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01. Sep 2021

Migrationspolitik nach Merkel

Drei Themen könnten bei den Koalitionsverhandlungen strittig werden: die Aufnahme von Flüchtlingen, der Umgang mit Ausreisepflichtigen und die EU-Agentur Frontex.

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Bild: Syrischer Flüchtling bei seiner Abschiebung
Die aktuellen Oppositionsparteien Grüne und FDP wollen die europäische Grenzschutzagentur Frontex ­stärker kontrollieren; Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen sollen Konsequenzen haben.
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Wahlprogramme sind nicht nur durch ihre Inhalte aussage­kräftig, sondern auch durch ihre Lücken. Denn wenn bestimmte Themen nicht erwähnt werden, hat das in der Regel zwei Gründe: Entweder sieht die Partei sie als zu unwichtig an, um sie ins Programm aufzunehmen, oder als zu kontrovers, sodass die Partei sie sprachlich umschifft oder ganz meidet – auch, um dann mehr Spielraum in den Koalitionsverhandlungen zu haben.



Deshalb ist es jetzt an der Zeit, die Wahlprogramme der wichtigsten Parteien unter die Lupe zu nehmen, um zu verstehen, wie sie zu drei drängenden Migrationsfragen stehen, die die neue Regierung angehen muss.



Aufnahme über Resettlement

Flüchtlingsaufnahme in Deutschland geschieht auf zwei Hauptwegen: über die wohlbekannte Asylantragstellung sowie über das weniger bekannte Resettlement, also die geplante Aufnahme von anerkannten Flüchtlingen aus einem Erstaufnahmeland in einen willigen Drittstaat.



Im Gegensatz zu Asyl ist Resettlement ein geordneter und sicherer Weg, um Flüchtlingen Schutz zu geben. Der Aufnahmeprozess hat mehrere Schritte: Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR trifft eine Vorauswahl unter anerkannten Flüchtlingen, die sie als besonders schutzbedürftig einschätzt, und einigt sich mit willigen Staaten, wie viele Menschen diese bereit sind aufzunehmen. Deutschland (genauso wie die anderen Aufnahmeländer) überprüft diese dann noch einmal mit weiteren Kriterien wie etwa Sicherheit und Integrationspotenzial. Danach beantragen die Menschen ihr Einreisevisum, absolvieren einen Orientierungskurs und werden noch einmal medizinisch untersucht, bevor sie schließlich geordnet und sicher ins Land reisen: per Flugzeug statt Gummiboot.



Doch obwohl Resettlement legal, sicher und geordnet ist – also genau das, was Deutschland, die EU und auch der Globale Migrationspakt unisono als Ziel deklarieren –, bleibt die Aufnahmebereitschaft insgesamt gering: Von den 1,4 Millionen Flüchtlingen, die UNHCR als geeignet für Resettlement einschätzt, konnten 2020 weniger als 3 Prozent in Aufnahmeländer reisen. In den vergangenen zehn Jahren konnten im Schnitt jedes Jahr zwischen 60 000 und 80 000 Flüchtlinge auf diesem Weg ein neues Leben beginnen – die meisten davon in den USA und Kanada, den beiden führenden Resettlement-Aufnahmeländern. Auch Deutschland führt seit 2012 Resettlement durch, zunächst nur für ein paar 100 und mittlerweile für etwas über 5000 Flüchtlinge im Jahr. Die von der Bundesregierung einberufene Fachkommission Fluchtursachen forderte kürzlich eine Ausweitung dieser Zahl auf 40 000 Flüchtlinge, die Deutschland im Rahmen einer Resettlement-Allianz jedes Jahr aufnehmen sollte.



Die Parteipositionen zum Thema Resettlement klaffen weit auseinander. Das Wahlprogramm der Grünen enthält ein klares Bekenntnis dazu. Sie fordern, dass Deutschland einen fairen Anteil am von UNHCR festgestellten Bedarf aufnimmt. Zusätzlich zur Aufnahme durch den Bund sollen auch Länder, Landkreise, Städte und Gemeinden Geflüchtete aufnehmen dürfen – auch ohne Zustimmung des Innenministers (der solche Initiativen in den vergangenen Jahren blockiert hat).



In den Wahlprogrammen von Union, FDP und SPD hingegen sucht man vergeblich nach Resettlement. Stattdessen hält das Unionsprogramm als Ziel explizit fest, dass „die Zahl der nach Deutschland und Europa flüchtenden Menschen nicht nur dauerhaft niedrig bleibt, sondern sich weiter reduziert“.  

