Internationale Presse

31. Okt. 2022

Mit Coupons gegen die Krise

Griechenlands Medien arbeiten sich an einem Abhörskandal ab, die ­Regierung in Athen zelebriert das Ende der EU-Finanzaufsicht. Währenddessen sorgt sich die ­Bevölkerung vor allem um steigende Preise und die Auswirkungen der Inflation.

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Am 20. August, mitten in den Sommerfeien, hielt der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis eine Ansprache an die Nation. Anlass war das Ende der Finanzaufsicht durch die EU. Der 20. August 2022 sei ein historischer Tag für Griechenland und alle Griechen.

Nach zwölf Jahren gehe für das Land eine schmerzhafte Zeit zu Ende, die zu wirtschaftlicher Stagnation und einer Spaltung der Geselschaft geführt habe, erklärte Mitsotakis im Fernsehen. Der Ansprache schenkten die Medien und die meisten Griechen wenig Beachtung.



Auch das Säbelrasseln und die unverhohlenen Drohungen des türkischen Präsidenten Erdoğan – Hey Grieche, merk dir, wir können eines Nachts plötzlich kommen! – zieren nicht die Headlines der Zeitungen und Onlineportale. Nahezu täglich stichelt die Regierung in Ankara gegen ihren griechischen Nachbarn: Dabei geht es um die der türkischen Küste vorgelagerten griechischen Inseln, auf die die Türkei Anspruch erhebt, und um die Frage, wer wo in der Ägäis nach Gas und Erdöl bohren darf.



Es ist vielmehr ein Abhör­skandal, der die Medien derzeit umtreibt, auch wenn er den Großteil der Bevölkerung nur am Rande interessiert. Wie bekannt wurde, hat der griechische Geheimdienst den Journalisten Thanasis Koukakis und den Oppositionspolitiker und Vorsitzenden der PASOK, Nikos Androulakis, telefonisch überwacht. Panagiotis Kontoleon, Chef des Geheimdiensts, und der für den Geheimdienst zuständige Generalsekretär im Amt des Ministerpräsidenten, Grigoris Dimitriadis, sind von ihren Ämtern zurückgetreten. Ein Untersuchungsausschuss wurde einberufen.



Laut einer von MEGA TV am 1. September veröffentlichten Meinungsumfrage stehen in der griechischen Bevölkerung die gleichen Sorgen im Vordergrund wie in ganz Europa: die Wirtschaft, die Teuerung, die Inflation, die Energiekrise.



Die linksliberale Zeitung Efimerida Ton Syntakton (Zeitung der Redakteure) sieht in der Fernsehansprache des Regierungschefs Mitsotakis den Versuch, vom Abhörskandal abzulenken, der die Regierung seit Wochen unter Druck setzt. Aus dem Ende der verstärkten Finanzüberwachung wolle die Regierung politisches Kapital schlagen, meint Marios Christodoulou, Autor des Artikels. In Wirklichkeit bedeute das Ende der Aufsicht aber keine vollständig wiedergewonnene Hoheit über die Finanzpolitik.



Die Überwachung und Bewertung der griechischen Wirtschaft durch die europäischen Institutionen gehe weiter und zwar so lange, bis das Land 75 Prozent seiner erhaltenen Kredite zurückbezahlt hat, was voraussichtlich im Jahr 2059 der Fall sein wird. Die Verpflichtungen aus den unterzeichneten Verträgen bleiben weiterhin bestehen. Die Regierung hofft, dass alles reibungslos vonstatten geht, denn im Herbst müssen einige nicht unerhebliche Verpflichtungen aus den Sparprogrammen erfüllt werden. Ausstehende Renten müssen beglichen und überfällige Schulden und Bürgschaften zurückgezahlt werden.



Unterdessen hat das Land mit einer Inflationsrate von 12 Prozent zu kämpfen. Besorgniserregend für die Regierung ist, dass es seit September eine neue Welle von Preiserhöhungen von bis zu 20 Prozent für 600 Produkte gibt. Das übt Druck auf die Pläne aus, mit denen die Regierung die ­Auswirkungen auf die Einkommen der privaten Haushalte abfedern will.



Einen anderen Aspekt beleuchtet das liberale Nachrichtenportal To Vima. Wohin steuert Griechenland nach dem Ende der Finanzaufsicht? Richtung Balkan oder europäischeres Griechenland, fragt sich der Autor Panajotis Ioakeimidis. In den zwölf Jahren strikter Finanz­aufsicht seitens der EU und seiner Kreditgeber habe das „Labor Griechenland“ viel gelitten – und Europa viel gelernt.



In gewisser Hinsicht hat das ungeschickte und zögerliche Krisenmanagement Europa besser gemacht. Jetzt herrscht eine neue Kultur der Krisenbewältigung, was sich während der Pandemie gezeigt hat. Denn es war die Erfahrung im Umgang mit der griechischen Staatsschuldenkrise, die zur raschen Einrichtung eines Konjunktur- und Resilienzfonds geführt hat. Europa wollte seine in der Griechenland-Krise begangenen Fehler nicht wiederholen.



