Mut zum Kurswechsel
Klima schützen und die Wirtschaft fördern: So stellt die Corona-Krise die Weichen für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft.
Wir schreiben das Jahr 2040. Das Pariser Klimaabkommen von 2015 wurde von vielen Staaten erfolgreich umgesetzt: Seit 2020 sinken die Treibhausgasemissionen kontinuierlich. In einem gemeinsamen Kraftakt von Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist es gelungen, den weltweiten CO2-Ausstoß bis 2030 deutlich zu senken und damit die Erderwärmung zu begrenzen. Die Welt ist auf dem Weg zur CO2-Neutralität.
Europa hat große Schritte gemacht, um bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Erneuerbare Energien wurden weitreichend ausgebaut. Strom aus Wind- und Solaranlagen ist in den meisten Staaten, vor allem in den bevölkerungsreichen Schwellenländern, längst kostengünstiger als Strom aus Kohle, Öl und Erdgas. Mit Energie aus regenerativen Quellen wird synthetischer Kraftstoff hergestellt, der den Einsatz von Kerosin und Diesel sukzessive überflüssig macht. Zehn Jahre nach dem gesetzten Zieldatum der Agenda 2030 ist die weltweite extreme Armut, allen Prognosen zum Trotz, besiegt: Lag sie 2030 noch bei 6 Prozent der Weltbevölkerung, ist sie durch den entschlossenen Kampf gegen den Klimawandel gerade in den armen ländlichen Regionen fast auf null gesunken. Die Zahl der Klimaflüchtlinge hat sich enorm verringert.
Ein Bild der Fantasie oder der Realität? Ob dieser Zustand der Erde noch zu verwirklichen ist, entscheidet sich jetzt. Es wird maßgeblich sein, welche Antwort wir auf die wohl schwerste Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg finden, die die Corona-Pandemie der Weltgemeinschaft aufbürdet. Die Debatte wird kontrovers geführt: ein Zurück zum Status vor Corona, zur alten Wirtschaftsweise mit immer mehr und immer schnellerem Wachstum in einigen Weltregionen zulasten von Ressourcen, lokalen Märkten und Klima? Oder eine entschlossene Ausrichtung auf das Ziel einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft – nicht nur in den Industrieländern, sondern weltweit?
Interessanterweise sind es Entwicklungsländer, die sich angesichts der massiven Wirtschaftseinbrüche nach Corona klar für eine sozial-ökologische Kurswende einsetzen: „Building back better“, forderten jüngst mehr als 50 afrikanische Länder in einem Impuls der African Adaptation Initiative. Sie verbanden dieses Ziel mit dem klaren Anspruch, Corona nicht nur als Krise zu betrachten, sondern als eine Chance, wirtschaftliche Entwicklung und Investitionen konsequent auf strukturbildende, klimaneutrale und nachhaltige wirtschaftliche und soziale Ziele auszurichten. Dadurch ließen sich pandemische Risiken reduzieren, Klimaresilienz aufbauen und der wirtschaftliche Aufschwung stärken.
Gewiss: Corona startete als Gesundheitskrise. Aber längst besteht Konsens darin, dass sie zugleich Symptom einer existenziellen Umwelt- und Klimakrise ist. Deren Folgen sind durch die Pandemie noch sichtbarer geworden – und sie vervielfachen sich. Corona trifft uns in den drei Schlüsseldimensionen nachhaltiger Entwicklung: Wir müssen erhebliche Risiken für Umwelt und Klima angehen, gleichzeitig unmittelbar wirtschaftlichen Aufschwung erzielen und dies sozial gerecht gestalten. Unsere Erfahrungen in der internationalen Zusammenarbeit zeigen: Nur wenn wir den schwierigeren, da ganzheitlichen Weg wählen, werden wir Entwicklung langfristig und damit nachhaltig voranbringen.
Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit begegnet den multiplen Anforderungen deshalb mit einem sektorübergreifenden Ansatz, der von den Vereinten Nationen als „Sendai-Prozess“ beschrieben wurde: Kooperationsländer werden dabei unterstützt, Risiken frühzeitig zu erkennen, Resilienz für künftige Krisen aufzubauen und ihre Entwicklungserfolge abzusichern.
