Mini-Nukes und andere Entwicklungen
Die amerikanische Debatte über neue Nuklearwaffen
Für die Vereinigten Staaten stellen Nuklearwaffen, chemische oder biologische Waffen im Besitz
echter oder vermeintlicher Feinde des Landes eine Bedrohung dar. Seit Amtsantritt der Regierung
von Präsident George W. Bush wird in Washington intensiv über neue Nuklearwaffen nachgedacht,
um dieser Bedrohung begegnen zu können. Michael A. Levi von der Brookings Institution
in Washington unterzieht „Amerikas nukleares Abenteuer“ einer kritischen Prüfung.
Als Amerika Irak im ersten Golf-Krieg besiegt hatte, dachte es, dass es seinen zukünftigen Gegnern eine Lektion verabreicht hätte: Kein Dritte-Welt-Staat kann die Vereinigten Staaten militärisch herausfordern. Doch diese Staaten gaben nicht klein bei und ergriffen auch nicht die Flucht; stattdessen sannen sie auf asymmetrische Gegenmaßnahmen. Staaten buddelten ihre militärischen Anlagen ein und entzogen sie so den wachsamen Kameras amerikanischer Spionagesatelliten und der präzisen Feuerkraft ihrer präzisionsgesteuerten Bomben. Sie entwickelten Nuklearwaffen – oder wenn diese zu provozierend waren, chemische und biologische Waffen, um die Amerikaner abzuschrecken.
In den neunziger Jahren suchte Amerika nach Wegen, darauf zu reagieren. Manche schlugen diplomatische Lösungen inklusive der Nichtverbreitung vor, anderen bevorzugten militärische Lösungen und rieten dazu, Waffen zu entwickeln, die die neuen Gegebenheiten der Feinde angreifen konnten. Im zweiten Lager drängte eine kleine Gruppe von politischen Intellektuellen und Rüstungswissenschaftlern auf eine besonders radikale Lösung: Neue Atombomben.
Als die Regierung unter Präsident George W. Bush 2001 ins Amt kam, trafen die Befürworter dieser nuklearen Herangehensweise auf offene Ohren. Der „Nuclear Posture Review“ der Regierung, der Ende 2001 fertig gestellt wurde, regte an, dass die Vereinigten Staaten über neue Nuklearwaffen nachdenken sollten, die tief eingegrabene Bunker einschließlich solcher mit Lagern für chemische und biologische Waffen zerstören könnten. 2002 beauftragte der Kongress das Energieministerium mit der Untersuchung, Nuklearbomben so zu modifizieren, dass sie vor ihrer Explosion tief in die Erde eindringen würden. Im Jahr 2003 schließlich widerrief der Kongress eine Jahrzehnte alte Einschränkung der Nuklearwaffenforschung und erlaubte Rüstungswissenschaftlern, an kleineren Bomben zu arbeiten, die eine größere taktische Nützlichkeit haben könnten.
Diese Entwicklungen riefen auch Widerstand hervor. Technologische Skeptiker bezweifelten, dass die Waffen die versprochenen Leistungen überhaupt erbringen könnten. Andere kritisierten, dass die Vereinigten Staaten mit der Entwicklung neuer Nuklearbomben die internationalen Bestrebungen der Nichtweiterverbreitung untergraben würden – ja sogar Staaten dazu provozieren könnten, ihre nuklearen Arsenale auf- oder auszubauen. Obwohl diese Kritiken häufig überzogen waren, haben sie im Prinzip Recht. Die meisten neuen Atomwaffen brächten wenig militärische Vorteile, riskierten aber gefährliche politische Konsequenzen, und die Vereinigten Staaten wären besser beraten, diese Ideen fallen zu lassen.
