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01. Juni 2005

Missverstandener Druck von außen

Über Rolf Hosfelds Buch „Operation Nemesis“ und die aufkeimende türkische Vergangenheitsdebatte

Die ideologischen und politischen Konstellationen während des Ersten Weltkriegs müssen zur Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern herangezogen werden: Er war nicht, wie Hosfeld suggeriert, das Ergebnis eines seit Jahrzehnten gehegten, vorsätzlichen Vernichtungswillens.

Rechtzeitig zum 90. Jahrestag der Massenmorde an den Armeniern des Osmanischen Reiches im Jahre 1915/16 hat der Publizist Rolf Hosfeld sein Buch „Operation Nemesis“ vorgelegt. Die Veröffentlichung kommt zu einem politisch brisanten Zeitpunkt, an dem die internationale Forderung nach Anerkennung des Völkermords als implizit unabdingbare Voraussetzung für einen EU-Beitritt der Türkei geltend gemacht wird. Geschichte ist ein Politikum, und dieses heikle Thema eignet sich gut für eine politische Instrumentalisierung. So bleibt es nicht aus, dass vor allem Gegner der türkischen Annäherung an die EU in dem Buch von Hosfeld wichtige Argumentationsstützen für ihr Anliegen gefunden zu haben glauben – ein Umstand, der von dem Verfasser kaum beabsichtigt sein dürfte und mit dem Zeithistoriker wohl leben müssen.

Mit dramaturgischem Geschick schildert Hosfeld das Attentat in Berlin im März 1921 auf Talaat Pascha, einen der Hauptschuldigen des Völkermords an den Armeniern. Zusammen mit einigen anderen osmanisch-türkischen Spitzenpolitikern, die eine zentrale Rolle bei den Armenierverfolgungen gespielt hatten, wurde Talaat Pascha, der 1915 Innenminister und ab 1917 Großwesir gewesen war, im Jahr 1919 von einem Istanbuler Kriegsgerichtshof in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Zuvor hatte er jedoch mit deutscher Unterstützung aus Istanbul fliehen können und lebte anschließend in Berlin im Exil. Der Attentäter Soghomon Tehlirjan gehörte der armenischen Organisation „Operation Nemesis“ an, die in den frühen 1920er Jahren mit Anschlägen auf mehrere für den Völkermord verantwortliche osmanische Politiker Auf-sehen erregte.

Der Autor gewährt interessante Einblicke in den recht zügigen Ablauf des Mordprozesses gegen Tehlirjan vor dem Berliner Landgericht im Juni 1921. Es lag im Interesse der deutschen Politik, den Prozess so schnell wie möglich – nämlich in zwei Tagen – abzuwickeln, um die Frage der Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs an der armenischen Katastrophe vor der deutschen wie vor der internationalen Öffentlichkeit nicht ausführlich behandelt sehen zu müssen. Dieser Schlussfolgerung Hosfelds ist hinzuzufügen, dass Johannes Lepsius, auf dessen Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes sich das Buch „Operation Nemesis“ größtenteils bezieht, vor solchem patriotischen Sentiment selbst nicht gefeit war. Auch Lepsius, evangelischer Theologe und Gründer des „Deutschen Hilfsbundes für christliches Liebeswerk im Orient“, hat sich, wie inzwischen bekannt, bei der Zusammenstellung seiner Quellenedition von patriotischen Erwägungen leiten lassen, um die deutsche Mitverantwortung zu verschleiern.

Berlins Mitschuld an dem Völkermord ist einer der Leitgedanken Hosfelds. In der Tat war Deutschland der wichtigste Verbündete des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg. Deutsche Offiziere, die seit langem als Instrukteure in der osmanischen Armee dienten, waren unmittelbar an Planung und Ausführung der Operationen beteiligt. Die deutsche Reichsregierung nahm die Armenierverfolgungen ausdrücklich in Kauf. Über die deutsche Involvierung liegen inzwischen hervorragende internationale Studien vor, die unter anderem feststellen, dass sich die deutsche Mitverantwortung mitnichten auf die passive Duldung der Verfolgungen beschränkte. Vielmehr hätten auf der Ebene der Ideologisierung und Rationalisierung des türkisch-armenischen Antagonismus deutsche Orientalisten bzw. „liberale Imperialisten“ wie Friedrich Naumann, Ernst Jäckh oder Alfons Sussnitzki tatkräftig mitgewirkt. Andererseits darf jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass das Deutsche Kaiserreich unmittelbar für den Völkermord an den Armeniern verantwortlich gewesen sei. Vielmehr gab es auch gewichtige offizielle und vor allem kirch-liche Stellen in Deutschland, die schon während des Krieges gegen die Deportationen der Armenier protestierten.

