Essay

25. Juni 2021

Mit Mut und Improvisation

Der 25-jährige Wilhelm Cornides gründet direkt nach dem Zweiten Weltkrieg das Europa-Archiv, aus dem später die IP hervorgeht. Eine Rede zur Feier des 75. Geburtstags des langjährigen Chefredakteurs Hermann Volle im Jahr 1992 zeichnet ein sehr persönliches Bild der Anfänge unserer Zeitschrift.

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Bild: Eingang des Chatham House in London
Benchmark: Schon vor dem Krieg hatten Wilhelm Cornides und Hermann Volle etwa zeitgleich das Chatham House kennen- und schätzen gelernt.
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Verehrte Anwesende, lieber Herr Volle, dieser feierliche Anlass, zu dem alte und neue Mitglieder sowie Freunde der Europa-Archiv-Redaktion so zahlreich erschienen sind, soll auf Vorschlag unseres Jubilars auch Gelegenheit zu einem kurzen Rückblick auf Gründung und Anfänge der Zeitschrift sein, genauer: die Entwicklung bis 1952, als das Europa-Archiv in das Frankfurter Institut für Europäische Politik und Wirtschaft eingegliedert wurde, das spätere Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.



Diese Aufgabe hat Herr Volle mir übertragen, da ich mich seit einiger Zeit im Rahmen einer größeren wissenschaftlichen Arbeit mit der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und damit auch ihrer Zeitschrift beschäftige.



Über das frühe Europa-Archiv zu sprechen, heißt natürlich in erster Linie über seinen Gründer Wilhelm Cornides zu sprechen. Unmittelbar nach Kriegsende 1945 hatte der in München aufgewachsene, damals 25-jährige österreichische Verlegersohn den politisch wie wirtschaftlich riskanten Entschluss gefasst, aus eigenen privaten Mitteln eine außenpolitische Zeitschrift nebst Materialsammlung ins Leben zu rufen.



Ein einjähriger Bildungsaufenthalt im liberalen Großbritannien noch vor dem Krieg hatte bei dem 18-Jährigen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen und zu eigenen publizistischen Zukunftsplänen angeregt. Neben dieser Prägung und der intellektuell anregenden Atmosphäre seines Münchner Elternhauses war für Wilhelm Cornides dann Wien zu einer weiteren wichtigen Stätte des geistigen Reifeprozesses geworden. Im Kriegswinter 1942/43 machte er dort während eines Studienurlaubs die Bekanntschaft von Otto Molden, der ihn in das Haus seiner Eltern einführte, eines bekannten Wiener Schriftsteller-Ehepaars, wo im Zeichen des geistigen Widerstands junge Studenten, Universitätsdozenten und andere über die notwendige geistige Neuorientierung nach dem Krieg diskutierten.



Seinem Freund Otto Molden, der sich später als Publizist einen Namen machen sollte, schlug Wilhelm Cornides kurz nach Pfingsten 1943 – also wenige Monate nach Stalingrad – die Vorbereitung einer Schriftenreihe vor, die sofort nach Kriegsende positive Vorschläge für den Wiederaufbau zum Gegenstand haben sollte. Beide träumten in der Schlussphase des Krieges davon, „eine ‚Europäische Verlagsanstalt‘ mit Buchhandlungen und Barsortimenten in ganz Deutschland und Österreich zu gründen“. Neue, im Wesentlichen genossenschaftliche Vertriebsformen sollten für dieses Projekt – der Keimzelle des Europa-Archiv – eingeschlagen werden, um auch die Jugend und die breiten Massen der Arbeiterschaft zu erreichen.



Nur neun Tage nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Ende Juni 1945 beantragte Cornides die Registrierung des Unternehmens Europa-Archiv – der Name verknüpfte die Ablehnung jeder Form von Nationalismus mit dem Anspruch auf wissenschaftlich aufgearbeitete Information. Eigentliches Gründungsdatum des Europa-Archiv ist der 5. Juli 1945 mit der von der Militärregierung ausgefertigten „Urkunde der Registrierung“, einer vorläufigen Arbeitsgenehmigung für Cornides auf dem Nachrichtensektor.