Zwei Technologien
Um die amerikanischen Pläne zu beurteilen, muss man die untersuchten Technologien differenzieren: Diese fallen in zwei Kategorien. Die erste Waffengattung würde auf herkömmliche Art eingesetzt, aber – so hoffen ihre Befürworter – die Kollateralschäden verringern. Die Hauptforschungsrichtung in dieser Kategorie ist der „Robust Nuclear Earth Penetrator“, der eine existierende Bombe nimmt und sie so modifiziert, dass sie vor ihrer Explosion mehrere Meter tief in die Erde eindringt. Im Gegensatz zu den populären Mythen ist dies kein Versuch, den radioaktiven Fallout einer Nuklearwaffe zu vermeiden, indem man diesen Fallout unterirdisch eindämmt: Das ist unmöglich, wie Wissenschaftler inner- und außerhalb der amerikanischen Nuklearwaffen-Laboratorien wissen. Stattdessen sollen solche Waffen den Fallout, der bei einem derartigen Angriff entstünde, um etwa den Faktor 20 reduzieren. Das wäre technisch machbar.
Die andere Klasse von Vorschlägen bezieht sich auf Waffen mit exotischen Effekten; sie beruht auf sehr viel schwankenderen technischen Grundlagen. Der wichtigste dieser Vorschläge sieht Kampfstoff-vernichtende Waffen vor, die entwickelt würden, um chemische oder biologische Kampfstoffe zu verbrennen, die in feindlichen Bunkern gelagert würden. Die Begründung für solche Waffen ist, dass chemische und biologische Kampfstoffe, wenn man sie mit konventionellen Waffen angriffe, sich schlicht ausbreiten und Zivilisten in einer riesigen Region töten würden. Befürworter der neuen Waffen behaupten, dass die Hitze und die Strahlung der nuklearen Explosion die chemischen und biologischen Stoffe neutralisieren und sie so unschädlich machen würde; der verbleibende nukleare Fallout, so argumentieren sie, würde weniger Menschen töten als die sich ausbreitenden B- und C-Waffen.
Die Wissenschaftler streiten noch darüber, ob Nuklearwaffen tatsächlich alle chemischen und biologischen Kampfstoffe neutralisieren könnten. Die meisten sind sich einig, dass, wenn der Angreifer genügend Informationen hat, um die Bombe akkurat im feindlichen Bunker detonieren zu lassen, die anvisierten chemischen und biologischen Kampfstoffe wahrscheinlich zerstört wären. Das kompliziertere Problem entsteht, wenn die Bombe außerhalb des Zielbunkers detoniert, was wahrscheinlich der Fall wäre, solange unsere Geheimdienst-Fähigkeiten sich nicht enorm verbessern. In diesem Fall wird die Bombe geringe Effizienz besitzen, um das Ziel zu neutralisieren, und sie könnte die B- und C-Waffen gerade verbreiten. Wenn das passiert, könnten Unschuldige sowohl den B- und C-Kampfstoffen als auch dem nuklearen Fallout ausgesetzt sein.
Aber selbst wenn diese Waffen hielten, was man sich von ihnen verspricht – die Reduzierung der radioaktiven Verseuchung und die Vermeidung der Ausbreitung von lebendem B- und C-Waffenmaterial –, wären sie in ihren Fähigkeiten immer noch sehr begrenzt. Atombomben sind keine Wunderwaffe für die Zerstörung sehr tief liegender Ziele. Selbst wenn sie eine Zwei-Megatonnen starke, ins Erdreich eindringende Atombombe einsetzten – also eine über 100 Mal so große Bombe wie in Hiroshima –, könnten amerikanische Truppen dennoch einen gut gebauten Bunker unter 200 Metern Granit nicht zerstören. Und selbst wenn die USA sich entschlössen, Bunker direkt anzugreifen, ist nicht klar, ob Nuklearwaffen besser geeignet sind zur Neutralisierung chemischer oder biologischer Materialien darin als Nicht-Nuklearwaffen. Die schlichte Beobachtung der Befürworter der Nuklearwaffen, dass konventionelle Sprengstoffe die Kampfstoffe nur ausbreiten helfen, ist korrekt, aber irrelevant, denn die Vereinigten Staaten haben seit langer Zeit neue nichtnukleare Methoden entwickelt, um chemische und biologische Kampfstoffe zu neutralisieren. Wenn diese Waffen funktionieren, machen sie jedes militärische Argument für nukleare Anti-Kampfstoff-Waffen überflüssig.