Das Programm der SPD enthält zwar den generellen Hinweis, dass legale Wege geschaffen werden sollten; aber ob dies Arbeitsmigration, Bildungsmigration oder eben Flüchtlingsschutz bedeuten soll, lässt sie offen. Die Linke wünscht sich umfassende Aufnahme­kontingente über Resettlement, fordert aber ohnehin eine „Aufhebung des Visumszwangs für Schutzsuchende“, sodass die legale Einreise nach Europa für alle, die sich selbst als Flüchtlinge identifizieren, kein Hindernis mehr wäre.



Dass die AfD es grundsätzlich ablehnt, überrascht nicht. Doch selbst die Parteien, die Resettlement befürworten (also Grüne und Linke), haben bisher keine konkrete Zahl von Flüchtlingen genannt, die Deutschland auf diesem Weg aufnehmen soll. Das gibt den Verhandlern in den Koalitionssondierungen Spielraum – ob sie diesen für Kompromisse oder Konflikte nutzen, bleibt abzuwarten.



Wie soll Frontex reformiert werden?

Ein zweiter Zankapfel, den die Koalitionäre anschneiden müssen, ist die überfällige Frontex-Reform. Das Spektrum der Vorwürfe gegenüber der EU-Grenzschutzagentur reicht von Pushbacks auf hoher See (also illegalen Zurückweisungen von Schutzsuchenden) über Intransparenz und mangelnde Kontrolle bis hin zu ­Korruption.



Dies ist besonders problematisch, weil die Macht von Frontex durch eine Verordnung von 2019 stark gestiegen ist. Die ständige Reserve an Grenzpersonal soll auf 10 000 wachsen, das Budget auf über 1,3 Milliarden Euro pro Jahr. Doch die Kon­trollmechanismen entwickeln sich nicht ausreichend schnell mit.



Die Grünen fordern eine strukturelle Reform und enge parlamentarische Kontrolle von Frontex. Sie bekennen sich zur Notwendigkeit von Außengrenzkontrollen, aber stellen sich gegen Pushbacks, sei es durch Frontex oder nationale Grenz­polizeien. Im Fall von Verstößen fordern die Grünen klare rechtliche und politische Konsequenzen. Sie wollen sich dafür einsetzen, „dass Intransparenz und Menschenrechtsverletzungen bei EU-Agenturen wie Frontex keinen Raum mehr haben“.



Ähnliche Töne kommen von der FDP. Auch sie will eine strukturelle Reform und erweiterte Kontroll- und Transparenzmechanismen von Frontex. Auch sie prangert Pushbacks an und will sich „für die Aufklärung solcher Vorkommnisse und für schärfere Mechanismen zur Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen“ einsetzen. Gleichzeitig betont die FDP, dass der Ausbau von Frontex nicht nur richtig sei, sondern noch schneller vonstatten gehen sollte, und dass Frontex auch mehr als bisher die Seenotrettung übernehmen solle, die die Partei als staatliche Aufgabe sieht. Die Grünen sprechen hier stattdessen von einer „zivilen und flächendeckenden, europäisch koordinierten und finanzierten Seenotrettung“, sehen die Aufgabe also sowohl bei staatlichen als auch bei zivilen Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen.



Die SPD legt ebenfalls ein klares Bekenntnis gegen Pushbacks ab und nennt sie „eine eklatante Verletzung des Völkerrechts“; sie geht aber nicht ins Detail, wie diese illegalen Zurückweisungen bekämpft werden sollten. Die Grenzschutzagentur selbst erwähnt das Programm nicht. Die SPD fordert nur, dass „Seenot­rettung staatlich durch die EU gewährleistet werden“ solle – was Frontex meinen kann, aber auch andere Interpretationen zulässt.



Klare Einigkeit besteht zwischen Grünen, SPD und FDP zudem darin, dass Seenot­rettung durch private, also auch zivilgesellschaftliche, Akteure nicht behindert oder kriminalisiert werden sollte.



Vergleichsweise still um Frontex ist es hingegen bei der Union. Sie befürwortet den Ausbau der Befugnisse und den deutlichen Personalaufwuchs von Frontex, verliert aber kein Wort zur Gretchenfrage, welche Reformen sie für die Agentur anstrebt. Magere drei Zeilen (von insgesamt 5000) ist Frontex dem gemeinsamen Programm von CDU und CSU wert.