Hinsichtlich der Ortswahl Frankfurt war für Cornides die Überlegung ausschlaggebend, dass die stark zerstörte Mainmetropole gute Chancen besaß, Sitz einer zentralen Verwaltung und damit auch der ausländischen Vertretungen zu werden. 1945 waren die Möglichkeiten für die deutsche Intelligenz, sichere Informationen über die Entwicklungen im Ausland zu gewinnen, praktisch gleich null. Das karge Material, das den Nachrichtenkonsumenten erreichte, stammte von den offiziellen Agenturen DANA beziehungsweise DPD und ansonsten eher zufälligen Quellen.



Das Europa-Archiv war folglich in seiner ersten Organisationsform eine Art Vertriebsunternehmen für in- und ausländische Zeitungen und Zeitschriften. Cornides plante darüber hinaus die Veröffentlichung eines Informationsdiensts und die Herausgabe einer Zeitschrift. Da eine Lizenz für die Veröffentlichung einer Zeitschrift damals nur an Verlage erteilt wurde und Sondierungen mit existierenden Verlagen ergebnislos verliefen, entschloss sich der 25-Jährige noch im Sommer 1945, einen eigenen Verlag zu gründen.



Die Lizenzvergabe durch die US-Nachrichtenkontrolle zog sich bis zum März 1946 hin. Die Amerikaner standen dem Plan einer vorwiegend politischen Zeitschrift recht misstrauisch gegenüber. „Schon das Wort ‚Europa‘ war ja damals suspekt“, erinnerte sich Cornides später, und tatsächlich kam er kurze Zeit gar in den absurden Verdacht, eine Nazi-„Werwolforganisation“ aufziehen zu wollen.



Die Ziele seines Unternehmens umschrieb der Verlagsgründer in einer privaten Aufzeichnung vom Februar 1946 dahingehend, die durch die Jahre der Diktatur entstandenen Wissenslücken „zunächst einmal für das Gebiet der vordringlichsten Aufbauprobleme in Politik, Wirtschaft und Kultur sachlich und technisch einwandfrei auszufüllen“ und zugleich „praktische Vorarbeiten für eine europäische Verständigung zu leisten“.



In den Monaten bis zur Lizenzierung waren die Vorbereitungen auf Hochtouren gelaufen. Verlag und Redaktion hatten im Herbst 1945 eine bescheidene Unterkunft in einem ehemaligen Sargmagazin und Holzlager in Oberursel bei Frankfurt gefunden – der Umzug nach Frankfurt erfolgte erst nach knapp fünf Jahren. Da Möbelstücke nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren, ersetzten vorerst gebündelte Zeitungsstapel andere Sitzgelegenheiten. Der Aufbau eines Redaktionsarchivs wurde durch Cornides sorgfältig in die Wege geleitet. Unterstützt wurde er dabei insbesondere von Gertrud Becker. Die ehemalige Feuilletonredakteurin bei der Frankfurter Zeitung leitete im Spätsommer 1945 das Presseamt der Stadt Frankfurt, bevor Cornides sie für die Mitarbeit als Leiterin des „Kultur-Archivs“ gewinnen konnte.



Zur gleichen Zeit begab sich Wilhelm Cornides auch auf die Suche nach einem erfahrenen Nachrichtenredakteur und lernte dabei im Herbst 1945 in Innsbruck Hermann Volle kennen – eine Begegnung mit Folgen. Der gelernte Eisen- und Stahlkaufmann aus Bochum hatte ebenfalls vor dem Krieg einen Sprachaufenthalt in England absolviert, wo er etwa zeitgleich mit Cornides das Chatham House kennengelernt hatte. Im März 1939 kehrten beide auf dem gleichen Schiff nach Deutschland zurück – ein in der Tat ungewöhnlicher Zufall. Nach dem Arbeitsdienst und Dienstverpflichtung in der Rüstungsindustrie wechselte Volle im Juli 1940 nach Berlin zum ausländischen Rundfunkabhördienst des Auswärtigen Amtes, ein Jahr später wurde er einberufen, blieb aber weiter als Englisch-Dolmetscher tätig.