Selbst wenn die Waffen militärisch effizient sein sollten, sind sie nicht zwingend vernünftige Entwicklungen im Sinne strategischer und diplomatischer Überlegungen. An der strategischen Front dreht sich die Hauptdebatte darum, ob „einsetzbarere“ Nuklearwaffen überhaupt erwünscht sind. Befürworter und Gegner des Trends zu neuen Waffen sind sich einig, dass die Anstrengung darauf abzielt, Nuklearwaffen zu einer glaubwürdigeren Bedrohung zu machen, als sie es im Moment sind. Sie sind sich jedoch uneinig darüber, ob eine solche Entwicklung gut oder schlecht wäre.
Pro und Kontra
Befürworter der neuen Bomben argumentieren, dass die Drohung nuklearer Vergeltung glaubhaft sein muss, damit die Abschreckung wirkt. Wenn ein feindlicher Kriegsherr glaubt, dass die Vereinigten Staaten mit dem Einsatz von Nuklearwaffen zögern, weil sie massive Kollateralschäden fürchten, dann wird die Reduzierung von Kollateralschäden durch Nuklearwaffen – etwa beim Einsatz erdeindringender Bomben – den Feind von Spielchen abhalten. Indem also Feinde effektiver abgeschreckt werden, so das Argument der Befürworter, würden die neuen Waffen den amerikanischen Einsatz von Nuklearwaffen unwahrscheinlicher machen.
Gegner meinen, dass die Entwicklung von Bomben mit reduzierten Kollateralschäden nicht nur die Vorstellungen der feindlichen Kriegsherren, sondern auch die der amerikanischen Führung ändern würden: Diese wäre geneigter, Nuklearwaffen einzusetzen. Das könnte andere dazu animieren, dies ebenfalls zu tun, und so den amerikanischen Vorteil bei der konventionellen militärischen Stärke verringern.
Die strategische Bedeutung
Die tatsächliche strategische Bedeutung liegt irgendwo dazwischen, und sie hängt davon ab, welche neuen Waffen entwickelt werden. Massive Nuklearwaffen derart zu modifizieren, dass sie nur noch begrenzte Kollateralschäden produzieren, würde einen amerikanischen Präsidenten wohl kaum dazu veranlassen, sie auch einzusetzen, denn sie würden immer noch Zehn-, ja Hunderttausende töten. Aber kleine neue Nuklearwaffen mit maßgeschneiderten Auswirkungen – zum Beispiel kampfstoffzerstörende Waffen – hätten ganz andere Konsequenzen, denn diese Waffen wären zur Abschreckung gar nicht einsetzbar. Sie würden viel mehr Sinn machen als Bestandteil einer taktischen Gefechtsfeldstrategie – und deshalb haben die Beobachter Recht, die sich Sorgen machen, dass ihre Entwicklung den Nuklearwaffeneinsatz wahrscheinlicher machen würde.
Während die interne Debatte in den USA sich auf die strategischen und technologischen Dimensionen der neuen Nuklearwaffen konzentriert hat, richtet die internationale Diskussion ihr Augenmerk stärker auf die Auswirkungen auf Rüstungskontrolle und Nicht-Weiterverbreitung. Vor allem haben Kritiker moniert, dass das amerikanische Programm den Nichtverbreitungsvertrag (NVV) verletzt, und das zu einer Zeit, in der die anderen Nuklearmächte versprochen haben, intensive Anstrengungen in Richtung nukleare Abrüstung zu machen. Einige haben deshalb argumentiert, dass die amerikanischen Schritte den NVV zum Scheitern verurteilen.