Sowohl im Szenario von schwarz-grünen Sondierungsgesprächen als auch in der Jamaika-Konstellation mit der FDP müsste die Union sich also klarer positionieren, als sie dies bisher getan hat. Vermutlich müsste sie ein Stück weit auf die gemeinsame Forderung von Grünen und FDP nach mehr Kontrolle und Transparenz von Frontex zugehen.



Wie soll Deutschland mit Ausreisepflichtigen umgehen?

Eine dritte Streitfrage werden die Ausreisepflichtigen sein, also die Menschen, die ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland leben. Seit 2014 hat sich ihre Zahl fast verdoppelt: Heute leben hier rund 300 000 Ausreisepflichtige, die große Mehrheit davon (etwa eine Viertelmillion) mit einer Duldung, eine Minderheit (um die 50 000) ohne Duldung.



Grundsätzlich haben Länder zwei Möglichkeiten, die Zahl von Menschen ohne legales Aufenthaltsrecht zu reduzieren: Entweder versuchen sie, die Ausreise dieser Menschen herbeizuführen, indem sie beispielsweise Anreizpakete zur freiwilligen Rückkehr anbieten oder indem sie sie abschieben. Oder sie bieten Möglichkeiten der Regularisierung an, also der Überführung in einen legalen Status, oft gekoppelt an Bedingungen wie eine gute Integrationsbilanz, keine Vorstrafen oder eine Mindestaufenthaltsdauer im Land ­sowie einen Stichtag.



Alle Parteien äußern sich in ihren Wahlprogrammen zu diesen beiden Möglichkeiten, doch sie räumen jeweils nur einer der beiden viel Raum ein, ­während sie die andere kritisieren oder kaum anschneiden. Die Union macht eine Reihe von Vorschlägen zu Ausreisepflichtigen, denen zufolge es vor allem Verschärfungen und Verbesserungen geben soll; doch oft ist unklar, wie diese erreicht werden sollen. So fordern CDU/CSU mehr Inhaftnahmen und konsequenteres Abschieben. Diese Forderung ist nicht neu. Die Merkel-Regierung hat genau dazu Gesetze erlassen, insbesondere das Geordnete-Rückkehr-­Gesetz 2019; doch dessen Effekt ist mäßig. Wenig sagt die Union hingegen zu Wegen aus der Duldung. Grundsätzlich soll es zwar die Möglichkeit von Legalisierungen geben, doch die Union will sie an mehr Integrationsbedingungen knüpfen, die die Geduldeten erfüllen sollen, bevor sie eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Welche Bedingungen dies sein sollen, lässt sie jedoch offen.



Das FDP-Programm schlägt in eine ähnliche Kerbe. Zum einen sollen Kriegsflüchtlinge grundsätzlich nach Ende des Krieges zurückkehren (eine häufige Forderung, die erfahrungsgemäß selten Realität wird), zum anderen plädiert sie dafür, dass nur noch der Bund für Ausreise und Rückkehr zuständig sein soll und nicht wie bisher Bund und Länder. Diese Änderung der Verantwortlichkeiten würde voraussichtlich zu einem deutschlandweit einheitlicheren Vorgehen führen, da die verschiedenen Bundesländer der Durchsetzung der Ausreisepflicht derzeit unterschiedliche Wichtigkeit zumessen.



Ähnlich der Union fordert auch die FDP eine „konsequente Durchsetzung der Ausreisepflicht durch Abschiebung und die Schaffung von ausreichend Abschiebehaftplätzen“. Die Forschung zeigt zwar, dass mehr Abschiebehaftplätze nicht unbedingt zu mehr Abschiebungen führen, da die deutschen Statistiken zu Abschiebehindernissen aus wenig aussagekräftigen Gummikategorien bestehen. Doch diese Tatsache hat der klassisch konservativen Forderung nach einer Ausweitung von Haftplätzen bisher wenig anhaben können.



Zwei Seiten der Medaille

Das Gegenprogramm findet sich bei den Grünen: Sie räumen ihrer Strategie zum Umgang mit Ausreisepflichtigen viel Raum ein (obwohl das Wort selbst nirgends vorkommt), und stellen klar, dass sie primär auf Integration und Wege aus der Duldung setzen und weniger auf Rückkehr. Ihr ambitioniertes Ziel ist es, die Duldungen auf null zu reduzieren, indem sie Geduldeten nach fünf Jahren ein sicheres Aufenthaltsrecht geben – Kindern, Jugendlichen und ihren Familienmitgliedern bereits nach drei Jahren. Bisher gibt es diese Möglichkeit frühestens nach acht Jahren. Darüber hinaus wollen sie die Anfang 2020 eingeführten Beschäftigungs- und Ausbildungsduldungen in Aufenthaltstitel überführen, um gut integrierten Geduldeten in Ausbildung oder Arbeit eine langfristige Perspektive zu geben.