Verkürzte Schlussfolgerungen

Der Schwerpunkt der Darstellung Hosfelds ist jedoch ein anderer: Gestützt auf Zeitzeugenberichte, schildert er in eindringlichen und aufwühlenden Bildern die Leidensgeschichte der armenischen Gemeinden in Kleinasien während des Ersten Weltkriegs. Die ausführliche Beschreibung der Deportation der armenischen Bevölkerung aus den osmanischen Ostgebieten in Richtung Mesopotamien und der Massenmorde gehört somit zu den Stärken dieses Buches. Dem Autor gelingt es, eine erschreckende Bandbreite an Brutalitäten zusammenzustellen. Er kann aufzeigen, wie die Grausamkeit nicht allein vom jungtürkischen Staat ausging, sondern auch von Bevölkerungsgruppen und Einzelpersonen, die – ob mit oder ohne Anstachelung oder Befehl von oben – ihre Opfer misshandelten, erniedrigten, verjagten und töteten. Sie taten dies nicht zuletzt, um sich am Eigentum der Deportierten und Ermordeten zu bereichern.

Bei der Skizzierung der politischen Situation in der Nachkriegstürkei oder der personellen Kontinuität von den jungtürkischen Kadern zu den Eliten der kemalistischen Republik macht Hosfeld deutlich, dass es sich 1923 keineswegs um eine „Stunde Null“ handelte, wie Kemalisten bis heute gerne behaupten. Zweifellos ist dies nicht die erste Studie zu diesem Thema, und zu einigen Teilbereichen, die hier behandelt bzw. gestreift werden, liegen mittlerweile, insbesondere im angelsächsischen Raum, detailliertere und differenziertere Studien vor. Hosfeld ging es wohl in erster Linie darum, anhand einer Zusammenfassung der neueren Forschungsliteratur einen Überblick über die komplizierten Zusammenhänge zu geben. Dieses Anliegen ist sicherlich legitim, kann aber, wie in diesem Fall geschehen, auch zu verkürzten Schlussfolgerungen verleiten.

Dies ist beispielsweise der Fall bei Hosfelds Beschreibung der Genese des türkischen Radikalnationalismus. Hierbei weist er zu Recht auf die Rolle der russlandtürkischen Intellektuellen, die aus der Krim, dem Wolgagebiet oder aus Aserbaidschan stammten, als Gründerväter des türkischen Nationalismus hin. Der erst spät und vor allem als Reaktion auf die Nationalisierungsbestrebungen der christlichen Konfessionsgemeinschaften (Millets) sowie auf die Gebietsverluste des Reiches entstandene türkische Nationalismus habe sich denn auch besonders gewaltverherrlichend gebärdet. Dieser Feststellung ist durchaus zuzustimmen, würde Hosfeld sie nicht mit einem essentialistischen Ansatz verbinden. Denn nach der Lesart des Autors waren die Jungtürken, stellvertretend für den türkischen Nationalismus, von Beginn an eine Vereinigung von rassistischen Gewaltmenschen. Die Losung „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, mit welcher das „Komitee für Einheit und Fortschritt“ (so der offizielle Titel der jungtürkischen Vereinigung) in den 1890er Jahren im Pariser Exil die politische Bühne betrat, war Hosfeld zufolge lediglich eine Farce, um Europa zu beeindrucken und von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Dem vom Komitee propagierten staatsnationalen Konzept des Osmanismus, das die verfassungsmäßige Gleichheit aller Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich forderte, hätten sich ohnehin nur „die Armenier“ verschrieben, nicht aber die jungtürkischen Nationalisten. Die muslimisch-armenische Verbrüderung nach der jungtürkischen Machtübernahme 1908 sei denn auch seitens der türkischen Nationalisten nur ein Ablenkungsmanöver und für die gutgläubige armenische Bevölkerung nur eine Illusion gewesen. Mit solchen simplifizierenden Aussagen redet der Autor dem historischen Determinismus das Wort.