Diejenigen, die die neuen Waffen unterstützen, halten bezeichnenderweise dagegen, dass der NVV bereits gescheitert sei. Sie verweisen auf Indien, Pakistan, Nordkorea und Iran, die sich alle in den vergangenen Jahren Nuklearwaffen zugelegt haben. Diese Einschätzung scheint jedoch zu pessimistisch. Natürlich würde ein Nonproliferationsregime idealerweise alle Weiterverbreitungskrisen verhindern, aber das hieße, zu viel zu erwarten. Stattdessen sollte sein Ziel sein, die Zahl der Krisen zu reduzieren, so dass die dennoch ausbrechenden Krisen von der internationalen Gemeinschaft gehandhabt werden können. In dieser Hinsicht war der Nichtverbreitungsvertrag zweifellos ein Erfolg, und er verdient es beibehalten zu werden, auch wenn das einiges kosten sollte.
Befürworter der neuen Waffen haben eher Recht, wenn sie argumentieren, dass das amerikanische Nukleararsenal nicht der Grund ist, warum andere Staaten sich Atomwaffen zulegen, sondern dass Staaten diese Entscheidungen aufgrund ihrer regionalen Sicherheitsinteressen treffen – wobei das amerikanische Nukleararsenal bestenfalls eine marginale Rolle spielt. Tatsächlich war der wichtigste Teil des NVV-Vertrags nicht das Versprechen der Abrüstung, sondern eher die Aussicht, dass, wenn Staaten darauf verzichteten, Nuklearwaffen zu erwerben, ihre Nachbarn das ebenfalls tun würden. Das sollte immer noch der maßgebliche Grund sein für Staaten, auf Nuklearwaffen zu verzichten, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass dem nicht so ist. Dennoch sollte man den Demonstrationseffekt amerikanischen Verhaltens nicht unterschätzen. Besonders der Schritt von der Betrachtung nuklearer Waffen als Abschreckungswaffen letzter Zuflucht zu beliebig eingesetzten Gefechtswaffen könnte amerikanische und internationale Sicherheitsinteressen schwer beschädigen.
Selbst ohne den tatsächlichen Einsatz solcher neuer Waffen könnten die Vereinigten Staaten eine wichtige politische rote Linie überschreiten, wenn sie die Neuentwicklungen mit Atomwaffentests überprüfen würden – was sie tun müssten, wenn sie neue Waffen mit exotischen Effekten wie die kampfstoffzerstörenden Bomben entwickeln würden. Solche Tests würden den seit fünf Jahren bestehenden internationalen Teststopp ebenso brechen wie das unilaterale amerikanische Moratorium, das seit mehr als einem, Jahrzehnt gilt. Sie würden auch alle verbleibenden Aussichten des Umfassenden Abkommens über das Verbot zur Erprobung von Kernwaffen (CTB) zerstören, das alle Nukleartests untersagen soll.
Letztlich ist das Problem von Amerikas nuklearem Abenteuer, dass es seine Fähigkeit unterminiert, den Kampf gegen die Proliferation anzuführen. Der ist eine amerikanische Top-Priorität, bei der die USA jedoch auf die Hilfe ihrer Freunde und Alliierten angewiesen sind, um Erfolg zu haben. Je mehr diese Staaten das Gefühl haben, dass das amerikanische Streben nach nuklearer Dominanz seine Führungsrolle auf dem Feld der Nichtweiterverbreitung delegitimiert, desto stärker werden sie die amerikanische Führung ablehnen. In Anbetracht des begrenzten militärischen Nutzens der neuen Waffen sollte das Grund genug sein, ihre Entwicklung nicht zu riskieren.
Gegner der neuen Bomben sollten sich jedoch auf die amerikanische Nachgiebigkeit nicht allzu sehr verlassen. Selbst wenn die USA morgen die Entwicklung neuer Nuklearwaffen aufgäben, würden Nordkorea und Iran nicht mitziehen. Südkorea und Japan würden Nordkorea immer noch misstrauisch beäugen; Syrien, Saudi-Arabien und Ägypten würden Iran weiterhin genau beobachten. Der amerikanische Verzicht auf die Entwicklung neuer Nuklearwaffen mag ein Teil der Nichtweiterverbreitungs-Lösung sein – allerdings nur ein kleiner.
Internationale Politik 1, Januar 2004, S. 26‑30
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