Stabile Strukturen aufbauen
Die Folgen der Pandemie kamen und kommen in den Entwicklungsländern mit Verzögerung an – dafür mit umso verheerenderen existenziellen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche: Gesundheit, Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung, Wirtschaft und Beschäftigung, politische Teilhabe, Schutz von Biodiversität und die nachhaltige Nutzung von Ressourcen. Die Weltbank prognostizierte allein für Subsahara-Afrika die erste Rezession nach 25 Jahren: Nach Wachstumsraten von 2,4 Prozent im vergangenen Jahr, so die Warnung, könnte die Wirtschaft 2020 um 2,1 bis 5,1 Prozent einbrechen.
Corona droht, Entwicklungsfortschritte aus den vergangenen Jahren zunichte zu machen. Ausgangssperren, Produktions- und Nachfrageausfälle führten nach Angaben der Weltarbeitsorganisation allein von April bis Juni dieses Jahres zu einem Verlust von weltweit 400 Millionen Arbeitsplätzen. Von mehr als 600 von der GIZ im Rahmen eines überregionalen Projekts befragten kleinen und mittleren Unternehmen für erneuerbare Energien in Afrika, Asien und Südamerika kann nur ein Viertel einen Corona-bedingten Lockdown von drei Monaten stemmen. Damit drohen ganze Märkte für Erneuerbare Energien zu verschwinden.
Bei allen diesen Punkten leistet Entwicklungszusammenarbeit einen Beitrag zur Pandemiebewältigung: Sie setzt darauf, langfristig stabile Strukturen und resiliente Wirtschafts- und Sozialsysteme aufzubauen. In der Corona-Pandemie zeigte sich, dass Länder, die ihre Gesundheitssysteme in der Vergangenheit strukturell gefestigt haben, mit der Krise besser umgehen können. Ein Beispiel ist Liberia, wo infolge der Ebola-Epidemie (2013–2015) das Gesundheitssystem deutlich ausgebaut wurde. Dort stehen in der aktuellen Gesundheitskrise zentrale Instrumente für das Krisenmanagement zur Verfügung: Seuchenvorsorgepläne, Labordiagnostik und Informationssysteme, um Menschen im Land schnell zu informieren.
Für einen grünen Wiederaufbau
Wie können Modelle aussehen, die aus der Gesundheitskrise einen besseren, da widerstandsfähigeren Ausweg bieten? Modelle, in denen von Anfang an wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklung berücksichtigt werden? Einige Entwicklungs- und Schwellenländer machen bereits vor, dass das geht. Zum Beispiel Costa Rica, das in seiner Wirtschaftspolitik die sozialen und nachhaltigen Auswirkungen mitdenkt und heute bereits 98 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen bezieht.
Den größten Teil der CO2-Emissionen kompensiert Costa Rica über wachsende Waldflächen – eine der größten Erfolgsgeschichten des Landes: Während in den 1980er Jahren Costa Rica das Land mit der größten Abholzungsrate war und nur noch ein Fünftel der Landesfläche aus Wald bestand, wächst heute auf mehr als der Hälfte (54 Prozent) wieder Regenwald, Tendenz steigend. Dieser Erfolg ist auch darauf zurückzuführen, dass die Regierung Anreize für Landwirte schuf, Weideflächen wieder aufzuforsten und sie mit Geldern aus einem Waldfonds unterstützte. Neben den positiven Klimaeffekten der Aufforstung sicherte dies auch Arbeitsplätze.
Um das Land zu Klima- und Umweltschutz zu bewegen, mussten und müssen Regierung, Landwirte, Privatunternehmen, Bürgerinnen und Bürger an einem Strang ziehen. Denn Herausforderungen bleiben: CO2-Emissionen entstehen in Costa Rica vor allem durch Verkehr, Landwirtschaft und Abfallentsorgung; im Jahr 2015 betrugen sie insgesamt fast elf Millionen Tonnen. Gegenwärtig sind 53 Prozent aller Emissionen auf den Verkehr zurückzuführen. Um dem entgegenzuwirken, werden mehr Fuß- und Radwege gebaut, der öffentliche Personenverkehr modernisiert und Anreize für Elektromobilität geschaffen.