Politisch unabhängig und dem Nationalsozialismus gegenüber immun – wozu nicht zuletzt die Begegnung mit der liberalen britischen Presse beigetragen hatte –, war Volle 1944 in Berlin mit Mittelsmännern der österreichischen Widerstandsbewegung in Kontakt getreten, denen er sie betreffende Auslandsnachrichten zuspielte. Die Verbindung zum Kreis um den Kopf des Tiroler Widerstands, Karl Gruber, veranlasste ihn, sich bei Kriegsende nach Innsbruck abzusetzen. Auf Initiative Grubers, inzwischen Chef der Tiroler Landesregierung, wurde Volle Anfang Mai 1945 beauftragt, einen Rundfunkabhördienst zur Unterrichtung der wichtigsten Landesstellen aufzubauen, den sich unter seiner Leitung rasch entwickelnden „Tiroler Nachrichtendienst“.



Doch aus persönlichen und beruflichen Motiven zog es Hermann Volle schon bald nach Deutschland zurück. Es kann nicht überraschen, dass er sich schnell für die hochfliegenden und ihn faszinierenden Pläne Wilhelm Cornides’ gewinnen ließ. Beide kamen überein, dass Volle als Verlagsgeschäftsführer und Redakteur nach Oberursel kommen sollte, wo er rechtzeitig zur Fertigstellung der ersten Europa-Archiv-Folge eintraf, die im August 1946, als Juli-Nummer deklariert, erscheinen konnte.



Wilhelm Cornides hatte sich am Ende seiner Planungen dafür entschieden, das Europa-Archiv bis auf Weiteres in einer möglichst aktuellen monatlichen Zeitschriftenausgabe erscheinen zu lassen. Im sogenannten „Leitfaden“ der ersten EA-Folge machte der jugendliche Herausgeber die Leser mit dem Ziel der Zeitschrift vertraut, „die in der In- und Auslandspresse, in Zeitschriften- und Buchveröffentlichungen verstreuten Daten und Berichte zu den wesentlichen Zeitfragen in Politik, Wirtschaft und Kultur [zu] sammeln“. Das Europa-Archiv war dabei nach seinen Worten als eine Art „publizistische ‚Erntehilfe‘“ gedacht. Die Einzelfolgen gliederten sich in die Abschnitte „Politisches Archiv“, „Archiv für Verwaltung und Wirtschaftsaufbau“ – später „Wirtschafts-Archiv“ – und das „Kultur-Archiv“. Nach kurzer Zeit wurde der Beitragsteil durch den Abdruck wichtiger Dokumente in Originalwortlaut beziehungsweise Übersetzung sowie Zeittafeln ergänzt.



Was die inhaltliche Seite betraf, galt die Devise, dass nicht politisch-gesellschaftliche Kommentare dem Europa-Archiv sein spezifisches Gepräge verleihen sollten, sondern möglichst objektive und umfassende Information und Dokumentation. Am Meinungsstreit wollte sich die Redaktion ausdrücklich nicht beteiligen. Auch auf die Erörterung der geistig-politischen Grundlagen der Europa-Archiv-Arbeit wurde seitens der Redaktion weitgehend verzichtet. Der junge Herausgeber sah ebenso davon ab, sich unmittelbar an der in anderen Periodika lebhaft geführten Debatte um die politische und gesellschaftliche Zukunft zu beteiligen. Cornides’ eigene, den Grundtenor der Zeitschrift prägende politische Vorstellungen fanden daher innerhalb der Zeitschrift nur in gelegentlichen persönlichen Vor- und Randbemerkungen des Herausgebers ihren Niederschlag.