Ohne Zweifel, ein Völkermord bleibt ein Völkermord, ob er nun von „zivilisierten“ oder „barbarischen“ Gruppen durchgeführt worden ist. Doch allein die Feststellung des Völkermords reicht vom Standpunkt des Historikers nicht aus; ebenso wichtig ist es, überzeugend darzulegen, warum und wie es zum Völkermord gekommen ist. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass es sich der Autor zu einfach macht, wenn er das Scheitern des pluralistischen Osmanismus-Konzepts primär auf den Unwillen der türkisch-muslimischen Elite zurückführt, ihre über Jahrhunderte ausgeübte Dominanz im Vielvölkerreich aufzugeben. Ausgeblendet wird dabei, dass der Osmanismus gerade vom Standpunkt der christlichen Gemeinschaften kaum willkommen war, insofern er durch sein Gleichheitspostulat die historisch gewachsenen Privilegien der nichtmuslimischen Konfessionen in Frage stellte. Die letzteren wollten unter allen Umständen das seit Jahrhunderten bestehende Millet-System beibehalten.

Die Herausbildung eines ethnisch-türkischen Nationalbewusstseins

Das osmanische Debakel im Balkan-Krieg von 1912/13 schließlich, das zum Verlust fast aller europäischen Territorien des Reiches führte, markierte auch in der Geschichte der türkisch-armenischen Beziehungen einen Wendepunkt. Die christlichen Wehrpflichtigen, allen voran die griechischen Rekruten, hatten sich im Krieg gegen die Balkan-Staaten kaum für die osmanische Sache mobilisieren lassen. Von zeitgenössischen Beobachtern wurde die Niederlage auf dem Balkan denn auch dem Mangel an nationaler Motivation auf Seiten der Muslime ebenso wie dem „Verrat“ der nichtmuslimischen Soldaten in der osmanischen Armee zugeschrieben. Der Osmanismus wurde demnach spätestens auf balkanischen Kriegsschauplätzen diskreditiert. Die Folgen dieser für die Jungtürken traumatischen Erfahrung waren unheilvoll: Unter ihrer Führung begann sich der türkische Nationalismus zusehends zu radikalisieren und gegenüber den christlichen Minderheiten exkludierende Mechanismen anzuwenden. Die Christen wurden während und nach den Balkan-Kriegen von breiten Bevölkerungsschichten als „fünfte Kolonne“ der Nachbarstaaten angesehen. Nicht unerheblich in diesem Zusammenhang ist ferner der Umstand, dass der Kader des „Komitees für Einheit und Fortschritt“, einschließlich des späteren jungtürkischen Triumvirats (Talat, Enver und Kemal) im Ersten Weltkrieg, weitgehend balkanischer, kaukasischer oder ägäischer Herkunft war. Kurzum: Bei der Herausbildung eines ethnisch-türkischen Nationalbewusstseins kam den muslimischen (jedoch nicht unbedingt ethnisch-türkischen) Gruppierungen aus den verlorenen Territorien eine Vorreiterrolle zu, da sie sich bereits als „Opfer“ von Vertreibung und Anatolien als ihren letzten Zufluchtsort betrachteten und entschlossen waren, diese „Heimat“ durch eine nationale Mobilisierung der dortigen Muslime vor weiterer Zerstückelung zu bewahren.

Dagegen war die (türkisch-)muslimische Bevölkerung Kleinasiens für das türkische Nationsbildungsprojekt der 1920er Jahre erst noch zu gewinnen. So kam es schließlich, dass die progressistischen, teils sozialdarwinistischen Bildungseliten der Jungtürken, denen der muslimische Obskurantismus stets ein Gräuel war, sich zunehmend um eine islambezogene Rhetorik bemühten. Die moderne Idee eines gesäuberten, ethnisch homogenen Nationalstaats begann sich unter diesen Umständen durchzusetzen.

Ein qualitativer Umbruch setzte jedoch unter den besonderen Bedingungen des Ersten Weltkriegs ein. Erst in dieser neuen ideologischen wie politischen Konstellation fand der Völkermord statt, und nicht, wie Hosfeld suggeriert, als Ergebnis eines schon seit Jahrzehnten gehegten, vorsätzlichen Vernichtungswillens. Hans Mommsen und andere haben in Bezug auf den deutschen Nationalsozialismus versucht, eine kumulative Radikalisierung in der Judenpolitik des Dritten Reiches aufzuzeigen. Eine Interpretation, die den Prozesscharakter des Geschehenen auch im Falle der jungtürkischen Armenierpolitik in Betracht zieht, kann meines Erachtens den Völkermord von 1915 wesentlich überzeugender erklären.1

Mit der Forderung nach der historischen Kontextualisierung der Katastrophe der Jahre 1915/16 gerät man schnell in den Verdacht, das Geschehene relativieren zu wollen. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Alternative im Extremfall eine Abkoppelung der Vorgeschichte impliziert, mit der Folge, dass die Ereignisse zu einer mythischen „Stunde Null“ reduziert werden. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass der Verfasser zu essentialistischen Sinndeutungen neigt: „Die Türken“ bzw. „die Muslime“ erscheinen im ontologischen Sinne als Feinde „der Armenier“ bzw. „der Christen“. Man gewinnt den Eindruck, als wolle er suggerieren, der Völkermord an den Armeniern sei ohne Berücksichtigung der Natur der Türken unmöglich zu begreifen.