Und: Elektromobilität bedarf neuer Jobs – ob Fahrer, Mechaniker oder Installateure. Darüber hinaus tragen nachhaltigere Anbaumethoden in der Landwirtschaft zum Bodenerhalt bei, sparen Geld und steigern die Produktivität und damit auch das Einkommen vieler Landwirte. Im Rahmen eines „grünen Aufschwungs“, des sogenannten „Green Recovery“, sollen zudem kleine und mittelständische Betriebe darin unterstützt werden, nachhaltige Ideen voranzubringen: von neuen Recyclingtechnologien über klimafreundliche Mobilität bis zu alternativen Nutzungsmethoden landwirtschaftlicher Produkte während der Pandemie.
Weltweit muss beim Wiederaufbau nach Corona ein mutiger Kurswechsel hin zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft gelingen: Wenn wir mit öffentlicher und privater Finanzierung und nachhaltigen Maßnahmen nicht nur dabei helfen, die unmittelbaren sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und politischen Folgen der Pandemie zu bewältigen, sondern auch die Weichen für Strukturreformen und einen Wandel in Richtung Nachhaltigkeit, Resilienz und Klimaneutralität stellen, dann investieren wir in eine Wirtschaft, die zukunftsfähig ist, unsere Wettbewerbsfähigkeit langfristig steigert und uns global widerstandsfähiger macht.
Ein weiteres Beispiel zeigt, welche positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen durch nachhaltige Technologie entstehen können: das Programm „Energizing Development“ (ENDEV), das die GIZ für Deutschland und vier weitere europäische Länder koordiniert. ENDEV fördert in mittlerweile 25 Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika den Zugang zu energieeffizienter und nachhaltiger Energie. Denn immer noch haben 840 Millionen Menschen, das heißt jeder neunte Erdenbürger, keinen Strom: 2,7 Milliarden Menschen kochen mit Holz, Holzkohle oder Pflanzenresten. Sie schaden durch Abholzung nicht nur der Umwelt, sondern aufgrund der gefährlichen Rauchentwicklung auch ihrer Gesundheit. Mit dem Programm ENDEV haben 22,9 Millionen Menschen auf drei Kontinenten in ihren privaten Unterkünften nunmehr Strom und energieeffiziente Kochherde. Und mehr als 27 000 soziale Einrichtungen sowie 53 000 kleine und mittelständische Unternehmen nutzen nachhaltige Energie.
ENDEV wird seit 2005 in enger Zusammenarbeit mit Ministerien und lokalen Behörden sowie mit Wirtschaftsunternehmen vor Ort entwickelt und umgesetzt: Gesetze und Rahmenbedingungen werden angepasst, Unternehmen begleitet; so entstehen neue Unternehmen und Arbeitsplätze.
Diese Beispiele zeigen: Klimafreundliche Methoden bieten Chancen, dem Klimawandel langfristig effizient zu begegnen. Und: Sie können gleichzeitig wirtschaftlich sein.
Weltweiter Kurswechsel erforderlich
Wir müssen gar nicht bis zur Weltklimakonferenz COP 26 im November 2021 in Glasgow warten, sondern sind heute schon auf europäischer wie internationaler Ebene Zeugen einer Kontroverse, die sich um die Frage dreht: Wie viel Klimaschutz und Nachhaltigkeit können wir uns leisten, während wir eine schwere Wirtschaftskrise managen? Dabei müsste die Frage mit Blick auf die Verbindung von ökologischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen vielmehr lauten: Was setzen wir aufs Spiel, wenn wir den Kurswechsel weltweit jetzt nicht hinbekommen?
In diese Zeit fällt die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Sie steht vor der Aufgabe, zugleich die bisher schwerste Wirtschafts- und Gesundheitskrise und ihre Auswirkungen zu bewältigen und dem Klimawandel zu begegnen. Dazu gehört die Herausforderung, den 2019 durch die EU-Kommission auf den Weg gebrachten „Green Deal“ umzusetzen. Mit diesem ambitionierten Programm soll die EU bis 2050 die Netto-Emissionen von Treibhausgasen auf null reduzieren und somit Europa als erster Kontinent klimaneutral werden. Das wird nur gelingen, wenn konsequente Gesetze folgen und umgesetzt werden.
Wie in der EU gilt auch für internationale Entwicklung: Nur wenn wir die wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie zusammen in den Blick nehmen und bekämpfen, wird es uns gelingen, gestärkt und zukunftsfähig aus der Krise hervorzugehen. Und zwar mit mehr und nicht mit weniger internationaler Zusammenarbeit.
Tanja Gönner ist Vorstandssprecherin der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).
Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 92-95
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