Anlässlich einer Leserumfrage knüpfte die Redaktion im November 1946 an ein Zitat von Hugo von Hofmannsthal an: „Wir sehen Europa (...) als die geistige Grundfarbe des Planeten, das Europäische als Maßstab, an dem die jeweiligen nationalen Forderungen zu messen und zu korrigieren sind.“ Darunter sei, verdeutlichte Cornides an anderer Stelle, keine zeitlose „abendländische Idee“ zu verstehen, sondern „eine besondere Art des geistigen Gleichgewichts, das in verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte von einzelnen wie von ganzen Völkern errungen wurde und dadurch auch heute als geistiger Anspruch und als Möglichkeit für die Zukunft vorhanden ist“.



Die Jahre 1946 bis 1948 waren die goldenen Jahre des Europa-Archiv. Dies galt zunächst für den verlegerischen Erfolg – persönlicher Mut und Improvisationsgabe machten sich jetzt bezahlt. Die monatliche Auflagenhöhe wurde seit September 1946 mit 10 000, seit Juli 1947 sogar mit 12 000 Exemplaren angegeben, wobei noch mehr Hefte hätten verkauft werden können, wäre mehr Papier verfügbar gewesen.



Es müssen an dieser Stelle einige Hinweise genügen, um einen Eindruck von der gewaltigen Leistung der Redaktion zu vermitteln, der es bald gelang, Autoren von Rang für die Mitarbeit zu gewinnen – wie den späteren Bundestagspräsidenten Hermann Ehlers und aufstrebende Wissenschaftler wie Eberhard Menzel, Boris Meissner, Günter Schmölders oder Wolfgang Abendroth.



Die wichtigsten Ergebnisse der erwähnten Leserumfrage vom November 1946 lauteten: 41 Prozent der Teilnehmer wünschten die „vordringliche Behandlung der Probleme der europäischen Friedensordnung einschließlich der Frage der Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn“, 18 Prozent der Einsender bekundeten ihr primäres Interesse an osteuropäischen Themen. Damit stimmte in etwa die große Linie überein, die die Berichterstattung der Gründerjahre verfolgte: Aufbau und Arbeit der neugeschaffenen internationalen Organisationen, die Verhandlungen der Siegermächte, der beginnende Kalte Krieg und der Wiederaufbau in Deutschland im Zeichen der Verfestigung des „Systems der Provisorien“, wie der Titel einer mehrteiligen Artikelserie zum deutschen Verwaltungsaufbau lautete. Die auf Jahrzehnte gültige Teilung Europas und Deutschlands bahnte sich an. „Der Herausgeber brauchte sich nur die Hand führen zu lassen“, fasste Cornides rückblickend den Tenor der damaligen Berichterstattung zusammen, „und die Zeit-Schrift [sic] wurde wie von selbst zur Chronik der großen Täuschungen und Enttäuschungen.“



In den ersten Jahren war die thematische Anlage der Zeitschrift extrem breit; auch für den kulturellen Bereich war das Europa-Archiv eine herausragende Informationsquelle. Die Leser wurden nach den Jahren von Diktatur und Krieg sorgfältig über das Wiederaufblühen von Kultur und Wissenschaft im In- und Ausland informiert.



Eine zentrale Bedeutung errang schließlich der von August 1947 an selbständige Dokumentationsteil des Europa-Archiv mit dem Abdruck damals schwer zugänglicher internationaler Vereinbarungen oder außenpolitischer Reden ausländischer Politiker. Die wissenschaftliche Zuverlässigkeit bei der Bearbeitung dieser Texte sicherte dem Europa-Archiv nicht nur wissenschaftliche Anerkennung, sondern auch auf lange Jahre eine einzigartige Stellung in der deutschsprachigen Publizistik.