Geradezu abwegig klingt auch der Versuch des Autors, einen direkten Zusammenhang bzw. eine Parallelität zwischen der Schoah und dem Völkermord an den Armeniern auszumachen. Ohne Zweifel: Analogien verschärfen den Einblick in das Funktionieren des Totalitären. Konvergierende Aspekte zwischen den beiden Fällen des Genozids sind auch durchaus festzustellen. Doch bei Hosfeld entfaltet die Analogie eine seltsame Eigendynamik: Scheinbar einem gewissen Zugzwang ausgesetzt, bemüht er aus der NS-Ideologie entliehene Begrifflichkeiten wie „Weltanschauungskrieg“, „Herrenmenschen“, „Lebensraum“ oder „Heim-ins-Reich-Politik“, um unter möglichst vielen Aspekten Parallelitäten zwischen der jüdischen Erfahrung im Dritten Reich und der der Armenier im osmanischen Staat nachweisen zu müssen. Die ungeheuerlichen Dimensionen der armenischen Tragödie haben jedoch ihre eigene Sprache und brauchen deshalb nicht mit der Schoah gleichgesetzt zu werden.

Dem Appell des Autors an die deutsche Politik, als ehemaliger Verbündeter des Jungtürkenregimes seinen Beitrag zu der ausstehenden Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien zu leisten, möchte man sich dagegen nur anschließen. In der Türkei selbst haben sich die Fronten inzwischen verhärtet. Gewiss: Die offizielle Interpretation bestreitet nach wie vor die staatliche Verantwortung für den Massenmord im Ersten Weltkrieg. Im günstigsten Fall wird er als tragisches Ereignis infolge von Kriegshandlungen oder als eine notwendige Abwehrreaktion auf armenische „Provokationen“ dargestellt. Einige extrem nationalistische Gruppen vertauschen gar auf zynischste Weise die Opferrollen und stellen „Muslime“ bzw. „Türken“ als die eigentlichen Opfer hin. Offensichtlich bilden die Ereignisse von 1915/16 nach wie vor den Kern eines „negativen Gedächtnisses“ in der türkischen Öffentlichkeit.

Gleichzeitig mehren sich auch kritische Stimmen, die eine differenziertere Behandlung der türkisch-armenischen Beziehungen einfordern. Jedenfalls sind es weit mehr als die Publicity genießenden Namen wie Orhan Pamuk, Halil Berktay und Taner Akçam. Seit den neunziger Jahren haben wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit der staatlichen Version der Nationalgeschichte kritisch auseinander setzen, zahlenmäßig zugenommen. Im türkischen Buchhandel hat sich inzwischen auch die Sparte „Minderheitenliteratur“ fest etabliert: Die Leser, wiewohl noch gering an der Zahl, können jetzt sogar auf Übersetzungen von Veröffentlichungen armenischstämmiger Autoren, etwa eines Richard Hovannisian oder Vahakn N. Dadrian, zurückgreifen. Selbst in dem nationalistischen Massenblatt Hürriyet wurde jüngst ein Dossier veröffentlicht, in dem türkische und armenische Historiker die offizielle türkische Geschichtsthese, mehr noch die Deutungshoheit des Staates, in Frage stellten. Noch vor einigen Jahren wäre solch eine Debatte nicht möglich gewesen.

Jedenfalls wächst in den liberalen Teilen der Bevölkerung der Wunsch, sich mit der „Wahrheit“ auseinander zu setzen, was andererseits wiederum zu hysterischen Reaktionen der nationalistischen Kräfte führt. Doch die Durchsetzung einer alternativen Vergangenheitsdeutung kann nicht von heute auf morgen geschehen und vor allem nicht von „oben“ aufgezwungen werden. Auch im Lichte der Erfahrungen des Nachkriegsdeutschlands darf man annehmen, dass eine Überwindung von nationalistischen Mythen, Tabus und Propaganda erst im Zuge einer Auseinandersetzung möglich ist, die auch von „unten“ gefordert und geführt wird. Es wäre jedenfalls zu wünschen, dass der in der türkischen Öffentlichkeit weithin missverstandene Druck von außen die aufkeimende interne Diskussion in der Türkei nicht wieder in eine nationalistische Sackgasse hineindrängt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 90 - 95.

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