Abschiebungen sehen die Grünen erwartungsgemäß kritisch. Sie führen an, wie diese eingeschränkt werden sollen. So sollen etwa alle Abschiebungen in Kriegs- und Krisenländer wie Afghanistan und Syrien sowie in Staaten mit Covid-19-Warnung kategorisch ausgenommen ­werden. Haft von Ausreisepflichtigen soll ein letztes Mittel sein, aber gemäß des gesetzlich verankerten „Trennungsgebots“ nie in Justizvollzugsanstalten und immer mit Rechtsbeistand. Zwar bekennen sich die Grünen grundsätzlich zur Notwendigkeit von Abschiebungen, doch sie sprechen nicht an, wie diese transparenter und humaner gestaltet werden können – obwohl dies relevant wäre, da deutsche Beamte sich oft Vorwürfen von unverhältnismäßiger Gewaltanwendung ausgesetzt sehen. Diese Anschuldigungen sind weithin bekannt, jedoch schwer zu be- oder widerlegen, da Abschiebungen in Deutschland nicht umfassend von neutralen Stellen begleitet und überprüft werden.



Dieser Vergleich zeigt, dass viele Parteien zwar hinter einer Seite der Strategie zum Umgang mit Ausreisepflichtigen stehen, aber die andere Seite lieber nicht anfassen wollen: Die Grünen haben Ideen zu Regularisierungen, aber stehen zwangsweiser Rückkehr höchst skeptisch gegenüber. Die Union und FDP hingegen haben Ideen zu Abschiebungen, aber bleiben zu Regularisierungen stumm. Jamaika-Sondierungen würden diese unterschiedlichen Positionen kombinieren und angleichen müssen.



Interessant ist die Nicht-Positionierung der SPD. Sie erwähnt die Ausreisepflicht nicht explizit, doch ein kurzer Absatz, bestehend aus drei Zeilen, reißt sowohl Wege aus der Duldung als auch Rückkehr an: Abschiebungen in Länder, in denen ­Gefahr für Leib und Leben droht, lehnt die SPD ab. Doch sie trifft weder eine Unterscheidung beispielsweise zwischen Syrien, Afghanistan oder anderen Ländern, noch bezieht sie Stellung, wie oder ob Abschiebungen reformiert werden sollten. Ebenso dünn ist die Information zu Wegen aus der Duldung. Die Partei bemängelt Kettenduldungen als Integrationshemmnis und fordert, sie durch eine Stichtagregelung zu beenden. Doch unklar bleibt, wann der Stichtag sein soll, für wen die Regelung gelten soll und wie mit dem Problem ungeklärter Identitäten umgegangen werden soll, die bekanntlich 40 Prozent aller Duldungen ausmachen.



Die Haltung der SPD im Hinblick auf Regularisierungen und Rückkehr ist noch so vage, dass sie sowohl an die Präferenzen von CDU und FDP als auch an die von Grünen und Linken angeglichen werden könnte: größtmögliche Flexibilität für ­Verhandlungen.



Mit Kompromissen in die Zukunft

Wie Deutschlands Migrationspolitik nach dem Ende der Ära Merkel aussehen wird, werden Wahlsieger und willige Koalitio­näre in den nächsten Monaten klarer umreißen. Der Zank in den Koalitionsverhandlungen ist genauso Teil demokratischer Entscheidungsfindung wie die Kompromisse, die am Schluss den Koalitionsvertrag und die Politik des neuen Kabinetts prägen sollten. Das Negativ­szenario für die drei Migrationsthemen wären deshalb nicht Kompromisse, sondern ihre Nichterwähnung im Koalitionsvertrag. Das wäre ein Fehler. Denn alle drei Bereiche – Resettlement auf internationaler, ­Frontex-Reform auf europäischer und Ausreisepflicht auf deutscher Ebene – sind überfällig und erfordern das Engagement der neuen Bundesregierung.     

Victoria Rietig leitet das Migrationsprogramm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und ist Mitglied der Fachkommis­sion Fluchtursachen der Bundesregierung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 84-89

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