Dabei waren in der Redaktion keineswegs erfahrene wissenschaftliche und journalistische Profis am Werke – sieht man von der einzigen gelernten Journalistin im Bunde, Gertrud Becker, einmal ab. Die damalige Atmosphäre der Arbeit wird in einer Erinnerung Marion Gräfin Dönhoffs an ihren ersten Besuch in der Europa-Archiv-Redaktion Ende der vierziger Jahre deutlich: „In zwei kleinen, eiskalten Zimmern saß da eine Handvoll junger Leute, alle etwa Mitte Zwanzig, zwischen Bergen von Staub und Papier.“ Alle seien sie „beseelt von dem Wunsch [gewesen], Europa zu bauen und den Frieden mitzugestalten“.



Leitender Redakteur war von Anfang an Hermann Volle, seit Januar 1949 offiziell Chefredakteur. In der Zeit davor traten nach außen Wilhelm Cornides, Hermann Volle und Gertrud Becker, die Leiterin des „Kultur-Archiv“, als verantwortliche Redaktionsmitglieder in Erscheinung. Daneben gehörten der Redaktion eine Reihe jüngerer Wissenschaftler an wie die Wirtschaftsredakteurin Sophie von Ungern-Sternberg beziehungsweise als ständige Mitarbeiter der junge Orientalist Fritz Steppat, der früh verstorbene Historiker Hermann Hackert, Alexander Kohn-Brandenburg und Heinz Fischer-Wollpert, der auf Fragen des britischen Commonwealth spezialisiert war. Zu den ältesten im Europa-Archiv fest angestellten Redakteuren zählen Erika Feldmann, Herbert Rehbein, Ernst Wallrapp und Helmut Löschhorn.



Einen Wendepunkt in der Geschichte des Europa-Archiv stellte die Währungsreform im Juni 1948 dar. Die verkaufte Auflage sackte von 12 400 auf schließlich unter 2000 Exemplare ab. Neben den sich verstärkenden materiellen Schwierigkeiten wurde außerdem der wachsende Konkurrenzdruck durch aktuellere Publikationen beziehungsweise spezialisierte Fachzeitschriften stärker.

Da das bisherige Konzept nicht mehr aufrechtzuerhalten war, rang sich Wilhelm Cornides zu dem riskanten Schritt durch, zum Jahresbeginn 1949 die schon länger geplante Aktualisierung der Zeitschrift durch den Übergang zum 14-tägigen Erscheinen und die Hinwendung zu aktuelleren Themen zu verwirklichen. Die Trennung der Beiträge vom Dokumentationsteil, dessen Bedeutung für das Überleben der Zeitschrift hoch eingeschätzt werden muss, wurde akzentuiert – dafür aber das „Kultur-Archiv“ eingestellt.



Vorrangig wurden künftig die politischen und wirtschaftlichen Implikationen der europäischen Einigung behandelt, unter anderem in einem für das Europa-Archiv ungewöhnlichen Kommentarteil, der „Umschau“. Die Kontroverse, die die Europabewegung zu spalten drohte, war die Diskussion um die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und den westdeutschen Verteidigungsbeitrag. Wie vielerorten wurde auch in der kleinen Europa-Archiv-Redaktion lange über das Für und Wider der Wiederbewaffnung gestritten. Wilhelm Cornides rang sich schließlich zu der Überzeugung durch, dass die militärische Einbindung Deutschlands den Kern der politischen Integration in den Westen bildete.



Die Ablehnung jedes „Dritten Weges“ zwischen Ost und West – und damit die prinzipielle Zustimmung zur außenpolitischen Grundlinie der Regierung Adenauer – sollte jedoch ausdrücklich nicht mit der gesamteuropäischen Orientierung der Redaktion kollidieren. Die regelmäßige Berichterstattung über Osteuropa wurde durch das 1951 eingerichtete „Ost-Archiv“ sogar intensiviert – dies zu einer Zeit, als sachliche Informationen speziell über die Sowjetunion für deutsche Leser nur schwer erreichbar waren.