Darüber hinaus sollte das Ende der Finanzaufsicht der Auftakt für ein glaubwürdiges und europäischeres Griechenland sein, gerade inmitten des Abhörskandals, der die balkanischen Überreste Griechenlands zutage gefördert hat. Defizite bei der Achtung der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte, Pushbacks und Telefonüberwachung haben dem Image des Landes geschadet und es in die Nähe Ungarns und Polens gerückt. Jetzt, da sich ein zwölfjähriges Kapitel schließt und das Land hohe Investitionsraten anpeilt, muss die demokratische Glaubwürdigkeit wiederhergestellt werden.



Auch die liberal-konservative Tageszeitung Kathimerini sorgt sich um den Zustand der griechischen Demokratie. Unter dem vagen Vorwand, die nationale Sicherheit sei bedroht, werden immer mehr richterliche Beschlüsse erlassen, die das Abhören von Telefongesprächen erlauben. Im Vergleich zu 2020 stieg die Zahl um 13 Prozent, im Vergleich zu 2019 um 33 Prozent. Allein 2021 wurden 15 475 Anträge auf einen Lauschangriff genehmigt. Sollten sich tatsächlich über 15 000 Agenten ausländischer Mächte oder Mitglieder der Organisierten Kriminalität oder asymmetrische Krieger einfach so auf offener Straße bewegen, man müsste in Panik geraten, grübelt Pantelis Boukalas, Verfasser des Artikels.



Die Demokratie ist gefährdet

Im Moment geht es nicht darum, welche Partei in den Umfragen gerade an Zustimmung verliert und welche vom Abhörskandal profitiert. Auf dem Spiel steht ein Thema von nationaler Wichtigkeit, nämlich der Schutz der Institutionen, des Parlaments, der Justiz, ja: des Staates selbst. Das Vertrauen der Bürger in die Institutionen ist durch die Abhöraffäre und den Umgang mit ihr ernsthaft erschüttert, und die dabei entstandenen Risse könnten sich zu Brutstätten zwielichtiger Anti-Establishmentkräfte entwickeln, die das Internet bereits zu einem Brutkasten ihrer Vulgarität gemacht haben.



Das liberal-konservative Nachrichtenportal Iefimerida warnt vor Spekulationen seitens der Oppositionsparteien. Die Aufarbeitung des Abhörskandals erfordere Nüchternheit und Verantwortungsbewusstsein. Die Opposition interessiert sich nicht für den Fall als solchen, sondern für seine Ausbeutung. Das Hauptproblem besteht da­rin, dass der Geheimdienst noch immer an einer chronischen Krankheit leidet: Er ist anfällig für politische Gefälligkeiten. Die Priorität muss sein, den Geheimdienst zu reformieren und ihn vor Einflüssen von außen zu schützen, meint Vasilis Konto­giannopoulos. Die Qualität einer Demokratie zeige sich nicht nur in der Transparenz staatlichen Handelns und der garantierten Rechte jedes einzelnen Bürgers, sondern auch in der Qualität der Opposition.



Die Reaktion der Opposition zeigt ihre Unfähigkeit, einen positiven Beitrag zur Lösung der Probleme des Landes und der Gesellschaft beizusteuern. Für SYRIZA ist Kyriakos Mitsotakis das Problem. Alexis Tsipras nannte den Regierungschef „den Anführer einer kriminellen Organisation“. Tsipras Machtverlust macht ihn blind für die Realität: Er zweifelt alle Umfragen an, die ihn in der Opposition sehen.



In der gegenwärtigen Phase, in der die weltweite Energiekrise und Putins Einmarsch in der ­Ukraine Länder wie Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien erschüttern, sind Regierbarkeit und politische Stabilität eine Voraussetzung für das Überleben. Dies gilt insbesondere für Griechenland, das sich der Gefahr eines erdoğanschen Revisionismus ausgesetzt sieht. Als verantwortungsvoller Regierungschef lehnt Mitsotakis alle Forderungen nach vorgezogenen Wahlen ab. Ein mehrmonatiger Zeitraum der Unregierbarkeit und politischen Instabilität wäre für das Land katastrophal.



Efimerida Ton Syntakton bewertet den Lauschangriff naturgemäß ganz anders. Von politischer Dekadenz und einem „­Kyriakos-Gate“ spricht die Genossenschaftszeitung. Der Mann, der das Land regiert, gebe keine substanziellen und überzeugenden Antworten auf die wichtigsten Fragen der Opposition. Ständig greife er zu Lügen, kindischen Ausreden und lächerlichen Erklärungen.



Das Schlimmste sei jedoch, dass Mitsotakis auf dieser Grundlage das Überwachungsregime verteidigt, das er selbst geschaffen hat. Er behauptet, dass die Überwachung von ­Nikos Androu­lakis legal war, weigert sich aber zu sagen, warum sie durchgeführt wurde und warum sie legal ist. Mitsotakis sagt ebenso, dass kein Bürger, Politiker, Journalist, Geschäftsmann oder Arbeitnehmer von der Überwachung ausgenommen sei, was bedeutet, dass es so etwas wie ein Privatleben nicht gibt, weil dieses unter der Aufsicht staatlicher Stellen stehen muss, die es, aus erfundenen oder vorgeschobenen Gründen, verletzen können.



