werden können. Vielmehr eröffnen vor allem die enormen Fortschritte in der Gentechnik und der Nanotechnologie die Möglichkeit, völlig neuartige Waffen zu entwickeln. Ungeachtet der internationalen Ächtung entsprechender Forschungen dürfte sich insbesondere die Bandbreite biologischer Waffenprogramme erheblich vergrößern. So könnten beispielsweise Waffen produziert werden, die bestimmte Krankheiten verursachen, Resistenzen gegen vorhandene Impfstoffe erzeugen oder gezielt die Nahrungsgrundlage eines Landes zerstören.

Mit Blick auf diese Entwicklung ist zum einen bemerkenswert, dass die Grenzen zwischen therapeutisch nutzbarer Gentechnik und Bioforschung zu militärischen Zwecken zunehmend verschwimmen. Mit Verboten und neuartigen Methoden der Überwachung und Kontrolle wird man diesen gefährlichen Machtmöglichkeiten noch weniger beikommen können als der militärischen Nutzung der Nukleartechnik. Zum anderen ergeben sich zusätzliche Gefahren aus der Tatsache, dass selbst einzelne Extremisten, internationale Terrorgruppen oder manche „Problemstaaten“ vor allem in den Krisenzonen der Welt diese neuen Technologien erwerben und missbrauchen können. Sie benötigen dazu weder kostspielige Großanlagen noch seltene Materialien, sondern lediglich den Zugang zu dem jeweils spezifischen Wissen. Die militärische Nutzung der neuen Technologien wird die internationale Politik daher vor größere Probleme stellen, als es die Nukleartechnik jemals tat. Insbesondere vor dem Hintergrund der jüngsten Erfahrungen mit dem internationalen Terrorismus dürfte der Ruf nach wirksamen Regeln und Kontrollen für die neuen Technologien wieder stärker werden.

Ausblick

Trotz der nicht zu übersehenden Gefahren ist es angesichts des globalen Wettbewerbs und der Unaufhaltbarkeit des evolutionären Prozesses ein politischer Imperativ, an der Entwicklung und Anwendung der neuen Technologien teilzuhaben. Dabei wird den Akteuren im internationalen System relativ wenig Zeit zur Verfügung stehen, um sich in realistischer Weise und gleichzeitig verantwortungsvoll auf die Chancen und Risiken des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts einzustellen. Es gibt dazu keine Erfolg versprechende Alternative, denn die Auswirkungen der neuen Technologien werden auch jene Akteure und Individuen erfassen, die sich dem Wandel entgegenzustemmen suchen.

Im Zuge des vor unseren Augen ablaufenden Prozesses werden sich nicht nur neue Machtstrukturen im internationalen System herausbilden. Auch die internationale Politik wird veränderter Regeln bedürfen. Sie werden darauf zugeschnitten sein müssen, die mit den neuen Technologien aufkommenden gewaltigen Machtmöglichkeiten einzugrenzen und die damit verknüpften Risiken zu beherrschen.

Anmerkung

1  Gebiet der physikalischen Grundlagenforschung und Halbleitertechnik, das die Manipulation von Materie im atomaren Maßstab erlaubt; dient u.a. zur Herstellung kleinster Bauelemente.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2002, S. 58 - 62.

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