Die Weiterführung des Europa-Archiv nach 1949 erforderte die Konzentration aller Kräfte des Verlags auf die Fortführung der Zeitschrift und der Materialsammlungen. Die Redaktion schrumpfte Schritt für Schritt auf Wilhelm Cornides und Hermann Volle sowie ein, zwei Mitarbeiter zusammen, darunter Walter Bödigheimer. In einem besonders kritischen Moment trat eine wichtige Atempause ein. Cornides und Volle wurden mit Wirkung vom 1. April 1950 beim amerikanisch finanzierten Frankfurter „Institut zur Förderung Öffentlicher Angelegenheiten“ angestellt, um dort eine Publikationsabteilung aufzubauen. Herausgeber und Chefredakteur konnten dadurch zeitweise nur noch abends für das Europa-Archiv arbeiten, was einer harten Belastungsprobe gleichkam.



Der erste Schritt in Richtung der Erweiterung des Europa-Archiv zu einem europapolitischen Dokumentationszentrum war die im Dezember 1950 vollzogene Gründung der „Europa-Archiv Studienhilfe für internationale Zusammenarbeit“. Private Zuwendungen aus Frankfurter Wirtschaftskreisen sollten die finanzielle Sanierung des Europa-Archiv einleiten. Für das Amt des Vorsitzenden des neuen Trägervereins wurde der Direktor des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten gewonnen, der angesehene ehemalige schleswig-holsteinische Ministerpräsident Theodor Steltzer. Hermann Volle konnte wieder fest im Europa-Archiv angestellt werden. Auf diese Weise wurde die Durststrecke bis zur Verschmelzung des Steltzer-Instituts mit dem Europa-Archiv zum neuen Institut für Europäische Politik und Wirtschaft im Juli 1952 durchgestanden.



Zum Schluss möchte ich noch an die frühen Kontakte des Europa-Archiv zu einer Reihe von ausländischen Forschungseinrichtungen erinnern – vor allem dem Chatham House, dem New Yorker Council on Foreign Relations und dem Pariser Centre d’Etudes de Politique Etrangère, dem heutigen Ifri. Diese Verbindungen gewannen für die spätere Gründung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) große Bedeutung. Unter anderem wurde so aktuelles Dokumentationsmaterial im Tausch gegen das Europa-Archiv erhalten. Nach zunächst nur geringem Erfolg entwickelte sich über die Jahre hinweg ein relativ dichtes Netz persönlicher Beziehungen, um das sich besonders Hermann Volle verdient machte und das zum wichtigsten „Betriebskapital“ des Europa-Archiv zählte. Immer öfter wurde aus dem Ausland der Wunsch geäußert, in Deutschland ein adäquates außenpolitisches Partnerinstitut auf privater und finanziell unabhängiger Basis vorzufinden.



Dieser krönende Schritt glückte erst im Jahr 1955 mit der Gründung der DGAP. Wilhelm Cornides, Hermann Volle und ihre Mitstreiter vom Europa-Archiv hatten diese Entwicklung maßgeblich vorbereitet; sie konnten bei Gründung der DGAP Zeitschrift und Archiv in die Gesellschaft einbringen. Von diesem wertvollen Grundstock für die spätere Tätigkeit der DGAP abgesehen, hatten sie – und darin liegt wohl, in wenigen Worten zusammengefasst, ihre entscheidende Leistung – in den Jahren zuvor, während einer in nahezu jeder Hinsicht schwierigen Zeit, Deutschland auf dem glatten Terrain der Außenpolitik ein erstes, gerade im Ausland anerkanntes und angesehenes wissenschaftliches Sprachrohr zur Verfügung gestellt.

 

Dr. Daniel Eisermann ist Senior Partner bei Berlin Risk. Für seine Dissertation „Außenpolitik und Strategiediskussion. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik 1955–1972“ führte er zahlreiche Gespräche mit Hermann Volle und erhielt Einsicht in das Archiv von Wilhelm Cornides.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 56-61

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