Er wisse nicht und er dürfe nicht wissen, wer vom Geheimdienst überwacht werde, behauptet Mitsotakis. Das bedeutet, dass über der gewählten Regierung, über den Parteien und den demokratischen Institutionen der Geheimdienst steht, den natürlich er, Mitsotakis, leitet. Ist das eine Demokratie? Duldet es Mitsotakis, dass die Geheimdienste des Landes über allem stehen? Oder ist da noch etwas anderes im Gange? Akzeptiert und toleriert er einen obersten Geheimdienst, den er kontrolliert und leitet?



Auch was die Inflation und Energiekrise betrifft, zeigt sich Efimerida Ton Syntakton angriffslustig. Die Bürger erlebten gerade einen Sommer der Verteuerung und Obszönität, schreibt ­Dimitris Kouklouperis. Viele konnten nicht verreisen oder sich nur Tagesausflüge zu nahe gelegenen Stränden leisten. Die Inflation lag im August 2 Prozent über dem Durchschnitt in der Eurozone. Die Verteuerung scheint so dauerhaft zu werden wie die sozial ungerechte Politik der Regierung.



Schlechtes Krisenmanagement

Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Verteuerung und die Energiekrise die mit Abstand größten Sorgen der Bürger sind. Die staatlichen Subventionen werden nicht helfen, und die Mittel sind nicht unerschöpflich. Eine Rezession in ganz Europa steht vor der Tür und wirksame Lösungen sind nicht in Sicht. Eine Begrenzung der Endverbraucherpreise für Energie und eine vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und Kraftstoffe könnten die Auswirkungen des kommenden Tsunamis abfedern. Doch es ist bereits zu spät.



Unzufrieden mit dem Krisenmanagement der Regierung zeigt sich auch die Kathimerini. Der größte Teil Europas stellt sich auf einen harten Winter ein: Präsident Macron stimmt die Franzosen auf Opfer ein; Berlin hat einen radikalen Energiesparplan mit Kürzungen beim privaten Verbrauch eingeführt. Die Rezession bedroht die fortgeschrittensten Volkswirtschaften Europas – nur Griechenland scheint eine Ausnahme zu sein.



Das Land sendet die Botschaft aus, es sei abgesichert, seine Wirtschaft boome und die Pandemie stelle kein wirkliches Problem mehr dar. Alles sei unter Kontrolle. Das ist bei Weitem nicht der Fall. Zwölf Milliarden Euro, das sind 6 Prozent des BIP, werden dieses Jahr für Stromsubventionen ausgegeben. Alle profitieren davon – Arme, Reiche und alle Ferienhausbesitzer.



Keine Anstrengungen werden unternommen, um den Stromverbrauch einzudämmen, was in Anbetracht der Krise das Richtige wäre. Es wird auch nichts unternommen, um das Stromnetz, in das Energie aus erneuerbaren Quellen einspeist wird, zu verbessern. Denn 17 Prozent der Energie gehen auf den Transport- und Verteilungswegen verloren.



Was wir derzeit erleben, ist eine Selbstgefälligkeit, die in weiten Teilen der Gesellschaft und der Regierung durch die fehlgeleitete Vorstellung kultiviert wurde, dass man jede Krise bewältigen könne, indem man mit Geld einfach nur so um sich wirft. Geld, das man unter dem Kissen hervorholt, Geld, das man sich auf Märkten besorgt, die gerne griechische Anleihen kaufen, um sie dann im Schoße von ­Christine Lagarde abzuladen. Und wenn auf den Märkten kein Geld mehr zu holen ist, kann man immer noch Steuergelder eintreiben. Aber was passiert, wenn Zeit und Geld ausgehen?



Die konservative Naftemporiki, Griechenlands führende Wirtschaftszeitung, sieht es ähnlich. Lebensmittelpass, so heißt der neue Gutschein, den die Regierung im Kampf gegen die Inflationswelle auszustellen beabsichtigt. Nach dem Benzinpass und dem Strompass ein weiterer elektronischer Pass, Essen auf Gutschein sozusagen. Das klingt irgendwie beängstigend, meint Natasha Stasinou ironisch. Aber wird das ausreichen? Warum nicht auch ein Schulpass für Schulmaterial und die Cafeteria? Und einen Pass für den Nachhilfeunterricht. Und einen außerschulischen Pass für alle außerschulischen Aktivitäten.



Nein, die privaten Haushalte brauchen nicht jede Art von Unterstützung, um „den schwierigsten Winter seit 50 Jahren“ zu bewältigen. Gutscheine sind keine wirkliche Lösung. Sie sind kein Heil-, sondern ein Schmerzmittel. Inzwischen ist allen klar, dass die aktuelle Krise nicht so schnell vorübergeht. Gutscheine, auch wenn man sie Pass, Voucher oder Coupon nennt, haben in der Regel ein kurzes Verfallsdatum.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 116-119

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Richard Fraunbergermberichtet unter anderem für die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung, GEO und Mare aus Griechenland.

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